Eduard Mörike hätte Homunculus retten können! – Von der morgendlichen Schwierigkeit mancher Menschen, den neuen Tag anzugehen.

Homunculus zerschellt am Ende des zweiten Aktes von „Faust II“ am Muschelwagen der Aphrodite, auf dieser Fahrt von Galatee, der Tochter des Meeresgottes Nereus gesteuert, die unterwegs zum großen ägäischen Meeresfest ist. Es blitzt und flammt und jene Gestalt, die von Wagner, den wir noch als Famulus von Faust aus „Faust I“ kennen und der inzwischen zu akademischen Ehren gelangt ist, im Laboratorium geschaffen worden war, ist nicht mehr. 

Thales, wie Anaxagoras, Faust und Mephisto in Griechenland zur großen Meeresfete unterwegs, lässt uns teilhaben an jenem Augenblick, der das Scheitern der Menschwerdung des Homunculus wiedergibt: 

Wer oder was ist Homunculus? 

„Homo“ kommt aus dem Lateinischen und heißt „Mensch“. Homunculus“ bedeutet „Menschlein“. Mit diesem Wort bezeichnete man im späten Mittelalter einen Menschen, der künstlich – oder sagen wir magisch und/oder mit alchemistischen Verfahren – erzeugt wird; damals glaubte man, dass das geht und Paracelsus, der berühmte und sicherlich hoch hellsichtige Arzt, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lebte, hat sogar eine Anleitung dazu geschrieben. Solch ein Homunculus war natürlich nur ein astrales Wesen, also ein Seelenwesen; als solches konnte es allerdings durchaus existieren. Das erscheint manchem unwahrscheinlich, doch vergessen wir nicht, dass wir schon mit jedem Wutanfall sogenannte Elementale erzeugen, auch eine Art seelischer Wesen (die niemandem guttun). Der Homunculus im „Faust II“ ist von Wagner, dem Famulus Fausts, bekannt aus dem ersten Teil des „Faust“, wie erwähnt, im Laboratorium erschaffen worden; die „Klassische Walpurgisnacht“, jene Szene im zweiten Akt des „Faust II“, die allein fast so umfangreich ist wie ein Theaterstück, vermittelt immer wieder den so intensiven Wunsch des Homunculus, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu werden. 

Leben im Jenseits

Wir haben bekanntlich einen Astralleib, mit dem wir nachts in der geistigen Welt unterwegs sind zusammen mit unserem Ich, während unsere physischer Leib und unser Ätherleib im Bett liegen. In der geistigen Welt sind wir ja – natürlich abhängig auch vom Entwicklungsstand der Seele – in Kontakt mit hohen geistigen Wesen, mit unseren Ahnen oder uns bekannten Verstorbenen; natürlich lernen wir auch neue Menschen kennen, mit denen wir uns vielleicht für das nächste Leben verabreden; wir gehen in Schulen und gehen Tätigkeiten nach, singen in einem Chor, spielen in einem Orchester, malen oder gehen anderweitigen Tätigkeiten nach. Eines meiner ersten esoterischen Bücher, das ich gelesen habe, war „Das Leben in der unsichtbaren Welt“; es ist aus dem Jenseits diktiert von einem englischen Schriftsteller und Priester, der als Verstorbener einem englischen Medium namens Anthony Borgia seine Erfahrungen aus der geistigen Welt mitteilte und es ist bis heute eines der faszinierendsten Bücher für mich gewesen, weil es – jedenfalls war das mein Eindruck damals – ein für mich glaubwürdiges Bild des Lebens im Jenseits vermittelt. Es gibt dort Lernhallen, in denen wir uns aufhalten, Häuser der Erholung für vom irdischen Leben geplagte Seelen, eine Sphäre, in der wir künftige Arbeiten auf der Erde vorbereiten, es gibt Tätigkeiten die wir als Freizeitgestaltungen bezeichnen könnten, eine Sphäre für Kinder, aber auch eine sehr bedrückende dunkle Sphäre, in der Seelen existieren.  

Wenn man das Buch liest, kann man sich vorstellen, durchaus Schwierigkeiten zu haben, wieder auf die Erde zu wollen. Allein das Kapitel über Musik ist höchst faszinierend und es heißt, dass im Jenseits die geistigen Klangvorstellungen dort beginnen, wo die irdischen aufhören. Es gibt Orchester und Musikinstrumente, die mit unseren nur bedingt vergleichbar sind, weil sie einen Klangzauber entfalten, den wir uns kaum vorstellen können. 

In diesen Sphären bewegen wir uns auch in der Nacht und ein Rudolf Steiner nimmt darauf Bezug, wenn er schreibt, dass wir uns dort nirgends begrenzt fühlen, wie ausgegossen über alles Weltenlicht, allen Weltenton, über alles Weltenleben. 

Der Abgrund zwischen Diesseits und Jenseits

Bemerkenswert nun ist, das zwischen jener Sphäre und unserem Leben auf der Erde ein Abgrund existiert, von dem Rudolf Steiner spricht; ich greife auf ihn zurück, weil ich dessen Vorhandensein nirgends so klar angesprochen gefunden habe wie in seinen Schriften, u. a. in der GA 273, in deren Mittelpunkt der zweite Teil des „Faust“ steht. 

Jeden Morgen nun und jeden Abend überwinden wir diesen Abgrund, auch übrigens genauso bei der Geburt oder anlässlich unseres Todes. Wenn wir nun zu den Menschen gehören, die morgens eine Erinnerung mitbringen von jener jenseitigen Welt, auch wenn sie eher unbewusst ist, lässt sich leicht vorstellen, wie wir das Hier und Jetzt in diesem Moment empfinden. Gerade noch waren wir wahrer Mensch, unbegrenzt, erfüllt mit himmlischen Eindrücken und mit einem Schlag sind wir nur noch ein Menschlein, schrecklich reduziert (so empfinden wir uns dann zumeist jedenfalls), verglichen mit vorher, also den nächtlichen Erlebnissen im Jenseits. 

Diesen Kontrast wahrnehmen zu müssen, wenn es einem widerfährt, ist einfach hammerhart. 

Manche Menschen also haben Schwierigkeiten, in den Tag zu finden, ja sogar vielleicht Angst vor bzw. beim Aufwachen, vielleicht auch einfach ein flaues Gefühl. 

Die Alternative: Regenbogen oder Jakobsleiter

Wenn wir von der Existenz des Abgrundes wissen, ist uns bewusst, dass eben angesprochene Gefühle sich durchaus im Rahmen der Normalität bewegen und absolut nachvollziehbar sind; nur die meisten nehmen sie nicht wahr – oder nur ganz entfernt In Zukunft werden vielleicht mehr und mehr Menschen diese Diskrepanz wahrnehmen und den Übergang neu gestalten wollen.

Die angesprochene Diskrepanz wahrnehmen zu dürfen ist im Übrigen im Grunde eine Gnade, denn sie entspricht einer Stufe geistiger Erkenntnis, mit der wir umzugehen lernen dürfen. Mit unserem Bewusstsein, das über das Materielle hinausreicht, ist dies möglich, möglich, den Abgrund zum Regenbogen werden zu lassen oder eine innere Jakobsleiter sozusagen installieren zu dürfen, die bekanntlich Jakob, auf der Flucht vor seinem Bruder Esau, sieht, als er nachts schlafend auf dem Erdboden liegt; auf ihr steigen Engel, Trostbringer  und Helfer zugleich, auf und nieder; oben sieht er Gott selbst. 

In „Faust I“ nimmt das Faust wahr: 

Im ersten Teil dieses Werkes hält Faust das Geschehen nur für ein Schauspiel, doch ist es die Realität einer möglichen Verbindung zwischen den Welten über den Abgrund hinweg. Der Anthroposoph Rudolf Steiner spricht ja immer wieder von dem notwendigen übersinnlichen Bewusstsein, das wir erwerben können. Und ein Teil dieses Bewusstseins ist das Wissen um diesen Abgrund, das Wissen um ein Menschsein im Jenseits und ein Menschsein im Hier und Jetzt. 

Statt Ausreden eine lebendige Vorstellung entwickeln

Er schreibt: 

Steiner deutet an, dass der Abgrund nicht der sein muss, als den wir ihn gegebenenfalls empfinden.
Der erste Schritt, dem Abgrund seinen Schrecken zu nehmen, wäre ein Bewusstsein für die geistigen Tatsachen, die unser Sein ausmachen. Wir sind eben nicht krank oder unnormal mit oben angesprochenen Problemen beim In-den-Tag-Treten. Wir können den Abgrund annehmen; er gehört zum Menschsein. Wir wissen: er ist nicht zementiert, unsere Seele entwickelt sich weiter und weiter; den Abgrund annehmen, um ihn bewusst zu wissen: das ist der erste Schritt.  

Im folgenden deutet Steiner einen weiteren an: 

Wir müssen … schreibt Steiner, und das gleich zweimal. 

Wir müssen die lebendige Vorstellung vom Sich-Erleben im Licht, im Weltenton, im Weltenleben, vom Zusammenfinden mit den höheren Hierarchien, die müssten wir mitbringen ins Aufwachen. 

Ist das möglich? – Ich sage ja. 

Steiner spricht sehr oft von Moral und meint nicht das, was die meisten Menschen unter ihr verstehen, sondern er meint mit ihr verantwortungsvolle Freiheit, unsere Entscheidung, etwas zu tun. – Bei den meisten Menschen hapert es genau daran. 

Wir müssen nicht zu jener Freiheit des Geistes kommen, nicht die angesprochene lebendige Vorstellung mitbringen, die uns eigentlich zur Verfügung steht. Wir können zu ihr kommen. Wir dürfen. 

Viele haben nicht verstanden, dass das im Grunde eine Gnade ist: Wir dürfen uns weiterentwickeln. Und wenn wir wollen, nicht nur im Schneckentempo. 

Ob das nur eine Ausrede ist? So wie viele reden, ausreden und nichts tun? 

Epimetheus zu sein ist so bequem …

Die Götter, manche Götter ganz besonders, aber nicht alle, wollten schon immer manches nicht leiden. Hera wollte Helena nicht mit Paris nach Troja ziehen lassen, weil er sie nicht zur schönsten Göttin gekürt hatte. Hera ist eine luziferische Göttin, die den Menschen dazu verhalf, ein Individuum zu werden. Wenn es nach ihr geht, sollen sie aber dabei stehenbleiben und nicht gemeinschaftsfähig werden. Wir sollten ihr nur bis zu einem gewissen Grad trauen.

Zeus wollte die Menschen nicht selbständig werden lassen; er hätte so gern dafür sorgen wollen, dass sie ein recht schönes Leben leben, aber abhängig bleiben von ihm, von gewissen Göttern. Es lohnt sich, Wagners „Ring des Nibelungen“ anzuhören; dessen vierter Teil ist mit „Die Götterdämmerung“ überschrieben: die alten Götter dämmern hinweg (damit endet der „Ring“). Zukünftig gibt es einen Prometheus (übersetzt der Vorausdenkende, der Vordenkende), der Zeus und Co. als Entwicklungsbremser der Menschen verjagt, der um seines Vorhabens willen sehr zu leiden hat (er wird an einen kaukasischen Felsen geschmiedet und ein Adler pickt ihm ständig die Leber weg – bis Herakles kommt und ihn befreit) und er hat einen Bruder namens Epimetheus (übersetzt der Nachdenkende, der Nachdenkliche), der das Tun seines Bruders unter den Menschen hintertreibt, ohne böse Absicht, aber er tut es. 

Zu viele unter den Menschen sind ein Epimetheus, zu wenige ein Prometheus. 

Goethe hat Prometheus ein Denkmal in einer Hymne gesetzt, die beginnt: 

Prometheus verhöhnt Zeus nach allen Regeln der Kunst. Sein und das Tun der Götter insgesamt sei so nutzlos wie das eines Knaben, der Disteln köpft, und wenn es nicht Kinder und Toren gäbe, ginge es ihnen noch kümmerlicher als jetzt schon. 

Es gibt aber eben auch Götter, von denen Steiner an anderen Stellen spricht, die wollen, dass der Mensch ein bewusstes Wesen wird, nicht abhängig von Göttern, die ihn an der Leine behalten wollen, damit er weiterhin für ihr Nektar und Ambrosia sorgt, die wollen, dass der Mensch seine eigene Göttlichkeit wiedererkennt, seinen göttlichen Ursprung. Dazu ist es notwendig, dass er das Wissen und Bewusstsein, das er jenseits des Abgrundes – in Goethes so anspruchsvoll zu lesendem „Märchen“ ist dort das Land der schönen Lilie – im Schlaf hat, mehr und mehr über den Abgrund transportiert in sein Tagesbewusstsein. Es deutet sich schon an, wie er das schaffen kann – ich komme darauf zu sprechen – und an eine weitere Möglichkeit und große Hilfe sei hier erinnert: 

In meinem letzten Video habe ich auf die Musik Richard Wagners verwiesen und dass sie – insbesondere natürlich beispielsweise das Vorspiel zum „Parsifal“ – verbindet mit dem Christusbewusstsein, so unglaublich das auch klingen mag [> https://lmy.de/YPYiY]. Es ist eben allerdings auch notwendig, dass wir von ihr Gebrauch machen, ab und an auch einen Blick werfen auf die Sixtinische Madonna Raffaels, über deren Bedeutung ich an anderer Stelle geschrieben habe – wir blicken ja, indem wir sie anblicken, auf etwas Phänomenales; in meinem nächsten Video, vermutlich überschrieben „Durchbruch zur Mater gloriosa“, werde ich am Schluss noch einmal auf die Bedeutung der Madonna eingehen.

Leider gibt es jedoch auch den Epimetheus mit seiner lähmenden Energie, der so fürsorglich ist, ja, und immer wieder sagt er uns: Lass uns doch erst mal in Ruhe nachdenken, tun wir doch nichts übereilt. – Damit aber nimmt er uns oft die intuitiven Impulse, in denen sich der Prometheus in uns kundtut.  

Homunculus in Goethes „Faust“ übrigens scheitert krachend mit seinem Versuch, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu werden; er zerschellt am Muschelwagen der Tochter des Meeresgottes Nereus, am Gefährt Galatees, von „herrischen Sehnen“ getrieben, „von Pulsen der Liebe gerührt“. 

Der griechische Philosoph Thales wird am Ende der „Klassischen Walpurgisnacht“ – wie oben erwähnt – Zeuge der Untergangs von Homunculus. Das Menschlein zerschellt. Dem korrespondiert in gewisser Weise, wie angesprochen, unser Aufwachen. Homunculus ist ja eine Seelengestalt, wenn wir so wollen, ein Astralleib. Ihm gelingt es nicht, trotz intensiven Bemühens – die „Klassische Walpurgisnacht“ gibt Zeugnis davon – Fleisch und Blut zu werden. Wenn unser Astralleib beim Aufwachen zurückkehrt aus dem Jenseits, und sich wieder in den Körper einloggt, dann zerschellen wir ja nicht. Aber wie gesagt, es gibt Menschen, die fühlen sich beim Aufwachen fast zerschellt oder Ähnlichem vergleichbar – es gibt da ja viele Abstufungen, nicht immer ist Lustlosigkeit dem Leben gegenüber darauf zurückzuführen, aber es kann auch damit zusammenhängen. 

Ich habe eine liebe Bekannte, mit der ich mich kürzlich über dieses Thema unterhalten habe und sie, fast neunzigjährig und seit Jahrzehnten überzeugte Anthroposophin (aber wohltuend zur Distanz fähig), hat mir erzählt, dass sie schon immer diese Schwierigkeiten gehabt habe, in den Tag zu gelangen und oft eineinhalb Stunden brauche, bis sie sich fähig fühle, ihn anzugehen. Ihr helfe, so hat sie mich wissen lassen, Zeilen Rudolf Steiners, die sie mir dann auswendig vortrug – man hat sie übrigens auf einem Notizzettel von ihm gefunden -, nachzulesen heute in der GA 268:

Ich habe sie mir dann nochmal vortragen lassen; sie haben eine so intensive Energie und Rosemarie hat sie so seelenerfüllt vorgetragen, dass ich sie auch auswendig lerne. 

Wie wertvoll diese Bausteine sind, mit denen wir unser Bewusstsein bauen!

Der kaukasische Felsen, Sinnbild der Materie, an die wir gefesselt sind 

Ich möchte erst nochmal kurz auf den Adler und die Leber des Prometheus zu sprechen kommen: 
Dass der Adler – zum Teil wird er auch als Geier bezeichnet – dessen Leber frisst, die sich aber ständig regeneriert, ist ja als Bild schon etwas unappetitlich. Aber es ist eben ein Bild für seelisches Geschehen:  

Wir Menschen als Prometheus bezahlen für die Freiheit, die wir uns von den Göttern genommen haben, schon auch einen Preis und den bezeichnet das uralte indische Wissen mit Kama, der Begierde, dem Trieb zu leben; ursprünglich war das gar nichts Negatives; mittlerweile hat sich Kama längst weiterentwickelt, mit dem Denken verbunden, ist uns bewusst geworden und hat sich in zwei Richtungen gespalten: der Begierde, der es nur darum geht, befriedigt zu werden, und einer Begierde, die sich in Streben verwandelt hat über die begierdenhafte Liebe hinaus zu einer geistigen Liebe, die die Begierde immer mehr umwandeln will. Möglich ist das durch die menschliche Ich-Kraft; sie ermöglicht uns eben bewusstes, eigenständiges Handeln, das in die unterschiedlichsten Richtungen ausschlagen kann. Der Raub der Helena durch Paris gilt in den Mysterien des Altertums für das Geschehen, das versinnbildlicht, dass Kama zu einer niedrigen Form der Begierde geworden ist (und nicht zufällig zu einem Krieg geführt hat). Anders ausgedrückt: unser unentwickelter Astralleib nagt mit seinen Begierden und Süchten an dem Leben und der Leber und ruiniert beides (nur weil wir nachts in der Geistigen Welt sind, regeneriert sich die Leber immer wieder und unser physisches Leben – so wie Anfortas nur überleben kann, weil ihm in regelmäßigen Abständen der Gral gezeigt wird).  

Deshalb ist es so gekonnt von Goethe dargestellt, dass er den Homunculus am Muschelwagen der Aphrodite, von dieser der Galatee, die den Elementen als Tochter des Meeresgottes so nahesteht, zur Verfügung gestellt, mit flammend blitzhaftem Aufleuchten zerschellen lässt. So einfach ist Menschwerdung bzw. Hineingeborenwerden in den Tag nicht. Gerade noch – kurz vor dem Aufwachen – war man im Devachan, im Himmel, unter Seinesgleichen; und mit einem Schlag landet man auf der anderen Seite des Abgrundes; der Tag fordert sein Recht. Wenn man eine Empfindung dafür hat, dann empfindet man das so oder in möglichen Abstufungen. So wie wir hier mit unserem Körper wie selbstverständlich verbunden sind, so wie die mineralische, pflanzliche und tierische Ebene zu unserer Lebenswirklichkeit wie selbstverständlich gehört, so gehören im Jenseits die Wesen dort wie selbstverständlich zu uns. – Und auf einmal soll alles ander sein? 

Ja, wir schlagen im Diesseits auf, weil es eine Grunderfahrung der 10. Hierarchie, die wir Menschen sind [> https://lmy.de/HzqBm], ist, zu erfahren und zu wissen: ohne Geist ist alles anders. Ohne Geist ist das Leben im Diesseits rein materiell, im Grunde ist das die Hölle. 

Die meisten empfinden doch aber die Hölle, wenn sie extrem ohne Geist leben wollen, nicht als Hölle? Der Grund ist, dass es sehr unterschiedliche Geister gibt. Und den Geist beispielsweise, der uns das Leben ohne Christusgeist schmackhaft macht, nennt die Bibel Satan; Steiner nennt ihn Ahriman. 

Wir müssten die Vorstellungen, die wir kurz vor dem Aufwachen haben, mitnehmen können über den Abgrund. Es ginge, aber was machen wir stattdessen – Steiner schreibt: 

Halten wir fest, dass die meisten Menschen morgens kein Zerschellen verspüren oder schreien wie ein Baby, wenn es im Diesseits ankommt und auf einmal etwas schrecklich vermisst. Halten wir aber auch fest, dass die ein oder andere Seele reagiert auf das Diesseits und nicht weiß, warum sie sich morgens einfach unwohl fühlt oder lange braucht, bis sie zu sich kommt. 

Bewusste Gestaltung des Aufwachgeschehens

In den Worten Steiners liegt zugleich auch der Hinweis, dem Schicksal des Zerschellens zu entgehen bzw. jenem Schicksal, das eigentlich noch schlimmer ist: nicht zu zerschellen, aufzuwachen und zu leben, womöglich in der Hölle, d. h. unter der Regie Ahrimans, im Grunde seelisch zerschellt, ohne es zu merken. Leben ohne Sinn. Ohne Entwicklung. 

Eine Möglichkeit, den Hinweis Steiners umzusetzen, wäre: aufzuwachen und einen Moment oder zwei oder drei, vielleicht zwei Minuten oder fünf oder gar zehn innezuhalten, vergangene Bilder in sich wachzurufen, wie es war, zwei Minuten vor dem Aufwachen oder, falls sie uns nicht mehr präsent sind, sich vorzustellen, wie es gerade gewesen sein mag, in der Wärme des großen Engelwesens Michael oder Maria Magdalenas. Der oder die ein oder andere mag das ein oder andere himmlische Wesen ansprechen. Die freuen sich. Jene Wesen wünschen sich die Verbindung zu uns Menschen, aber sie muss von uns ausgehen. Das ist anders als früher, als diese Wesen auf die Menschen zugingen. Wir leben heute in einer Zeit, in der der Mensch entscheidet, was er tut und mit wem er Umgang hat.  

Und nachdem wir noch einmal bewusst in jener Wärme uns aufhielten, gehen wir nicht einfach, sondern laden die Wesen ein, uns nach drüben zu begleiten. Das tun sie gern, aber sie wollen eingeladen sein. Und wir gehen dann bewusst mit ihnen über den Abgrund, der dann kein Abgrund mehr ist, sondern vielleicht die Jakobsleiter (wenn wir uns vorstellen, dass der Abgrund von oben nach unten besteht) oder der Regenbogen (wenn wir uns den Abgrund auf der horizontalen Ebene vorstellen). 

Eine weitere Möglichkeit der Umsetzung wäre, dass wir nach dem Aufwachen nicht für eine überschaubare Zeit zurückgehen, sondern im Diesseits bleiben und jene Wesen, um die wir wissen oder die wir uns vorstellen, bitten, zu uns zu kommen und ihre Wärme und ihre heile Welt mitzubringen. Wir lassen gleichsam unser Bett umwärmt und umstrahlt sein von ihnen. Sie bringen jenen Geist mit, den wir durch das Gebet O Gottesgeist, erfülle mich …

 in uns verankern können. 

Am besten, Du probierst aus, welche Methode für Dich die richtige ist; oft ergibt sie sich ganz spontan. 

Seit einigen Wochen stehe ich auf und gehe als eine der ersten Wege zu meinem Disc-Player, um das Vorspiel von Wagners Parsifal-Oper erklingen zu lassen zusammen mit den sich anschließenden Worten des Gurnemanz: „Hört ihr den Ruf? Nun danket Gott, / dass ihr berufen, ihn zu hören!“ (und dann kommt ja eine wunderschöne, wenn auch kurze Sequenz, für mich ist sie wie ein Choral) Und ich liebe auch die Stelle, als Gurnemanz, der dem Ritter, der die Schmerzen des zu Tode verwundeten Gralskönig Anfortas anspricht, antwortet:“ihm hilft nur Eines, – / nur der Eine!“ – Es hilft nur, weiß er, der kommen soll, der reine Tor, der zum Parsifal geläuterte Mensch, der Parsifal in mir, in uns (Link s.o.).  

Ich weiß noch, wie nach einigen Tagen des morgendlichen Hörens in mir auf einmal ein Begriff präsent war – es war das Wort „Heimat“ – und eine Stimme in mir sagte: Diese Musik ist deine Heimat. – Ich hab das dann immer mehr erfasst, wie diese Musik für mich tatsächlich einen morgendlichen Raum der Heimat schafft und er die Heimat ist, in der ich zuhause bin. Anderen Menschen geht es anders, ihnen ist ihre Familie Heimat, wieder anderen tatsächlich ein Haus, ihr Haus – wie auch immer, jede Art ehrlich empfundener Heimat ist wertvoll. Ich habe eben meine Heimat gefunden als jemandem, dem es so geht wie manchem anderen, der auch das Gefühl hat, weder geographisch noch durch und mit anderen Menschen eine Heimat zu haben, weil er sich auf der Erde doch ziemlich alleine fühlt. Vielleicht wächst das noch stärker unter Menschen: dass wir geistig zusammenwachsen und es zunehmend Menschen gibt, die mir ein Heimatgefühl geben (mit sehr wenigen, aber mir wertvollen Menschen fühle ich mich durchaus verbunden), Menschen, denen ich nicht familiär oder durch eine Partnerschaft verbunden bin, sondern geistig, mit denen man sich vielleicht regelmäßig trifft und eine Verbindung im Geistigen entsteht, die Heimat herstellt, hier auf der Erde … vielleicht und ja, ziemlich sicher gibt es das unter Menschen auch schon an der ein oder anderen Stelle auf der Erde und die Zahl solcher Verbindungen nimmt zu. 

Zusammen mit der Musik gibt es andere Gegenstände oder Begriffe oder Gedanken, die den Raum der Heimat bilden: bei mir ist es noch Raffaels „Sixtinische Madonna“ und z. B. auch noch mein Konfirmationsspruch an der Wand, der mir wichtig ist, obwohl ich nicht mehr in dem Verein bin, durch den er mir überreicht wurde: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen: Du bist mein!

Sich seinen ganz spezifischen Raum der Heimat zu schaffen, vielleicht aus unterschiedlichen Dingen, das ist deshalb wichtig, weil unser Sein sich in einer Waage zeigt, und auf der einen Waagschale finden wir das Jenseits, mit all dem, wo wir uns jede Nacht wohl fühlen, zuhause sind, und es gibt eben jene Schale, die des Tages sozusagen, wo wir uns um eine geistige Heimat selbst bewusst zu kümmern haben. 

Was ich – und das möchte ich abschließend noch weitergeben – an den Mythen und der Literatur, seien es Gedichte, eine Novelle oder ein Schauspiel, wenn sie spirituelle Themen verarbeiten, so toll finde, ist, dass sie nicht so trocken daherkommen wie Bücher über das geistige Erwachen oder Vergleichbares, sondern in den Handlungen und Erlebnissen lebt etwas mit, dass das, worum es geht, mit dem Leben verbindet und uns damit das Thema so nahebringt – mir geht es jedenfalls so. 

So ist es mir auch ergangen, als mir das Gedicht des 21-jährigen Mörike begann nahezugehen und ich mehr und mehr empfand, was der junge Mann da wirklich verarbeitet hat: seinen Umgang mit dem Aufwachen. Es ist überschrieben mit An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang

. Mörike hat es winters geschrieben; ich könnte es heute jemandem vorlesen und würde es überschreiben: „An einem Maimorgen, vor Sonnenaufgang“ oder „An einem Frühlingsmorgen, vor Sonnenaufgang“. 

Dieses Gedicht hat einen Energie, die Abgründe überbrückt. Es ist die Kraft und Zuversicht der Jugend, die ihm diese Energie gibt und ich möchte jenen, die mit oben angesprochenen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, empfehlen, es auswendig zu lernen und es morgens sich zuzusprechen: 

Bei Mörike blitzt es auch, aber es hat kein Zerschellen zur Folge, sondern der Tag, wie ein Gott, beginnt seine königlichen Flüge. Vorher aber nimmt er auch einen Kontrast war: da sind seine traurigen Wände, in die hinein gar nicht passen will, was ihm vorher zuteil wurde. Zunächst geht es ihm so, wie jenem, der, wie oben empfohlen, aufgewacht ist und sich zurückerinnert: Da ist die Seele so rein und klar wie ein Kristall, ein Zustand, wie wir ihn im Diesseits nicht kennen. Mörike allerdings muss sich gar nicht zurückerinnern, so übermächtig wirkt, woher seine Seele kommt, noch in ihm wie von selbst. Es sind lustvolle und heilige Gefühle zugleich; ja, Heiligkeit darf lustvoll sein. Nur weiß er nicht so recht, ob er von einem verlorenen Glück sprechen soll oder ob er ein werdendes im Herzen trägt.  

Ein werdendes Glück? 

Ja, ein werdendes. In diesem Gedicht finden wir die Kraft der Geburt, die Kraft des Neuen, die gelebt sein will und es ist kein Zufall, wenn Rudolf Steiner schreibt: 

Das eben ist der Grund, warum der einundzwanzigjährige Mörike sie so königlich und göttlich wahrnimmt. 

Wenn uns älteren Menschen nicht gelingen mag, die Kraft der Geburt zu sehen, dann hängt das natürlich mit den Erfahrungen unseres Lebens zusammen, womöglich auch mit karmischen Einflüssen, die sich mittlerweile aktualisiert haben und die uns den Zugang zu jener Kraft verstellen. Mörikes Gedicht führt uns zu ihr, jener jugendlichen Kraft, deren wir uns teilhaft machen dürfen, wenn wir wollen. Seine Zeilen auswendig zu lernen, um sie mit ganzer Intensität unserem Inneren zuzuführen, ist ein Weg der Heilung, den wir gehen können.

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Warum Helena gar nie in Troja war

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Mann im Märchen: der Jäger im „Rotkäppchen“. – Über real existierende männliche und weibliche Seiten

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Goethes „Faust“: Über das Dilemma asymmetrischer Beziehungen und das Verhältnis von Liebe und Begehren.

zum Video

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Alles fühlt. Doch Gefühl ist nicht alles. – Vom Denken zum Herzdenken

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PS

Ich möchte noch einmal die Steiner–Michael-Passagen empfehlen; sie sind wertvollst für unser Bewusstsein, das sich in unserer Zeit neu ausrichten will > https://bit.ly/3PMzVTS

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„Den Teufel spürt das Völkchen nie, / Und wenn er sie beim Kragen hätte.“

Was hier Mephisto so flapsig dahinzusagen scheint – er befindet sich gerade mit Faust in Auerbachs Keller – ist eine, man möchte fast sagen, bittere Wahrheit, denn tatsächlich ist es so, dass die meisten Menschen meinen, sie hätten die Hoheit über sich. In diesem Glauben lässt sie der Teufel gern.

Mephistopheles weiß darum und sieht sich in der Szene „Auerbachs Keller“ einmal mehr darin bestätigt: den Menschen kann noch so Absurdes bzw. Ungewöhnliches widerfahren, so fragen sie doch nicht nach oder machen sich Gedanken, was und warum da etwas so eigenartig abläuft.

Schicksal allerdings kommt nicht aus dem Nichts und wenn, dann aus jenem, dessen Herr der Teufel selbst ist („Von Sonn und Welten weiß ich nichts zu sagen“ / „Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.“).

Letzteren bewusst wahrzunehmen, was durchaus möglich ist, dazu verhilft Goethes Werk, denn all das, was Faust hier im Außen erlebt, indem er Mephisto begegnet, erleben wir im Inneren; auch in uns knurrt Mephisto und versteckt sich hinter diversen Gestalten.

Zumeist unbewusst haben viele Menschen Angst vor der Realität eines Luzifer bzw. eines Satan – was es mit beiden auf sich hat, spricht das folgende Video an – und negieren seine Existenz. Das arbeitet beiden Wesenheiten in die Hände.
Die Gefahr, die in der bewussten Begegnung mit beiden existiert, ist jedoch weitaus geringer als jene, die vorhanden ist, wenn man ihnen unbewusst verfällt.

Gerade der erste Teil des „Faust“ und dort die Begegnung des gleichnamigen Protagonisten mit Mephistopheles – in welchem Goethe Luzifer und Satan erfasst hat – ermuntert uns, das Wagnis einer dauerhaften Begegnung mit ihm einzugehen. Geschieht sie bewusst, können wir nicht nur zur Erlösung beider in ihm enthaltenen Wesenheiten beitragen, sondern uns auch ihre gewaltigen Kräfte zunutze zu machen:

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Möglich, dass okkulte Kräfte am Tod Schillers beteiligt waren.

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Die Macht der Sorge. – Von drei zentralen Lebenshemmnissen, die Goethes „Faust“ aufzeigt.

Einmal mehr ist es Goethe, der gegen Ende seines leider viel zu wenig beachteten „Faust II“ darauf verweist, woran selbst Menschen, die doch immerhin schon die Kraft hatten (wenn sie auch nicht ganz erfolgreich waren), in die Tiefen unseres Bewusstseins, in das Reich der Mütter, wie es Goethe nennt, hinabzusteigen und  mit diesem Gang in die Tiefen menschlichen Seins immerhin auf den Spuren eines Odysseus, Herakles oder Orpheus wandeln, noch scheitern.

Faust erhält gegen Ende seines Lebens Besuch von vier Damen, der Schuld, dem Mangel, der Not und der Sorge. Doch nur die Sorge kann in sein Inneres gelangen:

FAUST:
Die Pforte knarrt, und niemand kommt herein.
Ist jemand hier?

SORGE:
Die Frage fordert Ja!

FAUST:
Und du, wer bist denn du?

SORGE:
Bin einmal da.

FAUST:
Entferne dich!

SORGE:
Ich bin am rechten Ort.

FAUST:
Nimm dich in acht und sprich kein Zauberwort.

SORGE:
Würde mich kein Ohr vernehmen,
Müßt‘ es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
üb‘ ich grimmige Gewalt.
Auf den Pfaden, auf der Welle,
Ewig ängstlicher Geselle,
Stets gefunden, nie gesucht,
So geschmeichelt wie verflucht.–
Hast du die Sorge nie gekannt?

FAUST:
Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed‘ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genügte, ließ ich fahren,
Was mir entwischte, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und abermals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig,
Nun aber geht es weise, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh‘ er seinen Gang,
Im Weiterschreiten find‘ er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick!

SORGE:
Wen ich einmal besitze,
Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommnen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle;
Sei es Wonne, sei es Plage,
Schieb er’s zu dem andern Tage,
Ist der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.

Faust, dem nach Ende seines Erdenlebens von der Geistigen Welt durch die Anwesenheit hoher Wesen, die seine Seele nach oben tragen, bestätigt wird, wie wertvoll er ist, obwohl er doch kurz zuvor noch am Tode von Philemon und Baucis, dem so sympathischen Pärchen beteiligt war, indem er einmal mehr auf die Mithilfe des Mephistopheles hereinfiel, vermittelt uns – und das ist doch gerade für unsere Corona-Ukraine-Inflations- und politikverdrossene Zeit so wichtig, wie gut es wäre, wenn wir nicht auf die Sorge abfahren.

Tatsächlich gibt es drei große Hemmnisse für unsere seelische Entwicklung, die auch Faust durchlebt hat, die aber leider auf unserer Erde von uns Menschen ausgiebig praktiziert werden:

 Anlässlich des zum Tode verurteilten Gretchens und dem Tod des gemeinsamen Kindes schiebt er die Schuld natürlich auf andere – in seinem Fall auf Mephisto. 
 Er tut sich selbst Leid (Faust wollte vor allem sein Leid, das darin bestand, das Leid eines anderen Menschen ertragen zu müssen,  beseitigen, indem er Gretchen rettet) und
 er kann sich der Sorge auch kurz vor seinem Tod nicht verschließen.

Die Schuld immer bei anderen zu suchen und Selbstmitleid sind tödlich für jede seelische Entwicklung.
Wer den „Faust“ ernst nimmt, verjagt zudem die Sorge aus seinem Leben. Sie ist einer der letzten, wenn nicht der letzte Hemmschuh vor einer möglichen Erlösung unserer Seele, für eine Verbindung mit unserem Ewig-Weiblichen, dem Ewigen unserer Seele.
Wer das Christliche um des Christlichen und Biblisches um der Bibel willen ablehnt oder verachtet, mag darüber hinweglesen, dennoch lautet ein mehrfach im Neuen Testament in unterschiedlicher Gestaltung angesprochener Hinweis:“Sorget nicht für den anderen Morgen.“
Für unseren Alltag, unser Leben verweist uns das darauf, dass wir unsere Energien, unsere gedanklichen Energien, die sich in so vielen Lamentationen über den Zustand der Erde äußern, nicht in entsprechende Artikel und Beiträge hineinpulvern sollen. Sich gegenseitig über Gefahren und Bedrohungen zu informieren, ist das eine; das andere ist, dass man zugleich mitvermitteln mag:
Sorge ist ein Mittel geistiger Kräfte, wie sie sich in der Gestalt des Mephisto finden, die Seele von sich selbst abzulenken, abzuschneiden. Mephisto sorgt(!) dafür, dass Gretchens Mutter und Bruder so früh sterben; er ist am Tod von Philemon und Baucis beteiligt und bemüht sich rührend um unsere Sorgen. Nur tut er es sich selbst zuliebe.
Angst spielt dieselbe Rolle!
Im „Faust“ kann Mephistopheles nicht verhindern, wie sehr am Ende das Göttlich-Weibliche in der Gestalt des Doctor Marianus und der Mater gloriosa in den Mittelpunkt rückt und dass es heißt:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

Bleibt noch anzumerken, dass Goethe womöglich heute seinen Schluss anders formuliert hätte und nicht nur davon gesprochen hätte, dass das Ewig-Weibliche uns hinanzieht, sondern dass auch wir aktiv auf unser Ewig-Weibliches zugehen mögen.
Wir tun es auch dadurch, dass wir dazu beitragen, in unserer Erdenwirklichkeit die Sorge zu entsorgen.

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„Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir!“

Es gibt zwei Sätze in Goethes „Faust“, an denen sich die Tragödie mancher Leben, auch die des Faust – zumindest was den ersten Teil dieses Werkes betrifft – aufhängen lässt.
Der eine lautet: „Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt“; er findet sich im „Vorspiel auf dem Theater“, zu Beginn des ersten Teils des „Faust“.

Während sich Saint-Exupérys berühmter Satz „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ fast in jedem Poesiealbum findet – und wenn jemand mal wieder auf Facebook Likes sammeln will, zitiert er ihn dort; doch Goethes Satz – „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ – findet sich kaum, und ich habe versucht, ihm zu Beginn des verlinkten Videos die Bedeutung zu geben, die er verdient, denn er erklärt so manches Dilemma und manches Glück, das uns widerfährt, ja, das Schicksal im Grunde aller Leben.

Er erklärt auch, warum Faust seinem Leben eine Ende machen will, denn was jener im Herzen trägt, ist das trockene Wissen seines Gelehrtenschädels; daran kann man in der Tat verzweifeln und die Aussage erklärt auch die verzweifelten und lebenslangen Bemühungen vieler Menschen, sich der Wahrheit zu entziehen, die der Erdgeist dem Faust unerbittlich entgegenschleudert, der sich doch ein Ebenbild der Gottheit dünkt und als ein Cherub, wie er selbst betont. Die Wahrheit allerdings ist: Er weiß nicht mehr, als sein Famulus Wagner, der ihn just in diesem Moment aufsucht, als ihm der Erdgeist zuruft: „Du gleichst dem Geist, den begreifst, / Nicht mir!“

Für das Verständnis des gesamten „Faust“ ist dessen Beginn Grundlage, denn er wirft ein Licht darauf, warum das, was im Folgenden geschieht – die Begegnung mit Mephisto – so wichtig ist, um gegebenenfalls -wie es Faust im zweiten Teil gelingt – sich dem Reich der Mütter zu nähern und dem Ewig-Weiblichen.
Es ist Goethes Verdienst, den Menschen auch gerade heute ermuntern zu wollen, dem Teufel mutig zu begegnen. Goethe hat in seinem Mephistopheles zusammen erfasst, was zu differenzieren notwendig ist: Es gibt Luzifer, dem wir die Möglichkeit der Freiheit verdanken, und Satan, den Petrus in seinem ersten Brief nicht von ungefähr umhergehen lässt, wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen könne.

Davon und zum Beginn des „Faust“ mehr im folgenden Video:


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