„In meinem Herzen ist eine Stelle, / Da blüht nichts mehr.“ – Zeit heilt nicht alle Wunden.

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Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen
Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein,
Und während Tage und Jahre verstreichen,
Werden sie Stein.

Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre,
Sie scheinen zerronnen wie Schaum.
Doch du spürst ihre lastende Schwere
Bis in den Traum.

Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle,
Die Welt wird ein Blütenmeer.
Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,
Da blüht nichts mehr.
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So schreibt jemand, der weiß, wovon er spricht. Es ist Ricarda Huch, eine Frau, in deren Zeilen hineinzulauschen sich immer lohnt.

Da ist keine Verbitterung, da ist Feststellung.

Sie beginnt mit einem Satz, der kein Metrum kennt, keinen Rhythmus will. Ein ganz und gar prosaischer Satz.

Er passt eigentlich nicht in ein Gedicht.

Eigentlich. 

Und er setzt sich fort per Enjambement.
Eine Zeile reicht nicht.

Sie mündet in einen Komparativ, der sich wiederholt.

Tiefer und tiefer. Da könnte von Liebe die Rede sein. Aber es ist von den Schmerzen die Rede, die nicht heilbar sind.

Es gibt sie.

Sie werden Stein.

Der letzte Vers der ersten Strophe ist lapidar. Das Wort kommt von dem lateinischen lapis, übersetzt: Stein.

Man ahnt seinen Ursprung, dass nämlich römische Soldaten Nachrichten in Stein meißelten. Notgedrungen knapp, lapidar.

Hier ist von den Schmerzen die Rede.

Nicht von vornherein waren sie Stein.

Nicht immer heilt Zeit Wunden.

Manchmal lässt Zeit Schmerzen versteinern.

Schwer genug dann, um im Herzen zu versinken.
Fast lautlos.

Wieder, auch zu Beginn der zweiten Strophe, ein längerer Satz, diesmal hat er sogar ein Metrum, einen Jambus, vierhebig.

Das lyrische Ich spricht mit sich, es spricht sich an. Ein gutes Zeichen. Mag man meinen.

Tatsächlich, es spricht und lacht.

Die Schmerzen werden auch gar nicht benannt, sie werden pronominal ersetzt, und das im zweiten Vers der zweiten Strophe (Sie) und im dritten Vers, dort durch ein Possessivpronomen (ihre).

Tagsüber lassen sie, die Schmerzen, sich durch Sprechen und Lachen verdrängen. Doch dies Verdrängen ist Illusion.
Da, wo solches Verdrängen keinen Zugriff hat, zeigen sie sich unnachgiebig, auch nach vielen verstrichenen Jahren: im Traum.

Wieder ein längerer Satz zu Strophenbeginn. Ein wenig klingt er nach Kitsch. Zu abgegriffen hört sich das an: Frühling, Wärme, Helle, Blütenmeer.

Aber Letzteres ist nur Steigbügelhalter für ein Stilmittel, das, wie so oft mehr ist als Ornamentalik. Das Substantiv wird in seinem Verb wieder aufgenommen und damit verstärkt. Von Blühen ist die Rede.

Umso stärker wirkt die umgehende Verneinung.

Statt Ornamentalik bittere Realität.

Denn was für andere gelten mag, gilt nicht für das lyrische Ich, das sich hier nicht mehr distanziert ansprechen mag, sondern sich zu sich bekennt und von „meinem Herzen“ spricht.

Dort gibt es eine Stelle. Vielleicht ist sie nicht tot.

Aber sie kann nicht mehr blühen.

Bisweilen ist, das zu wissen, schlimmer als der Tod.

Die letzten vier Worte dieses Gedichtes klingen unmissverständlich.
Endgültig.
Ohne Illusion.

Manchmal ist es gut, einer solchen Wirklichkeit ins Auge zu sehen.
Ricarda Huch tut es.

Sie war eine tiefgläubige Frau. Ihr Buch, Luthers Glaube, ist voll von tiefen Erkenntnissen.

Man wollte ihr wünschen, dass, was auf den Wanderer, der in der dritten Strophe von Trakls Ein Winterabend unterwegs nach einem Zuhause ist, auch auf sie und diese Schmerzen zuträfen

Wanderer, tritt still herein.
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
auf dem Tische Brot und Wein.

.Versteinerung ist überwindbar.

So sehr man das auch der großen Schriftstellerin wünschen mag: Ihr ist ein anderes Los beschieden. Ganz offensichtlich nimmt sie es an.

Nicht, dass sie dadurch Frieden gefunden hätte. Darum geht es nicht. Eher geht es meinem Gefühl nach um Ehrlichkeit. Um eine ehrliche Wirklichkeit.

Das Gedicht erschien 1944, drei Jahre vor Ricarda Huchs Tod. Geschrieben worden sein mag es vielleicht um einiges früher, vielleicht Bezug nehmend auf eine der beiden gescheiterten Ehen; wir wissen es nicht.

Es beschönigt nichts.

Das tut in einer Welt, die oft nur aufgeschlossen und ehrlich tut, aufrichtig gut.

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4 Antworten zu „In meinem Herzen ist eine Stelle, / Da blüht nichts mehr.“ – Zeit heilt nicht alle Wunden.

  1. wolkenbeobachterin schreibt:

    Lieber Johannes, das ist ein sehr schönes, trauriges Gedicht. Danke fürs Zeigen und für Deine Gedanken dazu. Am Ende schreibst Du, dass sie drei Jahre nach Veröffentlichung dieses Gedichtes gestorben ist. Das hat mich richtig traurig gemacht. Andererseits ist es vermutlich so, wie Du auch schreibst, dass sie es um einiges vorher, geschrieben hat.
    Ja, es gibt diese Dinge, die man nicht verwinden und verarbeiten kann. Die bleiben zurück als Schmerz und Wunde.
    Ich wünsche Dir einen schönen 2. Advent. Alles Liebe von der Wolkenbeobachterin

    • Liebe Wolkenbeobachterin,

      Ricarda Huch starb mit 83 Jahren nach einem außerordentlich erfüllten Leben. Sie ist für mich noch heute eine große Frau, die ich sehr bewundere.

      Was ich nicht geschrieben habe, was aber durchaus möglich ist: Vielleicht glänzt mancher dieser Steine in unserem Herzen wie ein Edelstein. Jedes Herz hat ja diese Stellen – hoffentlich!

      Ricarda Huch hat sich über die Bedeutung von Schmerz und Leid immer wieder geäußert, so auch in „Luthers Glaube“:

      „Die meisten Berufenen scheitern daran, dass sie nicht kämpfen und leiden wollen. Sie möchten wohl Auserwählte sein, aber, wie Papageno, nicht durch Feuer und Wasser gehen und gleichen Frauen, die sich nach Kindern sehnen, aber die Qual, sie zu tragen und hervorzubringen, nicht auf sich nehmen mögen. Es gibt Menschen, die dem Leiden ausweichen und es gibt Menschen, die das Leiden suchen und denen das Leiden ausweicht; wen Gott auserwählt hat, dem zwingt er das Leiden auf. Und zwar zwingt er es ihm auf durch das Mittel, durch welches er überhaupt im Menschen wirkt, nämlich durch das Herz; insofern nun jedem sein Herz selbst angehört, macht jeder sich sein Schicksal selbst.“

      Wunderbar finde ich übrigens auch ihr Gedicht in der Mitte dieses Posts > https://goo.gl/Srk9zh
      und jene Stelle, auch aus „Luthers Glaube“, wo sie sich dazu äußert, was ein Kunstwerk von einem Machwerk unterscheidet > https://goo.gl/Vvky72

      Danke für Deine lieben Adventswünsche.
      Dir auch eine hoffnungsvoll-friedliche Adventszeit!

      Liebe Grüße,
      Johannes

  2. wolkenbeobachterin schreibt:

    P.S.: Wie heißt denn das Gedicht?

    • In meiner Quelle ist es mit „Nicht alle Schmerzen“ überschrieben. Es könnte sein, dass das in Ermangelung eines originalen Titels geschehen ist. Man müsste in ihrer Sammlung „Herbstfeuer“ nachschauen können, im Rahmen deren es erschienen ist. In den gängigen Anthologien gibt es eh nur ganz wenige Gedichte von ihr. Ich habe es aus Reich-Ranickis „1000 Deutsche Gedichte“.

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