Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt? – Von der Kraft der Überwindung in Goethes Versepos „Die Geheimnisse“

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

Mit diesem Satz aus seinem Fragment gebliebenen Versepos Die Geheimnisse berührt Goethe eine tiefe Wunde der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Zunehmend sind ihren Bürgern Fähigkeiten und Eigenschaften abhanden gekommen, die notwendig sind, damit sie sich weiterentwickelt. Was viele nicht wahrhaben wollen, ist die Tatsache, dass eine solch umfassende Weiterentwicklung korrespondiert mit einer bewussten ethischen Einstellung, also einer Arbeit an sich selbst und dem Einsatz für andere, der Liebe zum Nächsten. Solch ethisches Fundament korrespondiert zugleich mit einer inneren Religiosität und mit einem Glauben, der den Menschen sich ausgerichtet sein lässt auf ein sinnhaftes Ziel. Goethe formuliert das in Die Geheimnisse mit Hilfe einer Frage:.

Was ist er Mensch, warum kann er sein Leben
Umsonst, und nicht für einen Bessern geben?

Aus der Sicht des großen Alten aus Weimar gibt es ein Leben, das umsonst gelebt wird.

Dass jemand anders, also nicht umsonst lebt, hängt nicht von der Mitgliedschaft in einer Kirche ab, wohl aber von einer Religiosität, die um seelische Entwicklung und um ein Höheres in einem umfassenden Sinne weiß. Keine Frage ist, dass die ethische Gesamteinstellung eines Menschen, auch einer Gesellschaft, sich auf Ziele auszurichten in der Lage ist, wenn es nämlich eine Rückbindung an dieses Höhere gibt, ein bewusstes Menschsein, das Albert Schweitzer auf ethischer Ebene mit Ehrfurcht vor dem Leben ansprach.

Solch eine Ehrfurcht war in der Vergangenheit mit religiösem Bewusstsein und durchaus auch mit der Mitgliedschaft in einer Kirche verknüpft. Letztere Institution mag man immer wieder zu Recht kritisieren, insgesamt aber sehen wir heute, dass eine kirchliche Bindung für das Wertesystem einer Gesellschaft gewiss kein Nachteil war. Der ganz offensichtliche Verlust eines diesbezüglich intakten Koordinatensystems korrespondiert durchaus mit dem quantitativen Niedergang der Kirchen (der für mich zu einer bewussten Neuausrichtung führen wird) und das hämische Frohlocken einiger darüber hat seine Ursache in deren Mangel an ethischem Bewusstsein und einem Unvermögen, die Folgen sehen zu können.

Atheismus ist, davon abgesehen, bei nicht wenigen meines Erachtens oft nur scheinbar eine bewusste Einstellung. Fehlendes Vertrauen ins Leben, seelisch-geistiges Lau-Sein, Indifferenz und Mangel an Demut können der Treib-Sand sein, auf dem eine Lebenseinstellung Halt sucht, die nie eine Wurzel bilden, nie sinnhaft vor Anker gehen konnte.

Eine Gesellschaft, der immer weniger heilig ist, verkommt!

Was auffällt, ist, dass Fähigkeiten wie das Hintanstellen von Bedürfnissen zugunsten eines höheren Zieles, das Streben nach menschlicher Verfeinerung, ein bewusster Umgang mit Leid und Ähnlichem zunehmend fehlen und eine Ersatz-Maxime die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen ist. Jemand, der sich über den Sinn des Lebens Gedanken macht, wird kaum Zalando-Partys feiern; er wird zwar seine Bedürfnisse ernst nehmen, aber immer darauf achten, dass er nicht ihr Sklave wird oder ist bzw. sich in das entsprechende gesellschaftliche Subsystem integriert.

Leben hat ein Ziel, die Erlösung des Mephistopheles in uns. Das macht der Faust deutlich und der Wahrheit des zentralen Satzes dieses großen Werkes – Wer immer strebend sich bemüht / den können wir erlösen – waren sich in vergangenen Jahrzehnten mehr Menschen als momentan bewusst.

Jedenfalls führe ich das Verkümmern wertvoller oben angesprochener Eigenschaften auf ein erkennbar zunehmendes Desinteresse an seelischen Zusammenhängen zurück, auf eine fehlende religio, eine fehlende Rückbindung an Höheres, ja Heiliges. –

Eine Gesellschaft, der immer weniger heilig ist, verkommt.

Das fängt bei dem Respekt vor dem Sonntag als einem notwendigen Tag des Innehaltens und der Besinnung an und endet da, wo Sinkflüge enden – das ist uns bekürzlich dramatisch vor Augen geführt worden. Dass Kulturen und Gesellschaften ebenfalls zerschellen können, wissen wir; aber intuitiv wissen wir auch, dass es nicht notwendig so sein muss. Darauf kann uns gerade Ostern hinweisen.

Über die Negativseiten einer zu engen Religiosität brauchen wir auf der anderen Seite nicht zu reden; sie gibt es. Mir zum Beispiel wird übel, wenn jemand mit Erbsünde und ausgefeilter Sündenrhetorik Druck ausübt. Je dogmatischer und intoleranter sich Religiosität gebärdet, desto weniger hat sie verstanden, warum es das Gebot gibt, dass wir uns kein Bildnis von Gott machen sollen. Zu sehr wird oft die eigene Enge zum Gefängnis einer Religiosität, die die eigene Kleingeistigkeit als DEN christlichen Gott verkauft. Dagegen rebellieren viele Menschen zu Recht. Noch ist dieser Protest diffus und richtet sich pauschal gegen die Kirchen und die christliche Religiosität. – Das wird sich ändern, wenn alle Seiten lernen, dass eine notwendige, einem richtig verstandenen Bildnisgebot entsprechende Offenheit nicht gleichgesetzt werden muss mit Indifferenz und dem Fehlen eines Koordinatensystem, eines Koordinatensystems, im Rahmen dessen Christlichkeit endlich als überkonfessionelle Bewusstseinsstufe begriffen werden kann.

In solch einem Koordinatensystem könnten unsere Kirchen einen von unserer Gesellschaft auf neue Weise mitgetragenen Platz finden.

Im mittelsten erblickt er jenes Zeichen
Zum zweiten Mal, ein Kreuz mit Rosenzweigen.

Weithin unbekannt sind Die Geheimnisse geblieben.

Wir finden zu Beginn einen Bruder Markus unterwegs im Gebirge. Es ist Abend und der Weg auf die Bergspitze beschwerlich. Oben angekommen sieht er ein sanft geschwungenes Tal mit einem Gebäude, dem er sich nähert. Dicht vor der Pforte sieht er ein geheimnisvolles Bild:

Das Zeichen sieht er prächtig aufgerichtet,
Das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht,
Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet,
Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht,
Das die Gewalt des bittern Tods vernichtet,
Das in so mancher Siegesfahne weht:
Ein Labequell durchdringt die matten Glieder,
Er sieht das Kreuz und schlägt die Augen nieder.

Er fühlet neu, was dort für Heil entsprungen,
Den Glauben fühlt er einer halben Welt;
Doch von ganz neuem Sinn wird er durchdrungen,
Wie sich das Bild ihm hier vor Augen stellt:
Es steht das Kreuz mit Rosen dicht umschlungen.
Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt?

Bruder Markus wird herzlich aufgenommen und erfährt im Verlauf des Abends aus dem Munde eines Alten, dass der Abt des Klosters im Sterben liege; es ist Bruder Humanus, in dessen Person sich wohl Züge Johann Gottfried Herders spiegeln, mit dem Goethe zu jener Zeit eng verbunden war und der ihn wohl in Kontakt mit der Spiritualität der Rosenkreuzer brachte.

Goethes Versepos ist in Stanzen verfasst, eine aus dem Italienischen stammende Strophenform mit dem Reimschema abababcc, deren acht Verse durch diese kunstvolle Gestaltung den auf solche Weise verfassten Werken einen ganz besonders melodischen, hehren Ton geben, der den Inhalt auf eine ethisch spürbar hohe Ebene hebt.

Goethe selbst hat den Geheimnissen ursprünglich eine zentrale Rolle zugedacht. Das hängt damit zusammen, welche Bedeutung für ihn sowohl das Kreuz als auch Rosen hatten.

Sein an der Ilm gelegenes Gartenhaus in Weimar, das er mehrere Jahre lang bewohnte und das heute als Museum eingerichtet ist, war dicht eingehüllt in einen Rosenmantel; die ganze Vorderseite war bis zum Dach mit Rosen überzogen, so lesen wir bei einem Zeitgenossen.

Wenn Goethe über die Rose schreibt:

Du bist es also, bist kein bloßer Schein,
In dir trifft Schaun und Glauben überein.

entspricht das seiner Grundeinstellung, dass alles Vergängliche ein Gleichnis sei, alles Physische Hinweise auf Metaphysisches oder, wie er sagen würde, Symbolisches enthält.

Seine diesbezügliche Aussage mag allen denen zu denken geben, die Rosen lieben, aber zu glauben und den Geist, der sie schuf, verachten.

Was allerdings Goethes Einstellung gegenüber dem Kreuz betrifft, so ist diese durchaus differenziert zu sehen. Gar nicht mochte er, wenn es, auch in bildlichen Darstellungen, zu sehr an Marterpfahl und Leichnam erinnerte. Doch noch gegen Ende seines Lebens ist ihm wichtig, gegenüber seinem treuen Freund Zelter zu betonen, dass er das Kreuz als Mensch und als Dichter zu schmücken und zu ehren verstand.

Die Rose, unser liebendes Herz, überwindet den Tod

Für Goethe mag das Kreuz vielmehr der Humus der Rose gewesen sein, erwächst doch da, wo das Herz Jesu sich befand, aus dem Kreuz die Rose, in der sich menschliche und göttliche Liebe vereinen. Gerade Die Geheimnisse lassen erkennen, wie sehr er das Kreuz mit Glauben und Liebe verbunden sieht.

Wer glaubt, mag mithin, wenn er ein Kreuz sieht, es mit Rosen umwunden sehen. Die blutrote Rose ist es, welche die Gewalt des bittern Tods vernichtet.

Zu dem, was sie ausmacht, gehören die Dornen.

Nicht von ungefähr ist die Dornenkrone der Gipfel der Kreuzigung, der Gipfel des Leidens. Wer sich die Mühe macht, einem Sterbenden eine Dornenkrone aufzusetzen, der will willentlich die Liebe verhöhnen. So geht das menschliche Ego mit dem Höheren Selbst, von dem Schiller spricht, dem Christus in uns, um.

Noch überwiegen in unserer Zeit Zweifel, dass der Weg Jesu der Weg aller Menschen ist, das auch der Kreuzestod eine Stufe menschlicher Entwicklung sein könnte, noch überwiegen oft Häme und Hohn.

Die Aussage der Bibel – Wer überwindet, wird es alles ererben. – weiß um diese Angst und macht Mut zugleich.

Um noch einmal mit Goethe zu sprechen:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

 

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3 Antworten zu Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt? – Von der Kraft der Überwindung in Goethes Versepos „Die Geheimnisse“

  1. Hiltrud Hornung schreibt:

    wunderbare Gedanken zu Ostern,die zum Nachdenken über uns anregen und zugleich viel Wissen und Weisheit vermitteln…..Danke !

  2. Ulla schreibt:

    „Nicht eine Geburt ist zum Ausgang dieses Lebens genommen, sondern ein Tod, der Tod des Christus am Kreuze von Golgatha, und dieses Leben hat zum Symbol das heilige Blut, das dahinfloß. Deshalb haben wir das tote Pflanzliche, das vertrocknete Holz, und an ihm sprießend die lebenden roten Rosen im Rosenkreuz vereint.“ R.St. GA266/1

    „Was ist er Mensch, warum kann er sein Leben umsonst, und nicht für einen Bessern geben?“

    Ich sehe nicht, dass in Goethe’s Text steht, dass der Mensch umsonst gelebt hat…ich denke vielmehr, der Christus hat sein Leben für die Menschheit gegeben, das Opfer bestand darin, dass er Mensch geworden ist. Insofern hat er sein Leben nicht „umsonst“ gegeben…
    Der Mensch, dessen „Schuld“ der Christus noch auf sich nimmt, opfert sich nicht für einen Bessern…insofern kann er sein Leben umsonst geben.

    • Warum sollte in Goethes sich finden, dass der Mensch umsonst lebt?
      Wenn da steht:
      „Aus der Sicht des großen Alten aus Weimar gibt es ein Leben, das umsonst gelebt wird.“, dann bezieht sich diese Aussage doch auf die Wirklichkeit unserer Gesellschaft damals wie heute, dass Menschen ihr Leben umsonst leben, weil sie die Bedeutung Golgathas nicht erkennen; das ist doch keine Aussage, die sich auf den Text bezieht, sondern die einem Bewusstsein von den „Geheimnissen“ leider in unserer Wirklichkeit so allfällig gegenübersteht.
      Goethe schrieb doch genau deshalb Werke wie den „Faust“, sein „Märchen“ oder auch „Die Geheimnisse“, um die Bedeutung des „Ewig Weiblichen“ zu vermitteln, wie man also sinn-voll lebt!
      Dass Menschen eben auch anders leben, darum wusste Goethe. – Auf dieses Wissen nimmt der Satz Bezug.

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