Michael Ende: Das Märchen vom Zauberspiegel

Kaum jemand, der MOMO gelesen hat, kennt dieses Märchen, obwohl es darin vorkommt. Aber das ist leicht nachvollziehbar, denn es finden sich bis dahin einige Geschichten, die Michael Ende mit scheinbar leichter Hand eingestreut hat, z.B. die Geschichte vom Ewigen Taifun, von dem Tyrannen Marxentius Communus und dem neuen Globus oder auch von der Kaiserin Strapazia und dem Wal; und dann ist dieses Buch so voller Bilder und sprüht von Ideen, dass man diese Geschichte schon überlesen kann.

Aber sie ist wunderschön und wert, ganz besondere Beachtung zu finden.

In unserem Wort Märchen steckt ja das mittelhochdeutsche mar, das Kunde bedeutet.

So ver-künd-et dieses Märchen auch eine besondere Weisheit. Es handelt u.a. von dem Opfer, das eine Frau bringt, um ihren Frosch, ihren verwunschenen Prinzen zu finden. Sie findet ihn nicht im Himmel, sie kann ihn nur auf der Erde finden. So kommt sie für ihn zur Erde.

Prinzessin Momo trägt auch das Ewig-Weibliche in sich.

In all dem verbergen sich die Weisheiten dieses Märchens und ich glaube, es hat für unsere Zeit eine ganz besonders große Bedeutung.

♥ ♥ ♥ ♥ ♥ ♥ ♥

. Stuttgart, Wien Bern 1993, S. 49ff

„Erzählst du mir ein Märchen?“, bat Momo leise.

„Gut“, sagte Gigi, „von wem soll es handeln?“

„Von Momo und Girolamo am liebsten“, antwortete Momo.

Gigi überlegte ein wenig und fragte dann: „Und wie soll es heißen?“

„Vielleicht – das Märchen vom Zauberspiegel?“

Gigi nickte nachdenklich. „Das hört sich gut an. Wir wollen sehen, wie es geht.“

Er legte Momo einen Arm um die Schulter und fing an:„Es war einmal eine schöne Prinzessin mit Namen Momo, die ging in Samt und Seide und wohnte hoch über der Welt auf einem schneebedeckten Berggipfel in einem Schloss aus buntem Glas.

Sie hatte alles, was man sich nur wünschen kann, sie aß nur die feinsten Speisen und trank den süßesten Wein. Sie schlief auf seidenen Kissen und saß auf Stühlen aus Elfenbein. Sie hatte alles – aber sie war ganz allein.

Alles um sie herum, ihre Dienerschaft, ihre Kammerfrauen, ihre Hunde und Katzen und Vögel, sogar ihre Blumen, alles das waren nur Spiegelbilder.

Prinzessin Momo hatte nämlich einen Zauberspiegel, der war groß und rund und aus feinstem Silber. Den schickte sie jeden Tag und jede Nacht in die Welt hinaus. Und der große Spiegel schwebte dahin über Länder und Meere, über Städte und Felder. Die Leute, die ihn sahen, wunderten sich kein bisschen darüber, sie sagten einfach:„Das ist der Mond.“

Und jedes Mal, wenn der Zauberspiegel zurückkam, dann schüttete er vor der Prinzessin alle Spiegelbilder aus, die er auf seiner Reise eingefangen hatte. Es waren schöne und hässliche, interessante und langweilige, wie es eben gerade kam. Die Prinzessin suchte sich diejenigen aus, die ihr gefielen und die anderen warf sie einfach in einen Bach. Und viel schneller, als du denken kannst, huschten die freigelassenen Spiegelbilder zurück durch die Gewässer der Erde zu ihren Eigentümern. Daher kommt es, dass einem das eigene Spiegelbild entgegenblickt, sooft man sich über einen Brunnen oder eine Pfütze beugt.

Nun habe ich noch vergessen zu sagen, dass Prinzessin Momo unsterblich war. Sie hatte nämlich noch nie sich selbst in dem Zauberspiegel gesehen. Denn wer sein eigenes Spiegelbild darin erblickte, der wurde davon sterblich. Das wusste Prinzessin Momo sehr wohl und deshalb tat sie es nicht.

So lebte sie also mit all ihren vielen Spiegelbildern, spielte mit ihnen und war soweit ganz zufrieden.

Eines Tages geschah es jedoch, dass der Zauberspiegel ihr ein Bild mitbrachte, das ihr mehr bedeutete als alle anderen. Es war das Spiegelbild eines jungen Prinzen. Als sie es erblickt hatte, bekam sie so große Sehnsucht nach ihm, dass sie unbedingt zu ihm wollte. Aber wie sollte sie das anfangen? Sie wusste ja weder, wo er wohnte noch, wer er war, und sie kannte noch nicht einmal seinen Namen.

Da sie sich keinen anderen Rat wusste, beschloss sie, nun doch in den Zauberspiegel zu blicken. Denn sie dachte: Vielleicht kann der Spiegel mein Bild zu dem Prinzen bringen. Vielleicht blickt der gerade zufällig in die Höhe, wenn der Spiegel am Himmel dahinschwebt und dann sieht er mein Bild. Vielleicht folgt er dem Spiegel auf seinem Weg und findet mich hier.

Nun schaute sie also lange in den Zauberspiegel und schickte ihn mit ihrem Bild über die Welt. Aber dadurch war sie nun natürlich sterblich geworden.

Du wirst gleich hören, wie es ihr weiter erging, jetzt muss ich dir aber zuerst von dem Prinzen erzählen.

Dieser Prinz hieß Girolamo und herrschte über ein großes Reich, das er sich selbst erschaffen hatte. Und wo war dieses Reich? Es war nicht im Gestern und es war nicht im Heute, sondern es lag immer einen Tag in der Zukunft. Und darum hieß es Morgen-Land. Und alle Leute, die dort wohnten, liebten und bewunderten den Prinzen. Eines Tages nun sagten die Minister zu dem Prinzen des Morgen-Landes:„Majestät, Ihr müsst heiraten, denn das gehört sich so.“

Prinz Girolamo hatte nichts dagegen einzuwenden und so wurden die schönsten jungen Damen des Morgen-Landes in den Palast gebracht, damit er sich eine aussuchen konnte. Sie alle hatten sich so schön gemacht, wie sie nur konnten, denn jede wollte ihn natürlich haben. Unter den Mädchen hatte sich aber auch eine böse Fee in den Palast eingeschlichen, die hatte kein rotes, warmes Blut in den Adern, sondern grünes und kaltes. Das sah man ihr freilich nicht an, denn sie hatte sich außerordentlich kunstvoll geschminkt.

Als nun der Prinz des Morgen-Landes in den großen goldenen Thronsaal trat, um seine Wahl zu treffen, da flüsterte sie rasch einen Zauberspruch und nun sah der arme Girolamo nur noch sie und sonst keine. Und sie kam ihm so wunderschön vor, dass er sie auf der Stelle fragte, ob sie seine Frau werden wolle.

„Gern“, zischelte die böse Fee, „aber ich habe eine Bedingung.“

„Ich werde sie erfüllen“, versetzte Prinz Girolamo unbedacht.

„Gut“, antwortete die böse Fee und lächelte so süß, dass dem unglücklichen Prinzen ganz schwindelig wurde; „du darfst ein Jahr lang nicht zu dem schwebenden Silberspiegel hinaufschauen. Tust du es aber doch, so musst du auf der Stelle alles vergessen, was dein ist. Du musst vergessen, wer du in Wirklichkeit bist und du musst ins Heute-Land, wo niemand dich kennt, und dort musst du als ein armer unbekannter Schlucker leben. Bist du damit einverstanden?“

„Wenn es nur das ist!“, rief Prinz Girolamo. „Die Bedingung ist leicht!“

Was war nun inzwischen mit Prinzessin Momo geschehen?

Sie hatte gewartet und gewartet, aber der Prinz war nicht gekommen. Da beschloss sie, selbst in die Welt hinauszugehen, um ihn zu suchen. Sie gab allen Spiegelbildern, die um sie waren, ihre Freiheit wieder. Dann ging sie ganz allein auf ihren zarten Pantöffelchen aus ihrem Schloss aus buntem Glas durch die schneebedeckten Berge in die Welt hinunter. Sie lief durch aller Herren Länder, bis sie in das Heute-Land kam. Da waren ihre Pantöffelchen durchgelaufen und sie musste barfuß gehen. Aber der Zauberspiegel mit ihrem Bild darin schwebte weiter hoch über der Welt dahin.

Eines Nachts saß Prinz Girolamo auf dem Dach seines goldenen Palastes und spielte Dame mit der Fee, die grünes, kaltes Blut hatte. Da fiel plötzlich ein winziges Tröpfchen auf des Prinzen Hand.

„Es beginnt zu regnen“, sagte die Fee mit dem grünen Blut.

„Nein“, antwortete der Prinz, „das kann nicht sein, denn es ist keine Wolke am Himmel.“

Und er blickte hinauf und schaute mitten in den großen, silbernen Zauberspiegel, der dort oben schwebte. Da sah er das Bild der Prinzessin Momo und bemerkte, dass sie weinte und dass eine ihrer Tränen auf seine Hand gefallen war. Und im gleichen Augenblick erkannte er, dass die Fee ihn getäuscht hatte, dass sie nicht wirklich schön war und nur grünes, kaltes Blut in ihren Adern hatte. Prinzessin Momo war es, die er in Wirklichkeit liebte.

„Nun hast du dein Versprechen gebrochen“, sagte die grüne Fee und ihr Gesicht verzerrte sich, dass es dem einer Schlange glich, „und nun musst du mir bezahlen!“

Mit ihren grünen langen Fingern griff sie Prinz Girolamo, der wie erstarrt sitzen bleiben musste, in die Brust und machte einen Knoten in sein Herz. Und im gleichen Augenblick vergaß er, dass er der Prinz des Morgen-Landes war. Er ging aus seinem Schloss und seinem Reich wie ein Dieb in der Nacht. Und er wanderte weit über die Welt, bis er ins Heute-Land kam, dort lebte er fortan als ein armer, unbekannter Taugenichts und nannte sich nur noch Gigi. Das einzige, was er mitgenommen hatte, war das Bild aus dem Zauberspiegel. Der war von da an leer.

Inzwischen waren auch Prinzessin Momos Kleider aus Samt und Seide ganz zerrissen. Sie trug jetzt eine alte, viel zu große Männerjacke und einen Rock aus bunten Flicken. Und sie wohnte in einer alten Ruine. Hier begegneten sich die beiden eines schönen Tages. Aber Prinzessin Momo erkannte den Prinzen aus dem Morgen-Land nicht, denn er war ja nur ein armer Schlucker. Und auch Gigi erkannte die Prinzessin nicht, denn wie eine Prinzessin sah sie eigentlich nicht mehr aus. Aber in ihrem gemeinsamen Unglück freundeten sich die beiden miteinander an und trösteten sich gegenseitig.

Eines Abends, als wieder der silberne Zauberspiegel, der nun leer war, am Himmel dahinschwebte, holte Gigi das Spiegelbild hervor und zeigte es Momo. Es war schon sehr zerknittert und verwischt, aber die Prinzessin erkannte doch sofort, dass es ihr eigenes Bild war, das sie damals ausgeschickt hatte. Und nun erkannte sie auch unter der Maske des armen Schluckers Gigi den Prinzen Girolamo, den sie immer gesucht hatte und für den sie sterblich geworden war. Und sie erzählte ihm alles.

Aber Gigi schüttelte traurig den Kopf und sagte:„Ich kann nichts von dem verstehen, was du sagst, denn in meinem Herzen ist ein Knoten und deshalb kann ich mich an nichts erinnern.“

Da griff Prinzessin Momo in seine Brust und löste ganz leicht den Knoten seines Herzens auf. Und nun wusste Prinz Girolamo plötzlich wieder, wer er war und wo er hingehörte. Er nahm die Prinzessin bei der Hand und ging mit ihr weit fort – in die Ferne, wo das Morgen-Land liegt.

Nachdem Gigi geendet hatte, schwiegen sie beide ein Weilchen, dann fragte Momo:„Und sind sie später Mann und Frau geworden?“

„Ich glaube schon“, sagte Gigi, „- später.“

„Und sind sie inzwischen gestorben?“

„Nein“, sagte Gigi bestimmt, „das weiß ich zufällig genau. Der Zauberspiegel machte einen nur sterblich, wenn man allein hineinblickte. Schaute man aber zu zweit hinein, dann wurde man wieder unsterblich. Und das haben die beiden getan.“

.

Dieser Beitrag wurde unter Fülle des Lebens, Liebe, Mann und Frau, Märchen, Seelenpartner abgelegt und mit , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Michael Ende: Das Märchen vom Zauberspiegel

  1. Der folgende Schluß gehört unbedingt dazu:

    „Groß und silbern stand der Mond über den schwarzen Pinien und ließ die alten Steine der Ruine geheimnisvoll glänzen. Momo und Gigi saßen still nebeneinander und blickten lange zu ihm hinauf, und sie fühlten ganz deutlich, daß sie für die Dauer dieses Augenblicks beide unsterblich waren.“

  2. Das Märchen legt nahe, dass Gigi und Momo nicht nur für den Augenblick unsterblich sind.
    Ich glaube, wenn Momo diese Prinzessin für Gigi ist, dann sind sie es auch, auch wenn sie sich in dem Roman für eine ganze Weile verlieren … aber das ist das Schicksal der Liebenden; so ging es Siegfried und Brünhilde und vielen, vielleicht allen Liebenden der Weltgeschichte, dass sie ihren Seelenpartner verlieren und suchen … ich habe ja auf diesem Blog einiges dazu geschrieben.
    Ich glaube, Michael Ende hat es auch so gemeint wie im Märchen. Vielleicht hat er sich nicht getraut, diese große Wahrheit auf die beiden anzuwenden oder wollte auch seinen Lesern nicht zu viel zumuten. – Vielleicht liege ich auch völlig daneben …
    Jedenfalls habe ich die letzten beiden Sätze deshalb weggelassen, weil ich diese große Wahrheit nicht reduziert sehen wollte …
    Aber nun sind sie ja auf diese Weise hinzugefügt … und dann ist es auch gut …

    Danke jedenfalls fürs aufmerksame Mitlesen!

Hinterlasse einen Kommentar