„Wie eines Kristalles Tiefe“ – Über das Wagnis der Liebe in Rainer Maria Rilkes „Die Liebende“

Selten hat man nach dem Lesen eines Gedichtes von Rainer Maria Rilke das Gefühl, man habe es wirklich erfasst. Oft lässt es einen in einem eigenartigen Schwebezustand zurück. Von einem solchen ist in diesem Gedicht die Rede und zwar an einer Stelle, die die ganze Formkunst Rilkes offenbart, denn: „Die Liebende“ besteht aus fünf Strophen zu je vier Versen, Versen, die in Kreuzreimen miteinander verwoben sind. Nur eine Ausnahme gibt es, gleich in der ersten Strophe: In deren drittem Vers finden wir eine sogenannte Waise, einen Vers, eine Zeile, die keinen Reimbezug hat:.

Ich dachte, ich würde schweben.

Somit ist die erste Strophe die einzige, die fünf Verse umfasst. Die Liebende, eine Frau, deren Namen wir nicht kennen, ist soeben aufgewacht. Sie sieht ihr Fenster und weiß in diesem Moment des Aufwachens, diesem Moment der ersten Gedanken, dass es bereits eine Vergangenheit gibt: Ich dachte formuliert sie, und sie fährt fort mit dem Konjunktiv, indem sie ihr Denken wiedergibt:

.ich würde schwebe..

Auch wenn die Zeitwahl des Präteritums, der Vergangenheitsform in Ich dachte das nahelegt, zeigen die folgenden Worte: Etwas in ihr schwebt immer noch, sie würde sonst nicht die zweite und dritte Strophe mit einem Ich könnte beginnen, einer Verbform im Konjunktiv II, die  eine gedachte Möglichkeit an der Grenze zur Verwirklichung nahelegt. Auch das Adverb vielleicht wiederholt sich und auch dieses suggeriert ja, dass etwas in der Schwebe ist:.

Den ich vielleicht  zu lieben
vielleicht zu halten begann.

.Wir sehen, da ist einiges in der Schwebe, ist möglich, ist angedacht, und das mehr als nur zufällig, das zeigen die erwähnten bewussten Wiederholungen, zudem: Auch das Wörtchen so wird anaphorisch wieder aufgenommen: so gern, so groß. Bevor wir uns dem zuwenden, was so gern, so groß ist, lassen wir zunächst einmal das ganze Gedicht auf uns wirken:

Rainer Maria Rilke
Die Liebende

Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?.

Ich könnte meinen, alles
wäre noch ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.

Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir; so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los,

den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie nie beschrieben
sieht mich mein Schicksal an.

Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt.

rufend zugleich und bange,
dass einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.

            (1907)

.Fast will es mir scheinen, als seien das Fenster, von dem die Rede ist, ihre Augen. Augen sind ja auch ein Fenster, ein Fenster zum Außen.  Doch im Fall der Liebenden ist es keine Grenze, denn auch ihr Ich scheint keine Grenze zu kennen, traut sie sich doch zu, die Sterne in sich zu fassen.

Als Leser jedenfalls traue ich es ihr intuitiv zu: Diese Liebende, die sich unter die Unendlichkeit gelegt fühlt, scheint auch mir unendlich. Eine solche kosmische Dimension, wie sie hier durch das Einbeziehen der Sterne vorliegt, finden wir ja immer wieder in Gedichten, in denen es um Liebe geht. sei es bei Mörike, bei Goethe, bei Hölderlin. Ja, wer hört nicht Max Frischs Stimme:

Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren …

Ja, das Herz der Liebenden hat kosmische Dimensionen, es umfasst die Sterne; jeder Leser glaubt das der Liebenden, und man mag den Konjunktiv II des „Ich könnte“ gar nicht recht ernst nehmen. Alles wird bereits hier zum  berühmten Weltinnenraum, in dem innen und außen verschmelzen, von dem Rilke erst sieben Jahre später schreiben wird:.

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch …

Hier gibt es kein innen und außen, alles ist  e i n  Raum. Doch diese Hochzeit von Himmel und Erde, von innen und außen, diese Auflösung unseres polaren Seins findet ein jähes Ende. Und markanter könnte dies gar nicht zum Ausdruck kommen als durch das letzte Wort dieses Gedichtes:

bestimmt

Ruht nicht die Liebende ganz in sich, wenn sie sich als unter diese Unendlichkeit gelegt empfindet, wenn sie sich als duftende Wiese empfindet? Welch schönes Bild … und sanft wird sie hin und her bewegt … Da will dieser Schluss gar nicht passen, dieses harte bestimmt, dieses Wort Untergang.

Gerade auf dem Hintergrund dieses Schlusses wird deutlich, warum es die vielen Konjunktive gibt, warum es das wiederholte vielleicht gibt und  diesen untergründigen Sog des ganzen Gedichtes auf den Schluss hin. Es wird deutlich, warum dieses wunderbare Bild eines Kristalls, der durchsichtig ist, noch in der Tiefe durchsichtig sein will, begrenzt wird durch die Worte verdunkelt, stumm. Kann es sein, dass Rilke zu spüren glaubt, dass, indem ein Anderer den Ruf vernimmt, dieser wunderbare Schwebezustand, den nur die Liebe schenken kann, endet? Warum sonst sollte seine Liebende äußern:

.so gerne / Ließ es {ihr Herz} ihn wieder los

Ist auch hier wieder jene Stelle aus einem anderen Gedicht von Rilke ein Schlüssel zu einer heimlichen Angst der liebenden Frau – oder sollen wir besser sagen: des weiblichen Teils von Rilke, seiner Anima:

Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.
– – – – –
Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist du´s, dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest..

Von halten ist ja auch in Strophe 3 die Rede. Ist es also die Sorge um ein mögliches beginnendes Halten des Anderen, das Rilke umtreibt, eine Sorge, die wir ja auch in Max Frischs Tagebucheintrag fanden und finden?

Und etwas anderes kommt hinzu: Liebe ist auch ein Untergehen. – Ein Untergehen in einem Andern, Ist sie das?
Ist sie ein Untergehen?
Oder ist sie ein Aufgehen in einem Andern?

Ein Auflösen des eigenen Ichs in einem Andern – durch die Liebe? So möchte vielleicht Johannes Klinkmüller formulieren. – Rilke formuliert als Liebende so nicht! Er wählt andere Worte – und mit diesen leise irritierenden Worten lässt er uns in uns untergehen, vielleicht, damit wir auch einmal in einem Anderen untergehen können, in die durchsichtige und doch dunkle Tiefe eines Kristalls.

Manchmal müssen wir zulassen, dass uns unser Schicksal fremd ansieht. Nicht von ungefähr finden wir diese Formulierung ebenfalls in der Mitte des Gedichtes. Wir wollen es ja immer gern einvernehmen, unser Schicksal, damit es alles Irritierende verliert. Doch Rilke hat den Mut, in Gestalt seiner Liebenden, dem Kristall eine verdunkelte, stumme Seite zuzugestehen, er hat den Mut, seine Liebende erkennen zu lassen, dass ihr Schicksal sie fremd ansieht.

Momentan ist dies für mich das Wichtigste dieses „Liebes“-Gedichtes: Es gehört Mut dazu und es ist ein Wagnis zuzulassen, dass uns unser Schicksal fremd ansieht.

Vielleicht ist das immer zu Beginn einer Liebe so – ohne dass wir es merken …

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