Ein Leben zu führen, das zu wahrer Wirklichkeit vordringt, vermag uns Goethe in „Eins und alles“ zu lehren.

Zunächst gilt es zu sagen, dass man sich nicht von den ersten beiden Strophen des wahrscheinlich 1821 vollendeten Gedichtes irritieren lassen sollte, klingen sie doch ziemlich esoterisch abgehoben, wenn die Weltseele beschworen und, mit dem Weltgeist zu ringen, als höchst erstrebenswert dargestellt wird; auch gestaltet kaum jemand  sein Leben unter der Prämisse: Sich aufzugeben ist Genuß. – Doch versteht man den tiefen Ernst dieser Strophen erst wirklich, wenn man nachzuvollziehen vermag, was die dritte und vierte Strophe übermitteln; wer sie nicht beherzigt, läuft Gefahr, inmitten der großen Schar derer mitzugehen, die wie Lemminge auf den Tod zulaufen, ohne begriffen zu haben, wie wertvoll das Leben ist und wie groß unsere Verantwortung ihm gegenüber.

Hier jedoch zunächst die in zumeist vierhebigen Jamben geschriebenen Verse, die sich in der Goethe-Ausgabe letzter Hand unter dem Thema Gott und Welt zusammen mit anderen Gedichten finden:

Eins und Alles

Im Grenzenlosen sich zu finden,                    
Wird gern der Einzelne verschwinden,     
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,        
Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen                 
Sich aufzugeben ist Genuß.

Weltseele, komm‘ uns zu durchdringen!             
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen     
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.                       
Teilnehmend führen gute Geister,                      
Gelinde leitend, höchste Meister,                  
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich’s nicht zum Starren waffne,     
Wirkt ewiges lebend’ges Tun.                       
Und was nicht war, nun will es werden     
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht’s Momente still.                   
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,        
Wenn es im Sein beharren will.                              
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Goethe schrieb dieses Gedicht, als er annähernd 72 Jahre alt und mit gehöriger Altersweisheit ausgestattet war. Sie spürt man diesem Gedicht auch an, das – ganz anders ist es im Vermächtnis altpersischen Glaubens – an keiner Stelle ins Detail geht, sondern den Zusammenhang sehen will und die Verbindung von Gegensätzen, die sogenannte conjunctio oppositorum, deren Bedeutung Menschen für ihr Leben meist zu wenig zur Kenntnis nehmen – vielleicht auch in diesem Gedicht, schließlich stellt sich gleich zu Beginn die Frage, wie man sich ausgerechnet im Grenzenlosen finden können soll.

In der Tat versteht man das nur, wenn man weiß, welche große Bedeutung dem in der dritten Strophe angesprochenen umzuschaffen das Geschaffne zukommt.

Wenn wir auf die Erde sehen, so nehmen wir wahr, wie die Menschheit im Grunde diesen Planeten umschafft. Explosionsartig haben sich in den letzten Jahrzehnten Gebäude und Bauwerke vermehrt, erbaut dadurch, dass Menschen auf der einen Seite die vorhandenen Materialien der Erde verwendeten, also Steine beispielsweise mittels Zement, also Kalkstein, vermischt mit Ton und Wasser, genommen, und an anderer Stelle daraus Bauwerke, sprich Brücken, Freibäder, Hochhäuser, Fußballstadien gebaut haben oder aber mittels Asphalt, also aus Erdöl gewonnenem Bitumen, vermischt mit Gesteinskörnungen, die Landschaft völlig veränderten. Der Mensch begradigte Flussläufe – mittlerweile renaturiert er sie wieder – und gewann und gewinnt dem Meer Land ab, baut Schiffe aus Stahl und Kraftfahrzeuge aus Blech bzw. Aluminium, also aus Materialien, deren Grundsubstanzen ihm die Erde liefert.

Soll sich der Mensch tatsächlich so regen, schaffend handeln? Ja, sagt Goethe, gewiss doch, aber in einem Geiste, wie ihn das Vermächtnis altpersischen Glaubens vermittelt, indem er in allem eine höhere Ebene erkennt. Auf diesem Hintergrund hätte der Mensch die Aufgabe, sein Schaffen auszurichten an ethisch-religiösen Maßstäben, was er weitgehend nicht tut. Für viele hundert Millionen Euro z.B. sind in Russland zur gerade zu Ende gegangenen Fußballweltmeisterschaft Stadien gebaut worden, deren nachhaltige Nutzung nicht gegeben ist, ja, in einem Falle überlegt man sich bereits, ein gebautes Stadion gleich wieder abzureißen, weil das auf Dauer kostengünstiger wäre als sein Unterhalt, zumal es in dieser Region niemand braucht.

Wir denken auch an die vielen Naturflächen, die für Olympische Spiele zubetoniert wurden, um Wettkämpfe durchführen, Zuschauen ermöglichen und Zufahrtswege bauen zu können; heute wissen wir, dass viele Wettkampfstätten verfallen – das nützt der geschändeten Natur nichts mehr.

Was der Mensch hier tut, ist in höchstem Maße verantwortungslos. Erst spätere Zeiten werden das Ausmaß dieser Unmenschlichkeit erkennen, denn sie geschieht auf Kosten derer, die Brunnen bräuchten, Landmaschinen, Krankenhäuser und Straßen, um ihr Überleben zu sichern, von einem menschenwürdigen Dasein ganz zu schweigen.

Grundsätzlich gehört es zur Aufgabe des Menschen, das Vorhandene zu verwandeln, auch übrigens dadurch, dass er es mit seinem Geist durchdringt. Nicht nur auf der physischen Ebene ist er gehalten zu schaffen und zu verwandeln, sondern auch auf der mental-seelischen, denn indem er Dinge versteht, schafft er auch Raum dem Geist, schafft und schöpft.

In der derzeitigen Phase der Menschheit ist der Mensch nicht zu verantwortlichem Tun in der Lage, überwiegend jedenfalls nicht. Das wird irgendwann seine Konsequenzen haben, wie es schon am Ende von Lemurien und Atlantis Konsequenzen hatte, da bin ich sicher, zu sehr driftet die Menschheit auseinander. Einige sind auf dem richtigen Weg, nicht nur spirituell, auch ökologisch, städtische Flächen beispielsweise werden begrünt, zum Teil sogar auf Hausdächern, Flüsse werden rekultiviert und Landschaften renaturiert. Doch die großen Konzerne sorgen weiter in gigantischem Ausmaß für das Abholzen der Regenwälder, inzwischen sogar für das Vermarkten von Wasser, und allein die Tatsache, in welch kurzer Zeit der Mensch den Orbit, die Erdumlaufbahn also, durch Raumfahrtmüll verdreckte, so dass von herumfliegenden Trümmern mittlerweile die größte Gefahr für die Raumfahrt ausgeht, zeigt, wie wenig der Mensch ein vorausschauendes Bewusstsein bereit ist einzusetzen; dazu in der Lage wäre er.

Stillstehen kann der Mensch nicht, es entspricht nicht seinem Wesen. Wenn er es tut, bleibt er nicht nur stehen, sondern fällt zurück. Man sieht es am besten anhand unserer politischen Kultur. Besonders aufgefallen ist mir das, als ich noch auf der Blogzeitung Freie Welt schrieb. Vor neun Jahren hatte ich dort auf Einladung der Redaktion hin angefangen zu schreiben; damals war die Plattform noch liberal orientiert. In den letzten Jahren wandte sich dieses Forum mehr und mehr der AfD zu, wird sie doch betrieben von dem Mann der Beatrix von Storch. Zunächst überlegte ich mir, ob ich mein Schreiben dort einstellen sollte, doch ich tat es aus dem Grund nicht, weil ich es unmöglich fand, wie in der Öffentlichkeit und den Medien mit der AfD und ihren Wählern umgegangen wurde. Klar gibt es in ihr Kräfte, die Inakzeptables vertraten und sich auch entsprechend verhielten, aber es galt nicht für alle, nicht für die Mehrheit (mittlerweile hat auch hier sich das Bild geändert); es machte mich betroffen, wie unisono eine doch recht breite Wählerschicht diffamiert und ins Aus gedrängt wurde. Womit ich allerdings zunehmend Schwierigkeiten hatte, war, wie destruktiv die grundsätzliche Gesinnung in den Kommentaren auf dem Forum war, wie in den Beiträgen der Redaktion zunehmend gewertet wurde. Vor allem bezüglich der Kommentare hatte ich den Eindruck, als schrieben dort vor allem ältere Menschen, die hinter sich alle Brücken abbrechen wollten oder abgebrochen sahen, eine Sichtweise, die zwar auf dem Hintergrund einer Bundesregierung, die keine Probleme löst, höchstens erst dann, wenn sie ihr auf die Füße fallen oder die Wahlchancen der Bundeskanzlerin sich mindern, nachvollziehbar sein könnte. Grundsätzlich aber muss doch bei allem gesehen werden, dass unsere Kinder eine Zukunft haben sollen und wollen und man nicht ständig so tun kann, als ginge die Welt unter oder drastisch bergab. Das stimmt zum einen nicht, zum anderen muss sich jeder Mensch nach Kräften bemühen, die Zukunft, schon den nachfolgenden Generationen zuliebe, zu sichern und ihnen Mut machen, auch durch Suchen nach konstruktiven Lösungen, gerade in schwierigen Zeiten. Da war in den Kommentaren aber ganz überweigend eine Sturheit, eine Enge, eine Halsstarrigkeit zu verspüren, die mich zunehmend betroffen machte – ich hoffe nicht, dass das für weite Teile des älteren Teils unserer Bevölkerung zutrifft. Als ich, weil ich Viktor Orbán ein wenig kritisierte, polemisch angegriffen und persönlich diffamiert wurde und jemand mein familiäres Umfeld, das er von früher her kannte, verfälschend und auf Verletzung angelegt ins Spiel brachte, stellte ich dort meine Veröffentlichungen ein. Aber die geistige Unbeweglichkeit dieser Szene macht mich noch heute betroffen. Wehe, es kritisiert jemand dort Trump oder Putin oder Orbán; es ist kein Zufall, dass den dreien seit vielen Monaten hofiert wird.

Tugenden sind für einen menschlichen Wandel unabdingbar

Es war dieser mentale Stillstand, dieses halsstarrige Verharren-Wollen auf überholten Standpunkten, dieses Zäune-ziehen-Wollen, dieses zum Starren Gewaffnet-Sein, wie Goethe schreibt (vgl. III,2). Auch nicht die geringste Empathie hatten dort die Menschen für eine nachwachsende Generation, der sie durch ihre Aussagen ständig den Boden unter den Füßen wegzogen, eine Generation, die zwar durchaus ihre Heimat liebt und – so ist meine Erfahrung mit Jugendlichen – unsere Werte hochschätzt, aber bei weitem nicht mehr so national oder nationalistisch denkt, wie das viele, vor allem offensichtlich nicht wenige ältere Menschen tun. In der Tat glaube ich, dass diese Mentalität für die allermeisten AfD-Wähler gilt und dass sie dieses Verharren auf dem Status quo, das Negieren dessen, was zum Lebendig-Sein gehört, die blockierte Wandlung, zu ihrer Maxime erhoben haben. Dabei gibt es Werte, die überdauernd sind und wertvolle Tugenden, wie sie, auf einem Brackenseil eingraviert, im Parzival und den Titurel-Fragmenten des Wolfram von Eschenbach zu finden sind. Doch sichern sie nicht den Stillstand, sondern einen menschenwürdigen Wandel. Gewiss wird sich die Welt in den nächsten dreißig Jahren unglaublich verändern. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber einer Globalisierung, die nur in wirtschaftlichen und Handelskategorien denkt, gibt es offensichtlich eine Menschheitsbewegung über nationale und kontinentale Grenzen hinweg, die vor allem von Jüngeren getragen wird; diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten, genauso wenig, wie die ehemals reine Stammesehe nicht aufzuhalten war und die Fernehe heute längst normal ist (zu Hölderlins Zeiten weinte dessen Mutter noch, als er von Nürtingen nach Tübingen aufbrach, das waren zwanzig Kilometer und es gab einen Riesenabschied und das ist gerade mal etwas über 200 Jahre her – heute reist man und heiratet über Kontinente hinweg, wie selbstverständlich).

Es geht darum, sein Dasein zu gestalten und zu Verwandlung bereit zu sein. Menschen tun das weitgehend im Moment nur hinsichtlich des Ökonomischen und wenn Menschliches eine Rolle spielt, dann, wenn Ökonomisches beeinträchtigt werden könnte. Immer größer aber wird auch die Zahl derer, die aus Menschenliebe Dinge in Bewegung setzen.

Das Ewige steht nicht still; Ewiges ist lebendiges Tun, schreibt Goethe im dritten Vers der dritten Strophe. Der große Alte lebte ein Leben lang entsprechend; wenn man allein seine naturwissenschaftlichen Beschäftigungen, Aufsätze und Abhandlungen zur Kenntnis nimmt, wird man gewahr, wie wertvoll es war, dass es keine Zeiträuber à la Smartphone und Internet gab, so nützlich vor allem Letzteres ist.

Tugenden sind ein Entwicklungsprogramm der Seele

Keine Frage ist für mich, dass es auch unveränderliches Ewiges gibt. Gott ist yin und yang, er ist unveränderlich und veränderlich zugleich; beides gehört zusammen. Vielleicht möchte jemand an Stelle von Gott auch lieber von Weltvernunft sprechen. Mir persönlich kommt es nicht auf die Bezeichnung an. Man kann sich diesem Bereich allerdings nur nähern, indem man zunehmend ehrfürchtiger wird. Das mag altbacken klingen, aber mit jeder Tugend, die man sich zu eigen machen kann, verändert sich die Seele, erweitert sich ihr Bewusstsein. Darin liegt das eigentlich Große der Tugenden, dass sie ein Entwicklungsprogramm der Seele darstellen. Und gewiss ist, dass Ehrfurcht einer der anspruchsvollsten und erhabensten Tugenden ist; sie hat nichts mit Unterwürfigkeit zu tun sie setzt voraus, dass man ein Bewusstsein für die Größe von Menschen oder einer Idee hat. Ebenfalls von Gott. Dann nimmt man wie von selbst von einem kumpelhaften Gott-Getue Abstand.

Nicht übersehen sollte man, dass es zu jeder Tugend einen Gegenpart gibt, sowie es zur christlichen Trinität auch eine unheilige kosmische Trinität gibt. Doch um das Bewusstsein der Menschen auf ein ethisches Niedrigniveau zu dimmen, bedarf es nicht unbedingt einmal starker geistiger Gegenkräfte; es scheint heute fast so, dass manche Seelen nur darauf warten, dem Dunkeln anheimfallen zu können.

Was fruchtbar ist allein ist wahr  (aus Goethes Vermächtnis)

Wenn aber etwas wirklich, worauf in den Schlusszeilen verwiesen wird, im Sein verharren will – warum muss es in Nichts zerfallen?

Für viele Menschen ist das Nicht-Leben, also der Tod, das Nichts. In Wirklichkeit gehört er zum Leben, denn es folgt das Leben nach dem Leben mit Umwandlungsprozessen – wir entnehmen das den ägyptischen und tibetanischen Totenbüchern -, wie wir sie aus dem irdischen Leben kennen.

Manche – ich gehöre zu ihnen – mögen auch annehmen, dass es ein Pralaya gibt, wie es die hinduistische Religiosität beschreibt, ein Nichts, wenn man so will, zwischen den Erdzeitaltern, eine Art Atemholen ohne wahrnehmbaren Atem. Pralaya kommt aus dem Sanskrit; Laya bedeutet Auflösung, pra wird übersetzt mit nach vorne. Pralaya bezieht sich auf eine Auflösung des Universums, das in dieser Vorstellung durch Phasen von Schöpfung, Erhaltung und Auflösung geht. – Es ist jener Prozess, dem Goethe für unsere mikrokosmischen Ebene in seinem Gedicht Selige Sehnsucht ein lyrisches Denkmal gesetzt hat. Zwischen seinem Stirb und Werde ist kosmische Stille, Pralaya.

Wenn dem so ist, mag auch zwischen den biblischen Schöpfungstagen, von denen ich annehme, dass sie keinesfalls vorbei sind, sondern wir uns möglicherweise in ihrer Mitte befinden, ein Pralaya stattfinden. Ich jedenfalls mag nicht annehmen, dass der Mensch am Ende seiner Entwicklung angekommen ist; die Krone der Schöpfung lässt sich bei den allerallermeisten bei weitem nicht erkennen und ich selbst betrachte mich als weit von ihr entfernt. Warum ich annehme, dass wir uns ungefähr in der Mitte dieses gesamten riesigen Zyklus befinden, liegt für mich in meiner Einschätzung hinsichtlich des Christus-Ereignisses; es ist für mich die Mitte der Welt, kennzeichnet die Mitte des Weges.

„Die Idee ist ewig und einzig.“  (Goethe, „Sprüche in Prosa“)

Warum die Menschheit so mit dem Anerkennen geistiger Ebenen, die auf unser Leben einwirken, Schwierigkeiten hat, liegt für mich auch daran, dass es gelungen ist, die Welt der Erfahrungen und die Welt der Ideen, die nach Platon die Grundlage des spirituellen Seins sind, zu trennen. Platonische Ideen sind beispielsweise „das Schöne an sich“, „das Gerechte an sich“, „der Kreis an sich“ oder „der Mensch an sich“. Für Platon sind Ideen eigene Entitäten, also Wesenheiten, die  unser Leben unmittelbar beeinflussen sollten. Den Menschen früherer Zeiten, zumindest bis ins Mittelalter, war klar, dass jeder Stern oder Planet, den sie sahen, von geistigen Wesenheiten bewohnt war; jeder Stamm hatte seine Gottheit, jedes Haus bei den Römern seine Hausgötter, Penaten genannt, das Meer gehörte Poseidon und seinen Gehilfen, ein Hain war einer Gottheit geweiht, oft davon abhängig, welche Bäume dort wuchsen, weshalb Ibykus in Schillers Ballade mit frommem Schaudern in einen Fichtenhain eintritt. In dieser spirituellen Realität hätte auch jeder Stamm, jede Nation – die Bibel kennt übrigens Völkerengel – eine Gottheit bzw. eine Engelwesenheit gehabt, ja selbst jede Partei oder eine Institution wie die UNO; bei Parteien wären es wohl zum Teil wenig lichtvolle Wesen. Ich habe den Konjunktiv II (hätte) verwendet, da ich mir ziemlich sicher bin, dass der Einfluss der Geistigen Welt kaum mehr jemandem bewusst ist. Die meisten wissen nicht, dass Himmel, Hölle und Fegefeuer und viele andere Ebenen sich in denselben Bereichen aufhalten, wie wir das tun. Wenn kleine Kinder Angst vor dem Schwarzen Mann haben oder nicht einschlafen wollen, falls kein Licht brennt, dann wissen manche Mutter und mancher Vater nicht, dass das ganz und gar nicht unberechtigt ist, weil die Kleinen, noch jener jenseitigen Welt stark verbunden, mehr wahrnehmen als Erwachsene. Novalis, der so früh verstorbene Frühromantiker, hat das Verhältnis unserer üblichen Weltsicht und der Geisteswelt wiederholt sehr genau in seinen Blütenstaub-Fragmenten angesprochen, unter anderem wie folgt:

Das willkürlichste Vorurteil ist, dass dem Menschen das Vermögen außer sich zu sein, mit Bewusstsein jenseits der Sinne zu sein, versagt sei. Der Mensch vermag in jedem Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu sein. Ohne dies wäre er nicht Weltbürger, er wäre ein Tier. Freilich ist die Besonnenheit, Sichselbstfindung, in diesem Zustande sehr schwer, da er so unaufhörlich, so notwendig mit dem Wechsel unsrer übrigen Zustände verbunden ist. Je mehr wir uns aber dieses Zustandes bewusst zu sein vermögen, desto lebendiger, mächtiger, genügender ist die Überzeugung, die daraus entsteht; der Glaube an echte Offenbarungen des Geistes. Es ist kein Schauen, Hören, Fühlen; es ist aus allen dreien zusammengesetzt, mehr als alles Dreies: eine Empfindung unmittelbarer Gewissheit, eine Ansicht meines wahrhaftesten, eigensten Lebens.

Goethe, den man vor allem dann in seinem Tätigsein, auch seinem literarischen, versteht, wenn man die Basis seines naturwissenschaftlichen Arbeitens berücksichtigt, formuliert es auf dem Hintergrund, dass ihm sich hinter bzw. in allem eine Idee verbirgt und es unsere Aufgabe ist, in den Erscheinungen sie zu entdecken, in seinen Sprüchen in Prosa ganz ähnlich:

Wir leben in einer Zeit, wo wir uns täglich mehr angeregt fühlen, die beiden Welten, denen wir angehören, die obere und die untere, als verbunden zu betrachten, das Ideelle im Reellen anzuerkennen und unser jeweiliges Mißbehagen mit dem Endlichen durch Erhebung ins Unendliche zu beschwichtigen.

Wiederholt spricht er von der Notwendigkeit, sich, um sich mit der Welt der Ideen zu verbinden, seines Geistesauges zu bedienen. Als er sich mit der Theoria generationis des Kaspar Friedrich Wolff auseinandersetzt, der  bezüglich der Entstehung der Pflanzen Goethes eigenen Beobachtungen sehr ähnliche machte, aber nicht  zu dessen Sicht  aufschloss, schreibt unser Dichter und Naturwissenschaftler über jenen:

Deshalb ist er immer bemüht, auf die Anfänge der Lebensbildung durch mikroskopische Untersuchungen zu dringen, und so die organischen Embryonen von ihrer frühesten Erscheinung bis zur Ausbildung zu verfolgen. Wie vortrefflich diese Methode auch sei, durch die er so viel geleistet hat, so dachte der treffliche Mann doch nicht, daß es ein Unterschied sei zwischen Sehen und Sehen, daß die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät zu sehen und doch vorbeizusehen.

Mancher wird die Stelle zu Beginn des Faust II kennen, als Ariel das Aufgehen der Sonne ankündigt:

Horchet! horcht dem Sturm der Horen!
Tönend wird für Geistesohren
Schon der neue Tag geboren.

Vergleichbares gilt für jene Szene aus dem Film Stadt der Engel mit Nicolas Cage und Meg Ryan, einem Remake des Wenders-Films Der Himmel über Berlin – ob dort die folgende Szene auch vorkommt, weiß ich leider nicht -, als am Strand sich viele Engel versammeln, um wie jeden Morgen den Aufgang der Sonne und ihr Tönen zu begrüßen. Es ließen sich im Übrigen zahlreiche Stellen aus der Literatur anführen, die eine geistige Ebene mehr oder weniger deutlich thematisieren, die sich den normalen Sinnen verbirgt; dies gilt auch, Pythagoras und Kepler haben davon gewusst und darüber geschrieben, für die Welt der Töne. Nicht zuletzt ist Dantes Divina Commedia ein einziges großes Opus, das uns in jene unsichtbaren Ebenen einführt, auch in die dunklen der Hölle und des Fegefeuers, und wenn Luther nicht fast penetrant, wenn im Griechischen von den Himmeln die Rede ist, nur von einem gesprochen hätte – selbst die neu übersetzte Lutherbibel übernimmt diese Fehler unverständlicherweise -, wäre wenigstens manchem Christen klar, dass der Himmel zahlreiche Ebenen hat und dass deshalb die Hölle Gleiches aufweisen muss – wie oben so unten. Immerhin gibt es meines Wissens zwei Bücher, die aufzeigen, dass Hitler von einem Dämon besessen war, was die Geschichtsschreibung, weil sie auf dem Geistesauge blind sein will, standhaft ignoriert, wenn es auch mittlerweile sogar Fernseh-Features gibt, die sich damit beschäftigen, dass Hitlers Umfeld sehr stark dem Okkulten zugeneigt war (inhaltlich aber gehen sie noch an der eigentlichen okkulten Brisanz vorbei). Es handelt sich um ein aus der Aurobindo/Die Mutter-Ecke kommendes, durchaus lesenswertes Buch mit dem Titel Der Stern des Abgrunds und ein von Johannes Tautz aus anthroposophischer Sicht geschriebenes: Der Eingriff des Widersachers: Fragen zum okkulten Aspekt des Nationalsozialismus.

Okkulter Materialismus contra reiner Geist

Wenig bekannt sind im Übrigen die okkulten Aktivitäten eines Rainer Maria Rilke, über die Gisli Magnusson geschrieben hat, und das auf durchaus hohem germanistischen Niveau. Dennoch weigert sich die Germanistik standhaft, diese Seite des so hehren Rilke zur Kenntnis zu nehmen. Im Gegensatz zu dem ein oder anderen, der Rilkes okkulte Aktivitäten, die vor allem durch seine Verbundenheit mit der Gräfin von Thurn und Taxis (bezeichnenderweise geht der Zeitungsartikel mit keiner Silbe auf ihr okkultes Engagement ein) gefördert wurden, als harmlos einstuft, bin ich der Überzeugung, dass solche Aktivitäten keiner Seele gut tun. Man sieht und weiß im Grunde bei entsprechenden Séancen nie, mit welchem Geist man es zu tun hat und kann auf Ebenen gezogen werden, die niemandem gut tun (hier zitiere ich am Schluss des Links einen kurzen diesbezüglichen Auszug)  und von denen man unter Umständen sich kaum mehr lösen kann. Man sieht es bestens an Rilkes Gedichten Aus dem Nachlaß des Grafen C. W., die er – sich bewusst zur Verfügung stellend – als dessen Medium geschrieben hat; sie sind schlicht überwiegend dritt-  oder viertklassig, gemessen an seinen sonstigen Gedichten, sieht man von seinen sehr frühen Gedichten und jenen Christus-Visionen ab, in denen er Gottes Sohn auf höchst ungewöhnliche Weise zeigt. Ich glaube, dass Rilkes Ringen und Durchdringen-Wollen zu reineren geistigen Ebenen und seine Schwierigkeiten mit diesem Anliegen vor allem in den Duineser Elegien spürbar ist.

Goethes geistige Aktivitäten waren anderer, weil rein geistiger Natur, wiewohl sein Faust andeutet, dass der Dichter um Schwarzmagisches und um das ganze Spektrum der Gefahren weiß – man denke an die falsche Verwendung des Pentagramms im Faust I (das Pentagramma macht dir Pein), das erst Mephisopheles das Eindringen ermöglicht -, das auch einhergeht mit einer falsch verstandenen, weil dunklen Alchemie, für die der Vater des Faust steht.

Die Ursache dafür, dass bis heute die geistige Seite unserer Existenz standhaft geleugnet oder ignoriert wird, beginnt im Grunde bei Parmenides, dessen Sichtweise sich Gott sei Dank nicht durchgesetzt hat, weil sie nur zu einem Erstarren der Welt hätte führen können, und setzt sich in einer immer mehr die Getrenntheit zwischen der Welt der Ideen und der realen Welt betonenden Rezeption der Ideenlehre Platons fort, eine Sicht, die jener durchaus auch in seinem Höhlengleichnis angesprochen hat; danach muss die Welt der Sinne für den normalen Höhlen- sprich Erdenbewohner Schemen und Schein sein. Jedenfalls ist klar, dass für die meisten sogenannten Platon-Versteher eindeutig ist, dass die Ideenwelt und unsere Realität per se keine Verbindung eingehen und jeweils eigene Welten sind. Die christlichen Kirchen, u.a. Augustinus, haben diese Sicht ausgenutzt, um das Wissen um die wahre Wirklichkeit an eine göttliche Weltordnung zu delegieren. Goethe aber lehnte einen Glauben, der auf Kosten der eigenen Erfahrung und Erkenntnis geht, strikt ab. – Das ist es, was ihn vielen Christen so verdächtig macht, nur deshalb aber, weil er sie darauf aufmerksam macht, dass hinter frömmelndem Glauben Bequemlichkeit und Denkfaulheit sich verbergen können – und ich denke auch, oft tun!

Goethe tat, was man tun muss, wenn man der Welt der Erscheinungen nicht hilflos gegenüberstehen will; er ging mit produktiver Kraft auf sie zu. Weil er in der Welt der Erscheinungen, in der Natur und im Menschen einen Geist wirkend sah, wusste er, dass der Mensch das Vermögen besitzt, die Natur zu verstehen, gesetzt den Fall, er war sich seines eigenen Geistes bewusst. Wer so dem Leben gegenübertritt, auf den kommt auch jenes nicht kalt, sondern mit Wärme zu. Was den Weimarer aber so groß machte, war das Bewusstsein, dass in der Natur und der Kunst dieselben Gesetze herrschen, dass es aber dem Menschen gegeben ist, in der Kunst über die Natur hinauszugehen; das wurde ihm auf seiner Italienischen Reise bewusst. Seine Aufzeichnungen sind immer wieder Welterkenntnis. Erkennbar wird sein produktives Wirken in dem Suchen nach und schlussendlichen seinem Finden der  Urpflanze; sichtbar wird das auch im Rahmen seiner Farbenlehre und nur deshalb, weil er in allem eine Idee waltend sah, musste er sich auch der Suche nach dem Zwischenkiefernknochen so intensiv hingeben und ihn durch glückliche Fügung schlussendlich finden, als Beleg dafür, dass alles Organische, Pflanze, Tier und Mensch, einer Wurzel entspringt, im Grunde der Uridee, der Idee des Lebens, das einmal im Menschen gipfeln wird am 7. Schöpfungstag.

Wer sich annähernd so bewusst, wie dies Goethe tat, seinem realen Leben  widmet und die menschliche Aufgabe erfüllt, die physische Welt zu durchgeisten und sie so dem Göttlichen zurückzuwidmen, ist ein Individuum, das als solches sehr bewusst existiert und gleichzeitig sein Sein der ganzen Welt, ja dem Kosmos zur Verfügung stellt. Dazu muss man kein Goethe sein. Ein Krankenpfleger, der sein Tun im Sinne der Menschlichkeit ausführt, trägt genauso dazu bei, vor allem, wenn er sich im Goetheschen Sinne einer Idee in seinem Inneren hingibt, wie jener, der eine App programmiert, die das Leben alter Menschen erleichtert. Das zeichnet einen Goethe und Menschen mit sittlichem Gewissen – so würde man heute nicht mehr formulieren – aus, dass sie hinter, besser gesagt: in allem intuitiv jene Ideen suchen, die die reale Gestaltung in unserer Welt bewirken. Deshalb gibt er sich nicht mit Newtons quantitativen Aspekten der Farbenlehre zufrieden, mit Wellenlängen und Frequenzen der Farben und der Tatsache, dass sie sich aus dem Licht heraus entfalten – im Grunde einem mechanistischen Bewusstsein -, sondern er sucht nach deren Qualität, eine Qualität, die genau unserer Wahrnehmung entspricht, schließlich ist unser Auge nicht dafür geschaffen, die Farb-Frequenzen oder Wellenlängen zu erkennen, viel eher sprechen wir von einem schreienden Rot, einem himmlischen Blau, einem warmen Gelb-Ton. Goethe nahm durchaus die Ergebnisse der Newtonschen Forschungen ernst, aber sie genügten ihm nicht. Wer den Dichterfürsten wirklich kennenlernen will, muss nach seinem naturwissenschenschaftlichen Vorgehen und Wirken schauen, dass er nach dem Zustandekommen der Erscheinungen fragte, denn das Gewordene, das im Grunde abgestorben ist, gibt uns Aufschluss über das Werden und das, was werden wird. Niemals hätte er deshalb Parmenides und seiner undifferenzierten Weltsicht zustimmen können. Auf jenen geht wohl das griechische hen kai pan, was eben eins und alles bedeutet zurück. Für ihn war eins = alles. Für Goethe aber war das Leben ein ständiges Changieren zwischen diesen beiden Polen, er war Pantheist und Polytheist zugleich. Pantheist war er in seinem Grundgefühl der Natur gegenüber, Polytheist, weil er den Weltgeist in den vielen Facetten des Lebens sich verwirklichen sah. Und nur der Mensch ist in der Lage, diese Tatsache offenzulegen. Es war wohl Goethes vielleicht unausgesprochene Wahrheit, dass es des Menschen Aufgabe ist, das Wirken der Gottheit transparent zu machen. Welche Weisheit immer wieder auch der Faust enthält, zeigt sich in der Aussage des Erdgeistes:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Dessen Aussage gilt auch für das Tun des Menschen.  Wer, wenn nicht der Mensch könnte solches Tun sichtbar verwirklichen?

Aufgabe des Menschen ist es offenzulegen, wie sich aufgrund einer Uridee Metamorphosen von Ideen verwirklichen. Goethe erkannte, warum es seiner Meinung nach eine Urform gab und sich Metamorphosen der Uridee bildeten, ja bilden mussten, die eben die Vielfalt unseres Seins ausmachen. Genau so ging er ja vor, dass er in den vielen Pflanzenformen deren gemeinsames Urbild suchte. All diese Formen sind grenzenlos, so wie die verschiedenen menschlichen Ausprägungen grenzenlos sind. Wer die Vielfalt göttlichen Seins durchschaut, der erst findet sich, wie es Faust zu Beginn von Faust II angesichts der aufgehenden Sonne widerfährt – mit einer Einschränkung, die auch für den, der in Platons Höhlengleichnis der Höhle entrinnt, gilt: Das ganz unmittelbare Licht kann er auf dieser Stufe des Seins nicht anschauen, wohl aber im Regenbogen den farbigen Abglanz des Urlichtes, hier also der Sonne:

Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen
Ein Flammenübermaß, wir stehn betroffen;
Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,
Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!
Ist’s Lieb‘? ist’s Haß? die glühend uns umwinden,
Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer,
So daß wir wieder nach der Erde blicken,
Zu bergen uns in jugendlichstem Schleier.
So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Ihn schau‘ ich an mit wachsendem Entzücken.
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend,
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.

Wer in die Sonne schaut, muss die Zeche für sein dreistes Vorgehen zahlen. Deshalb wird der Jüngling zu Sais in Schillers kenntnisreichem Gedicht wahnsinnig,  deshalb muss Ikarus abstürzen und so geht es Menschen, die mittels Drogen oder dunkel-okkulten Praktiken in Ebenen vordringen, für die ihre Seele nicht bereit ist. Über viele Zeitalter hinweg kann eine solche Seele Schaden nehmen. Goethe aber beweist mit seiner Urform und der Tatsache, dass er in allem die Ur-Schöpfung suchte, wie sehr ein Kant auf dem Holzweg war, indem er dem Menschen die Fähigkeit absprach, zu dem Ding an sich vorzudringen. Deutlich wird, welch unheilvolle Blockade Kant hier für die Philosophie – und eben nicht nur für sie, sondern für das Daseinsverständnis der Menschen – für die folgenden Jahrhunderte installierte.

Das eben angesprochene Verhalten der Menschen vom Schlag des Schillerschen Jünglings oder solchen, die für Drogen ihre spirituelle Gesundheit riskieren oder jenen, die auf welche Weise auch immer sich Süchten hingeben, dem Sex, der Macht, dem Mammon, findet sich beschrieben in jenen Formulierungen, die so gekonnt alliterativ verstärkt heißes Wünschen und wildes Wollen thematisieren (vgl. I,4), ständig fordernd (vgl. I,5) –  unwillkürlich denkt man an die Frau aus dem Grimm-Märchen Von dem Fischer und seiner Frau  oder den Reichen in Der Arme und der Reiche (wie modern doch Märchen immer noch sind) – ständig fordernd also oder sich Zwängen und einem Sollen-Katalog unterwerfend (vgl. I,5), wie wir es von Menschen wissen, die immer hipp sein müssen oder wie wir es auf der religiösen Ebene von einem degenerierten Pietismus kennen oder auch von Sekten wie den Zeugen Jehovas, die noch verfolgen, wer sich ihren Zwanghaftigkeiten entzieht. Goethe spricht,  lyrisch verdichtet in den Zeilen 4 und 5 der ersten Strophe ein Verhalten an, das nicht im Selbst des Menschen beheimatet ist, sondern in seinem Ego. – Wer aus seinem Ego heraus so handelt –  und man verkenne nicht, wie sehr religiöse Zwanghaftigkeiten aus einem spirituellen Ego heraus geschehen -, kann sich nicht aufgeben. In Wahrheit kann sich nur der aufgeben, wer weiß, wohin er fällt, wenn er fällt. Rilke hat in seinem Herbstgedicht dies traumhaft schön angesprochen.

Hat Goethe all dies in ganzer Konsequenz vermocht?

Mit allem Respekt vor dessen geistiger Größe sage ich: nicht ganz.

Durch die Reinheit und Qualität seines Denkens und Forschens konnte er Wege gehen, die ihn zur Urpflanze führten, zu den Ideen.

Wenn er im Faust schreibt: Gefühl ist alles, so stimmt das zwar nur bedingt, aber Goethe erfasste intuitiv wahre Gegebenheiten. Goethe spricht die Weltseele an (vgl. II,1); sie ist es, die dem Bereich des Fühlens, des kosmischen Fühlens zuzuordnen ist, doch fühlt sie nicht in erster Linie, vor allem macht sie fühlen, sie sendet ihre Energie, damit wir fühlen lernen können, sie lehrt uns fühlen. Deshalb eben schreibt Goethe: Gefühl ist alles. Fühlen ist ein Weltgefühl, das uns die Weltseele lehrt. – Allerdings: Fühlen ohne Denken führt in Gefühlsnebel, nicht in Gefühlsklarheit.

Stecken blieb Goethe jedoch auf der Stufe des Wollens und deutlich wird das ausgerechnet an dem so berühmten Satz am Ende des Faust II: Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.

So wunderbar diese Aussage ist und so sehr sie Gültigkeit haben mag für Menschen auf der Stufe unseres Bewusstseins, so sehr kann sie uns zu der Erkenntnis führen, dass die Menschheit von morgen sich von dem Ewig-Weiblichen nicht ziehen lassen wird, sondern ganz bewusst und mit eigenem Willen und Wollen in höchste himmlische Sphären vordringt. Theseus bedarf noch der Ariadne, um aus dem Labyrinth zu kommen, Dante in seiner Divina Commedia zum Schluss seiner Seelenreise noch des Ewig-Weiblichen in Gestalt der Beatric; Lukas ist auf die Liebe der Himmelsgesandten Zofia in Marc Levys Sieben Tage für die Ewigkeit angewiesen so wie der junge Prinz Girolamo auf die der Prinzessin Momo in Michael Endes wunderbarem Märchen vom Zauberspiegel. In vorchristlichen Zeiten waren selbst diese Möglichkeiten des Ewig-Weiblichen nicht gegeben, wie wir dem Schicksal von Orpheus  und Eurydike entnehmen oder dem des Siegfried, der, durch den Zaubertrank der Mutter Kriemhilds, die den Helden als Schwiegersohn wollte, vergaß, dass es Brunhilde, die er für König Gunter besiegte, war, die zu ihm gehörte –  das deutsche Nibelungenlied verschweigt das, in der Eddha allerdings sind die entsprechenden Hintergründe zu finden. So musste das Geschehen in einem grausamen Gemetzel an Etzels Hof enden, wobei die Anwesenheit Dietrich von Berns, der den blutigen Auseinandersetzungen ein Ende bereitet, eigentlich aber als christlicher Held hierher gar nicht gehört, einen Verweis gibt auf eine Zukunft, die eingebettet ist in ein richtig verstandenes Christentum, dessen spirituelle Qualität allerdings bis heute weitgehend nicht erkannt ist.

Ich habe an anderer Stelle bereits angesprochen, dass das Ewig-Weibliche nichts zu tun hat mit unserem Verständnis des Geschlechtlichen bzw. jener sich immer mehr entartenden Sexualität unserer Tage oder gar Gender-Verücktheiten, sondern dass das Weibliche in Mythen und Märchen die suchende Seele darstellt; die Sehnsucht unserer Seele und ihr Wissen um ihr Ziel ist das Ewig-Weibliche; sie zieht uns mit ihrer Sehnsucht nach oben. – Zumindest solange, bis wir einst dies selbst wollen. Dann wird sich in uns wieder vereinen, was sich trennen musste – Platon hat diese Trennung ja, genauso wie das die Bibel tut, beschrieben. Dann,,, wenn sich einstmals Getrenntes wieder vereint, wird uns Menschen bewusst sein, was Liebe ist.

Wir nennen den Geist, der sich in uns realisiert, Seele. Weltseele nennt Goethe die hinter diesem Sein waltende Idee. Wen die Weltseele durchdringt, der ringt mit dem Weltgeist. Wir dürfen nicht annehmen, dass ein plattes Demütigsein oder Hände-in-den-Schoß-Falten die angemessene menschliche Haltung sei. Wir haben den Prometheus in uns, wir haben den Kain in uns, wir haben Jakob in uns, der mit dem Engel Gottes kämpfte. Bewusstsein ergibt sich oft erst im und durch Kampf. Vielleicht schieben wir viele Leben den Stein des Sisyphos nach oben und machen einen auf Rebell, wie Camus es sieht, was nichts anderes bedeutet, als dass wir gegen uns selbst Krieg führen (re-bellum). Vielleicht wüten wir auch wie Saulus. Aber zu glauben, wir kämen durch Frömmeln in den Himmel oder dadurch, dass wir alles in Licht und Liebe zu sehen meinen wollen, ist meines Erachtens ein grandioser Irrtum. Deshalb schreibt Goethe

Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.

Das Fromm-Sein vieler Christen kommt einer Selbstverleugnung gleich. Man lernt sich nicht kennen, wenn man alles auf Gott projiziert; das ist eine selbstverächtliche Strategie, die aus Faulheit und Bequemlichkeit geboren ist oder aus fehlendem Mut. Rebell sein um des Rebellierens willen ist desgleichen der falsche Weg. Es gibt kein Rezept für richtiges Verhalten; jeder hat seine eigenen Schwächen, die er erkennen und überwinden muss. Der Weg ist, immer ehrlicher und ehrlicher, immer wahrer und wahrer zu werden.

Auf diesem Weg, wie immer er auch aussieht, sind wir jedenfalls nie verlassen (vgl. II,4ff). Auch wenn ich es einen gravierenden Fehler Hesses finde, dass er Harry Haller mit Hilfe einer Droge – Hesse mag mit dem weißen Pülverchen Hasch oder Kokain im Blick gehabt haben; die Wirkung seines Buches auf die Drogen-Szene nicht nur in Amerika war jedenfalls umwerfend – den Zugang zum Magischen Theater finden lässt, ist es kein Zufall, dass dort alte Meister wie Mozart oder Goethe auftauchen; Hesse hätte auch Paracelsus, Thomas von Aquin, Franz von Assisi oder Albrecht Dürer auftauchen lassen können und es gilt in der Tat:

Teilnehmend führen gute Geister,                       
Gelinde leitend, höchste Meister,                   
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Die Tonversetzung in Teilnehmend, also der entgegen der jambischen Betonung ganz nach vorne gezogene Akzent, vermag die Eindringlichkeit und Ernsthaftigkeit des Folgenden zu akzentuieren.

Nicht nur Meister, auch Werke wie Goethes weises Gedicht können eine Hilfe sein.

In einem Brief vom 19.3.1827 an seinen langjährigen Freund Zelter schreibt Goethe: „Wirken wir fort, bis wir, vor- oder nacheinander, vom Weltgeist berufen, in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Tätigkeiten, denen analog, in denen wir uns schon erprobt haben, nicht versagen!“

 

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