… Und im Abgrund wohnt die Wahrheit. – Schillers „Spruch des Konfuzius“: nur scheinbar konfus.

Der Spruch des Konfuzius ist ein Plädoyer Friedrich Schillers gegen alle künstliche Selbstbeschränkung aus Bequemlichkeit, gegen alles Festzurren auf einem einzigen Interpretationsmuster, das auf alles angewandt wird, ein Plädoyer gegen alles nur Linke, gegen alles nur Rechte, auch gegen die, die immer nur tief schürfen wollen:

Spruch des Konfuzius

Dreifach ist des Raumes Maß.
Rastlos, fort ohn Unterlaß
Strebt die Länge, fort ins Weite
Endlos gießet sich die Breite,
Grundlos senkt die Tiefe sich.

Dir ein Bild sind sie gegeben:
Rastlos vorwärts mußt du streben,
Nie ermüdet stille stehn,
Willst du die Vollendung sehn;
Mußt ins Breite dich entfalten,
Soll sich dir die Welt gestalten,
In die Tiefe mußt du steigen,
Soll sich dir das Wesen zeigen.

Nur Beharrung führt zum Ziel,
Nur die Fülle führt zur Klarheit,
Und im Abgrund wohnt die Wahrheit.

Was allerdings das Absteigen in die Tiefe angeht, scheint Schiller mit seiner Ballade Der Taucher doch ein Bild entworfen zu haben, das darauf hinweist, dass in die Tiefe zu gehen Grenzen hat. Scheut nicht der Jüngling vor der Tiefe zurück – und das mit Recht?

Da unten aber ist’s fürchterlich,
Und der Mensch versuche die Götter nicht
Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
Was sie gnädig bedeckten mit Nacht und Grauen.

Schließlich hat er es noch vor wenigen Minuten selbst gesehen und fasst es eindrucksvoll in Worte:

Schwarz wimmelten da, in grausem Gemisch,
Zu scheußlichen Klumpen geballt,
Der stachligte Roche, der Klippenfisch,
Des Hammers greuliche Ungestalt,
Und dräuend wies mir die grimmigen Zähne
Der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne.

Des Rätsels Lösung ist: Wer nur in die Tiefe geht und nicht zugleich in die Breite oder Länge, wird dem, was Konfuzius anstrebt, nicht gerecht. Wer nur in die Tiefe geht, muss erleben, dass die Enge zunimmt und dass er womöglich immer verbohrter und verbohrter wird. Wer zugleich auch in die Breite oder Länge geht, schreitet, wie es im Faust, im Vorspiel auf dem Theater zu lesen ist, Den ganzen Kreis der Schöpfung aus. Allerdings steht da auch: Und wandelt mit bedächt’ger Schnelle
 / Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. – Aus der griechischen Mythologie und auch Mythen anderer Kulturen wissen wir, dass ein Held sich den Gang in die Unterwelt, in die Hölle trauen, den Drachen besiegen, den Tod am Kreuz sterben muss, sonst ist er kein Held.

Schillers Gedicht ist eine Absage an alle, die vermeinen, sie hätten für alle Zeit das Rezept des Lebens gefunden. So widersprüchlich es ist, dass nur Fülle zur Klarheit führt – denn immer mehr Fülle führt doch eigentlich dazu, dass alles immer unübersichtlicher wird – so wichtig ist es mit der kosmischen Überfülle und der Überfülle unseres Inneren umgehen zu lernen.

Genau dieses Thema spicht Goethe im Übrigen zwei Jahrzehnte später in Eins und alles an: Im Grenzenlosen sich zu finden … – und wenig später betont er ewiges lebend´ges Tun.

Niemand, der bei Trost ist, wird sagen, dass man sich im Grenzenlosen finden könne.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Wer den Raum begrenzt, findet sich nie. Das, was er findet, ist seine Welt. Aber es ist nicht DIE Welt. Denn die Welt, um die es geht, kennt keine Grenzen. Es mag kein Zufall sein, dass unsere Astrophysiker erkannt haben, dass das Universum sich ständig ausdehnt.

Bewusstsein einer Telefonzelle

Manchmal vermeinen wir, unser Leben, unsere Weltsicht sei klar. Dann aber müssen wir erkennen, dass auf den Zustand des Klaren gleich wieder Unklarheit folgt.

Einleuchten kann uns, dass alles, was wir als klar empfinden, ein zeitlicher Zustand ist, der nur einen Moment wahr ist; dann aber ist er schon wieder Vergangenheit, und alles, was Vergangenheit ist, ist nicht mehr die Wahrheit lebendigen Lebens.

Wem das zuviel ist, der kann für sich DIE Wahrheit definieren – von dieser Sorte Zeitgenossen, die das tun, gibt es genug. Je mehr wir uns beispielsweise politisch nach links oder rechts bewegen, desto gewisser finden wir sie und die, die in der Mitte bleiben, sind oft nur mittelmäßig, weil sie so genau wissen, dass die, die nach links oder rechts gehen, falsch liegen. Wer glaubt, in der Mitte liege das Heil, ohne nach links, nach rechts, in die Länge und in die Breite gegangen zu sein, hat bisweilen den Bewusstseinszustand einer Telefonzelle, ohne es allerdings zu merken, weil man doch in die weite Welt telefonieren kann (ohne selbst einen Fuß zu bewegen).

Weiterzuhelfen vermag das Bild des Ouroboros, jener Schlange, die sich in den Schwanz beißt (dann kann sie schon niemand anderen beißen). Sie liegt so friedlich da, alles hat seine Stimmigkeit, die Schlange beißt sich nur selbst, alles ist in sich geschlossen und damit rund und schön. Nur:

Je mehr die Schlange sich in die Länge dehnt, desto sicherer kommen wir an einen Punkt, wo wir Anfang und Ende nicht mehr sehen; auf einmal ist nichts mehr rund. Bestenfalls erkennen wir, dass Ouroboros zugleich unsere Zeitlinie ist, auf der wir laufen und laufen und laufen, und ob wir nach vorn oder rückwärts gehen: Irgendwann kommt der Punkt, wo wir uns wieder begegnen, wenn wir gleichzeitig nach vorn und rückwärts laufen könnten.

Ist also das Leben ein kosmischer Scherz? Seltsam, dass manche das entscheiden wollen, wo sie nicht einmal wissen, wo auf dieser Schlange sie sich befinden. Und ob die Schlange sich nicht wirklich doch so in die Länge gezogen hat, dass ihre Enden gerissen sind . . . (manche Menschen sind dieser unbewussten Ansicht wegen hoffnungslos, ohne etwas dagegen tun zu können, da ihnen die Ursache nicht bewusst ist).

Oder ist nicht die Schlange in Wirklichkeit da, wo sie sich selbst trifft, der Beginn einer Spirale?

Lebenssinn bitte nur im Instant-Format

Mir fallen all die Menschen ein, die – auch durch das Internet, und durch dieses ganz besonders – verlernt haben, einen Post oder einen Artikel zu lesen, dessen Lektüre länger als drei oder vier oder fünf Minuten dauert. Ja, als Schreibender spürt man förmlich, dass man sich den Zorn der Menschen zuzieht, von ihnen zu verlangen, sich länger als drei oder vier oder fünf Minuten mit einer Sache zu beschäftigen. Was interessant und wertvoll ist, hat sich immer auf ein Instant-Format komprimieren zu lassen . . . Lebenssinn auf Rezept. – Und so leicht handhabbar hat gefälligst auch das Leben zu sein!

So aber, das ist sicher, gibt es jene Vollendung nicht, von der Schiller bzw. Konfuzius sprechen. Zu glauben, so werde man einmal zur Krone der Schöpfung, ist ein gewaltiger Irrtum.

Gewiss ist das Internet, so wertvoll es ist, eine Programmiermaschine, die Menschen dressiert, dass sie sich mit nichts mehr wirklich auseinandersetzen. Sie tanzen auf einer Hautschuppe der Schlange und illuminieren ihr Leben wie ein Helene-Fischer-Konzert: ständig ist auf begrenztem Raum unglaublich viel los, am besten ist es ohnehin, es bewegen sich die anderen und man beurteilt nur, wie sie das tun (ohne sich groß selbst zu bewegen). Dann kann man mit Carolin Kebekus und anderen Tanten und Onkels, deren Art und Weise, mit der Wirklichkeit umzugehen, gerade total in ist, ablästern (ich finde diese Gilde mittlerweile widerlich). Warum also noch in die Länge oder Breite oder Tiefe gehen, wo doch alle Illumination gekauft werden kann oder auf Knopfdruck aus dem Fernseher oder Computer kommt?

Wozu Beharrung (siehe Z. 14)?

Wozu Vollendung (Z. 9)?

Vielleicht ist er einfach ein bisschen konfus, dieser Konfuzius?

Auf jeden Fall eignet sich der Spruch des Konfuzius bestens fürs Poesiealbum; da belassen ihn denn auch viele.

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5 Antworten zu … Und im Abgrund wohnt die Wahrheit. – Schillers „Spruch des Konfuzius“: nur scheinbar konfus.

  1. luisman schreibt:

    […]Wer glaubt, in der Mitte liege das Heil, ohne nach links, nach rechts, in die Länge und in die Breite gegangen zu sein, hat bisweilen den :::Bewusstseinszustand einer Telefonzelle:::, ohne es allerdings zu merken[…]
    Sehr gelungener Begriff, der mich zum Schmunzeln brachte. Das ist auch der grosse Fehler derer, die sich bisher als Konservative bezeichnet haben und meinten, alles muss immer so bleiben, wie es immer schon war. Wenn sich die Umweltbedingungen aendern (und das tun sie dauernd), muss man sich an den neuen Raendern orientieren, mit dem Ziel das Gute/Positive/Sinnvolle dort, in die Mitte zu integrieren. Nur so kann sich „die Mitte“ selbst dauerhaft erhalten, d.h. wenn sie sich aendert und anpasst, um der Gefahr des Abrutschens ins Extreme entgegen zu wirken.

    Bzgl. „Instant Format“: Ich orientiere mich schon daran, dass immer mehr Leute sich nicht mehr als einige Minuten Zeit nehmen koennen/wollen und beschraenke meine Artikel auf leicht verdauliche ca. 1.000 Worte. Zu viele koennen tiefgehende und ausufernde Gedanken nur haeppchenweise zu sich nehmen. So wie beim „cliffhanger“ in einem Roman, muss man versuchen den Appetit fuer das naechste Haeppchen zu foerdern.

    • Ich unterscheide zwischen Angst-Konservativen und den sogenannten Werte-Konservativen. Das Verhalten und Schreiben Ersterer tut manchmal fast weh, denn eigentlich ist es doch eine Plattitüde, dass nichts verlässlicher als der Wandel ist. Der Körper tut es ständig, nur den Geist zurren manche total fest. Ich würde ihnen raten, mal in ein Gymnasium zu gehen; sie würden feststellen, dass Jugendlichen heute Indien und die USA näher liegen als Schleswig-Holstein und dass das auf dem Hintergrund unserer medialen, klimatologischen und ökonomischen Entwicklung einfach zwangsläufig ist, wobei mich immer wieder überrascht hat, wie sehr Jugendlichen Werte wichtig sind.

      Mir persönlich sind die Rhön hier oder der Vogelsberg, der Taunus oder der Spessart mindestens so lieb wie die Rocky Montains und ich bin einfach unendlich dankbar, in einer Kultur leben zu dürfen mit Menschen wie Goethe und Hölderlin beispielsweise, von denen ich viel gelernt habe. Grenzen kommen und gehen, aber diese Schätze bleiben und Grimms Märchen werden noch viele Zeiten überdauern.
      Wer Grenzen festzurren will, wird die Grenzen seiner Grenzen erfahren; und wenn er es nicht erfährt und nicht wahrnimmt, dann wird er, so glaube ich, erleben, dass Entgrenzungen zu lernen im Jenseits viel mühseliger ist.

      Natürlich sehe ich auch – Themawechsel -, dass längere Beiträge weniger Leser finden und ein 4000-Wörter-Beitrag kaum mal Likes erhält. Mir persönlich macht das nichts, weil ich diese Essays auch immer für mich schreibe; gerade in letzter Zeit aber überlege ich mir auch, ob ich bisweilen kürzere Beiträge einstreue, weil es auch eine wichtige Fähigkeit ist, in einer kürzeren Form einen wesentlichen Punkt auf den Punkt zu bringen. Gott sei Dank bin ich nicht abhängig von Likes oder Lesern; deshalb sehe ich das alles gelassen und lasse mich – was die Zukunft meines Schreibens betrifft – von mir selbst überraschen :-)

  2. Hiltrud Hornung schreibt:

    Mit Begeisterung und Interesse lese ich schon einige Jahre aufmerksam die vielen nachdenkenswerten Texte.Auch wenn ich mich kaum melde.Aber DANKE will ich doch mal sagen.

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