Als ob die Gottheit nahe wär´ – Friedrich Schillers „Die Kraniche des Ibykus

Lange Zeit habe ich mit dieser Ballade wenig angefangen. Kaum etwas an ihr hat mich angezogen, ja, ich fand sie ziemlich langatmig und thematisch uninteressant, obwohl sie ja nun – wie ich mittlerweile finde – wirklich nicht langatmig ist und für viele Menschen wichtige Themen anspricht.
Wie man sich im Laufe der Zeit selbst verändert, ist mir an ihr deutlich geworden.
Etwas in mir hat sich ihr mehr und mehr zugewandt.
Das hing zum einen mt den Kranichen zusammen, die sich in Brechts Die Liebenden finden und dort stellvertretend für Letztere stehen. Dieses Gedicht Brechts hat mich, obwohl ich nun wirklich kein Brecht-Freund bin, immer fasziniert, vor allem, dass zwei, die sich lieben, unversehrt bleiben, in jeder Gefahr.
Dann fiel mir ein Zeitungsartikel in die Hand, überschrieben Zur Hochzeit tanzt der Kranich. Dort fand ich die Information, dass Kraniche sich treu sind, dass sie ein Leben lang zusammenbleiben. Überhaupt sind Kraniche wundervolle Tiere. Später kam auch noch das Thema des Vogelzugs hinzu.
Aber es ist auch diese Seite an Schiller, die ich mag, wenn er griechisch-römische Themen gestaltet. In Goethe und Schiller, wenn sie beide das tun, sind dann ihre vergangenen Leben hellwach. Ich kann es nicht beurteilen, aber der Anthroposoph Rudolf Steiner lässt uns wissen, dass – ich hoffe, ich erinnere mich da richtig – Goethe ein griechisches Leben als Bildhauer gelebt habe. „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“, so wird jener in seinem Schauspiel Iphigenie auf Tauris schreiben, und kein Wunder, hat er den Orest, den Bruder der Iphigenie, bei der Uraufführung in Weimar selbst gespielt.
Mancher mag – nicht wissend, dass das Gedankengut der Seelenwanderung auch abendländischem Denken entsprach, bis die Kirche es auch und besonders durch das Konzil zu Konstantinopel aus den Köpfen der Menschen hierzulande eliminieren konnte – nicht nur seinen äußeren, sondern auch den inneren Kopf schütteln. Im Hinblick auf Schiller solche Gedanken zu denken, mag dem ein oder anderen eh besonders fragwürdig erscheinen, war er ja doch gewiss kein Esoteriker (wobei ich das nicht abwertend meine, stehe ich doch der Verwendung dieses Begriffes in unserer Zeit skeptisch gegenüber), und doch war er es durch und durch, denn esoterisch bedeutet ja vor allem, dass der Blick nach innen geht. Bei Schiller geschieht das vielleicht eher unbewusst. Goethe dagegen hat bekanntlich von seiner intuitiven, tief religiösen Ader nie einen Hehl gemacht und war sich dieser auch vollkommen bewusst. Nicht nur, dass er in Bezug auf Frau von Stein von einem gemeinsamen früheren Leben spricht; seine tiefe Mystizität ist überall mit Händen greifbar, am meisten vielleicht im Rahmen seiner Aussage zum Ewig-Weiblichen am Ende von Faust II. Da wusste er intuitiv um etwas, einen Schatz, den erst unsere Zeit heben wird.
Schiller ist da anders gepolt, das Auftauchen der Kraniche über dem Theater ist für ihn Zufall. Hören wir in die Briefstelle aus  „Jena, den 7. September“ genauer hinein, nachdem der arme stets kränkliche Schiller zunächst etwas jammern musste (wobei wir anlässlich seiner Obduktion wissen, wie sehr er gelitten haben muss) und berichtet, dass erst ein Vomitiv, ein Brechmittel also, ihm Linderung seiner aktuellen Beschwerden gebracht habe.
Alsdann schreibt er an den Weimarer Freund:
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Mit dem Ibykus habe ich nach Ihrem Rat wesentliche Veränderungen vorgenommen, die Exposition ist nicht mehr so dürftig, der Held der Ballade interessiert mehr, die Kraniche füllen die Einbildungskraft auch mehr und bemächtigen sich der Aufmerksamkeit genug, um bei ihrer letzten Erscheinung, durch das Vorhergehende, nicht in Vergessenheit gebracht zu sein.

Was aber Ihre Erinnerung in Rücksicht auf die Entwicklung betrifft, so war es mir unmöglich, hierin ganz Ihren Wunsch zu erfüllen – lasse ich den Ausruf des Mörders nur von den nächsten Zuschauern gehört werden, und unter diesen eine Bewegung entstehen, die sich dem Ganzen, nebst ihrer Veranlassung, erst mitteilt, so bürde ich mir ein Detail auf, das mich hier, bei so ungeduldig forteilender Erwartung, gar zu sehr embarrassiert, die Masse schwächt, die Aufmerksamkeit verteilt usw. Meine Ausführung soll aber nicht ins Wunderbare gehen, auch schon bei dem ersten Konzept fiel mir das nicht ein, nur hatte ich es zu unbestimmt gelassen. Der bloße natürliche Zufall muß die Katastrophe erklären. Dieser Zufall führt den Kranichzug über dem Theater hin, der Mörder ist unter den Zuschauern, das Stück hat ihn zwar nicht eigentlich gerührt und zerknirscht, das ist meine Meinung nicht, aber es hat ihn an seine Tat und also an das, was dabei vorgekommen, erinnert, sein Gemüt ist davon frappiert, die Erscheinung der Kraniche muß also in diesem Augenblick ihn überraschen, er ist ein roher dummer Kerl, über den der momentane Eindruck alle Gewalt hat. Der laute Ausruf ist unter diesen Umständen natürlich. (…)

Dem Eindruck selbst, den seine Exklamation macht, habe ich noch eine Strophe gewidmet, aber die wirkliche Entdeckung der Tat, als Folge jenes Schreies, wollte ich mit Fleiß nicht umständlicher darstellen, denn sobald nur der Weg zu Auffindung des Mörders geöffnet ist (und das leistet der Ausruf, nebst dem darauf folgenden verlegenen Schrecken), so ist die Ballade aus, das andere ist nichts mehr für den Poeten.

Ich habe die Ballade, in ihrer nun veränderten Gestalt, an Böttiger gesendet, um von ihm zu erfahren, ob sich nichts darin mit altgriechischen Gebräuchen im Widerspruch befindet. Sobald ich sie zurückerhalte, lege ich die letzte Hand daran und eile dann damit in Druck.

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So wie Schiller alles erklärt, ist das gut und schön, aber seine Ballade geht in Wirklichkeit viel tiefer, so wie ich überzeugt bin, dass er um die Tiefe seines Tauchers nie wirklich wusste.
Vergessen wir nicht: Schiller war kein Novalis, kein E.T.A. Hoffmann. Er schrieb lieber eher philosophisch über Anmut und Würde und das Erhabene, als sich tiefer darauf einzulassen, dass es Zufall vielleicht nicht gibt.
Ich halte es da mit dem französischen Schriftsteller Théophile Gautier und seiner Aussage: Der Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er inkognito bleiben will, oder, wie sein Landsmann Georges Benanos formuliert: Was wir Zufall nennen, ist vielleicht die Logik Gottes.
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Die Kraniche, wie die Vögel überhaupt Boten der Götter, sollen zufällig gekommen sein? Und der Mörder soll gerufen haben, weil er überrascht war und weil er überhaupt ein roher dummer Kerl war? Ein bisschen Eindruck auf ihn gesteht Schiller dem Eumeniden-Chor zu, mehr nicht. Nur fragt man sich da, warum Schiller diesem Chor dann diesen Raum zugesteht, sein Auftreten so eindrucksmächtig gestaltet?! L´art pour lárt, Theater pour Theater?
Bei Gott, nein.
Schiller vernachlässigt fast befremdlich die Wirkung seiner Eumeniden, die er doch so dramatisch gekonnt aufttreten lässt, und nicht nur äußerlich dramatisch.
Erynien oder Eumeniden sind ja Gestalten unseres Inneren. Damals – in griechischer Zeit – ließ man äußerlich auftreten, was sich heute in uns, in unserem Gewissen abspielt.
Wo Eumeniden auftauchen, da wird die Seele durchlässig, sie kann nicht anders, da werden auch im Rohen feine Dimensionen wachgerufen, auch in einem Mörder; er wird gar nicht anders können, als sich zu verraten; die Eumeniden haben den Boden dazu bereitet. Schiller wird in seinem Inneren darum gewusst haben, ich kann es mir nicht anders vorstellen.
Nein, lieber Schiller, so möchte man sagen: Da unterschätzt Du selbst Deine kindlich reine, intuitive Dichterseele.
An der entsprechenden Stelle mehr dazu.
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Geschrieben wurde die Ballade im sogenannten Balladenjahr 1797, als sich Goethe und Schiller in edlem Dichterwettstreit Balladen um die Ohren hauten, dass es in der deutschen Literatur nur so krachte. Wir verdanken Schiller aus dieser Zeit, aus diesem Jahr Balladen wie Der Taucher, Der Handschuh, Der Ring des Polykrates, Ritter Toggenburg, Die Kraniche des Ibykus oder auch Die Bürgschaft (letztere erschienen 1799) und Goethe-Balladen wie Der Zauberlehrling, Der Schatzgräber, Die Braut von Korinth, Der Gott und die Bajadere oder auch die Legende.
Das sind – und ich habe nicht alle genannt – Werke, wie sie manchem Dichter ein Leben lang nicht gelingen. Die beiden schrieben das in einem Jahr. Da wird deutlich, was diese beiden für ein inneres Volumen gehabt haben müssen.
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Was mich an unserer Ballade aber besonders bewegt, ist die innere Religiosität der Ballade, dieser Hauch von Vertrauen in das Wirken der Gottheit, die Gegenwart Poseidons, der Eumeniden, das Wissen des Volkes um die Macht des Numinosen und dass die Mörder sich ergeben, weil sie gar nicht anders können.
Dieses Vertrauen des Mein ist die Rache, das wir schon in Conrad Ferdinands Die Füße im Feuer bewundert haben.
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Meiner Seele tut das gut, wenn ich lesen kann, wie sehr die Menschen damals noch mit dem Göttlichen verwoben waren, auf eine kindliche Weise. Nicht nur die universitäre Theologie hat dazu geführt, dass das Kindliche, das kindliche Gottvertrauen aus der Bibel mehr und mehr hinausgedacht wurde. Es ist auch der zunehmende Atheismus als grundsätzliche Bewusstseinseinstellung, der der Menschheit mehr zu schaffen macht, als wir noch wahrhaben wollen. Das anima naturaliter religiosa C.G. Jungs, dass also die Seele von Natur aus religiös sei, und das anima naturaliter christiana Tertullians scheinen den modernen Seelen Lichtjahre entfernt. Doch es scheint nur so. Und ich hoffe nicht, dass es Katastrophen wie Fukushima oder ein weiterer großer Tsunami  sein müssen, die uns unserem inneren Wesen näher bringen.
Hier in der Ballade – wie eben auch in griechischen Seelen der damaligen Zeit – ist das Numinose, das Göttliche allgegenwärtig. Das wird schon deutlich, wenn Ibykos in Poseidons Hain eintritt.
Macht sich heute noch jemand Gedanken, dass ein Wald, ein Hain, der Gottheit oder einem Engel oder einem Naturwesen, von denen Paracelsus noch so viel wusste, gehört? Gewiss nicht. Ibykus und seinem Verfasser war das bewusst, wie wir der zweiten Strophe entnehmen.
Doch zunächst zur ersten und zu meinem Vorgehen:
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Die Ballade enthält, liest man sie zum ersten oder zweiten Mal, einige Stellen, die nicht ganz einfach zu verstehen sind. Einiges möchte ich erläutern. Deshalb gehe ich Strophe für Strophe vor. Dann wird Einzelnes verständlicher.
Obwohl die Ballade umfangreich ist, möchte ich sie dennoch am Schluss noch einmal als Ganzes abdrucken; für mich gehört es dazu, dass man sich dem frommen Schaudern, das Ibykus schon zu Beginn zuteil wird, als er in Poseidons Fichtenhain eintritt, als Ganzem aussetzt. – Wir können das auch empfinden, wenn wir in das Haus dieser Ballade eintreten.
Zunächst aber einmal zur ersten Strophe:
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Zum Kampf der Wagen und Gesänge,
Der auf Korinthus‘ Landesenge
Der Griechen Stämme froh vereint,
Zog Ibykus, der Götterfreund.
Ihm schenkte des Gesanges Gabe,
Der Lieder süßen Mund Apoll,
So wandert‘ er, an leichtem Stabe,
Aus Rhegium, des Gottes voll.
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Im damaligen Griechenland gab es nicht nur die Olympischen Spiele, sondern mehr oder weniger zahlreiche, unter anderem eben auch die Isthmischen, benannt nach der Landenge, an der auch die Stadt Korinth lag und liegt, dem Isthmus von Korinth.
Korinth genießt bis heute noch erfreuliche Berühmtheit durch die Briefe des Paulus an die Gemeinde zu Korinth. Mancher mag noch um jene Stelle aus den Korintherbriefen wissen, die – 1. Korinther, Kapitel 13 – die Liebe so eindrucksvoll besingt:
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Wenn ich mit Menschen-und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. (…).
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Wie Paulus von der Liebe beseelt ist, so Ibykus von der Musik. Er ist Sänger, und damit untersteht er dem besonderen Schutz Apolls als eines Gottes, der auch die Kunstschaffenden und Künstler betreute.
Die Spiele der Griechen vereinten athletische und künstlerische Wettkämpfe. Zu manchen musste ein Dichter im Rahmen letzterer eine Komödie und eine Tragodie einreichen, um die Chance zu haben, als Sieger gekürt zu werden. Von den großen Dreien des griechischen Theaters, Aischylos, Sophokles und Euripides, wissen wir um das ein oder andere Jahr, in dem sie zum Sieger bei Spielen erkoren wurden; zum Teil sind ihre Werke ja auch erhalten.
Jedenfalls ist Ibykus zu solch einem Event unterwegs.
Keine Frage, er muss von Süditalien mit dem Schiff nach Griechenland übergesetzt sein – das macht auch die   Strophe III deutlich, wo er anspricht, dass ihn auch die Kraniche über das Meer begleiteten -; denn zu Fuß vom süditalienischen Regium auf den Isthmus, da wäre er ein halbes Menschenleben – etwas übertrieben ausgedrückt – unterwegs gewesen, zumal es damals noch nicht an jedem Eck einen Bäcker oder eine Kneipe gab  :-))
In Strophe II finden wir ihn im Grunde schon in Sichtweite Korinths, er sieht die Burg dieser Stadt, Akrokorinth, und ganz beflügelt mag er in den Hain, der dem Meeresgott Poseidon geweiht war, eingetreten sein, nicht ahnend, dass er zur Stätte seines Todes werden sollte.
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Schon winkt auf hohem Bergesrücken
Akrokorinth des Wandrers Blicken,
Und in Poseidons Fichtenhain
Tritt er mit frommem Schauder ein.
Nichts regt sich um ihn her, nur Schwärme
Von Kranichen begleiten ihn,
Die fernhin nach des Südens Wärme
In graulichtem Geschwader ziehn.
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Was die Mörder tun werden, ist umso schlimmer, als sie ihre ruchlose Tat in einem einem Gott geweihten Hain tun.
Aus homerischer Überlieferung wissen wir, dass das nicht ohne Folgen bleiben kann. Der ein oder andere Leser wird sich vielleicht des Beginns des Trojanischen Krieges erinnern, der fast ausgefallen wäre, kamen die Griechen mit ihren Schiffen doch nicht aus dem Heimathafen Aulis – das später auch in der Ballade genannt wird – heraus, weil Agammemnon es sich erlaubt hatte, im Hain der Artemis zu jagen und gar eine ihr geweihte Hindin zu erlegen. Und an der Sühne für diese Tat mag man ablesen, welche Dimension solch gotteslästerlichem Verhalten die Götter beimaßen. Die Griechen mussten Iphigenie opfern, auf einem Scheiterhaufen opfern, damit der Wind zurückkomme. Dass die Göttin Artemis ein Herz für die schöne Königstochter hatte, hat Goethe veranlasst, der Agammemnon-Schwester ein literarisches Denkmal zu setzen, ein Schauspiel, das heute leider kaum mehr gelesen wird.
Ibykus freut sich, seine Kraniche wiederzusehen, die ihn auf dem Ägäischen Meer bereits begleiteten. Manchmal, so weiß er, haben sie dasselbe Problem: Es ist nicht immer leicht, einen wirtlichen Rastplatz zu finden. Und ist es nicht schmachvoll, um Unterkunft betteln oder in irgendeinem Graben übernachten zu müssen?
Auf Ibykus wartet der Gastfreund, das wissen wir.
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„Seid mir gegrüßt, befreundte Scharen!
Die mir zur See Begleiter waren,
Zum guten Zeichen nehm ich euch,
Mein Los, es ist dem euren gleich.
Von fernher kommen wir gezogen
Und flehen um ein wirtlich Dach.
Sei uns der Gastliche gewogen,
Der von dem Fremdling wehrt die Schmach!
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Die letzten Minuten des Ibykus sind sehr verdichtet dargestellt.
Schiller erhöht noch einmal die Fallhöhe, sehen wir doch Ibykus schon zielstrebig auf sein Ziel zueilen, das ihn anzieht. Umso schlimmer dann sein Tod.
Mit einem einzigen  Wort breitet Schiller die Dramatik aus: Ibykus muss sich zum Kampf bereiten. So viel Zeit wird er nicht gehabt haben. Aber in diese Zeitdehnung kann der Leser mit seiner Phantasie eintreten: Wie ergeht es einem Dichter, der statt in die Saiten zu greifen den Bogen spannen muss, den er vielleicht nur der landesüblichen Sitte wegen mit sich führte? Eigentlich mag man sich wundern, dass er überhaupt einen dabei  hatte. Schiller allerdings hat sich um solche Fragen recht wenig gekümmert. Auch in seiner Bürgschaft ertrinkt der Protagonist gerade fast noch und kann sich nur mit Mühe aus den Wasserfluten ans Ufer retten, doch kurze Zeit später schon ist er am Verdursten.
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„Und munter fördert er die Schritte
Und sieht sich in des Waldes Mitte,
Da sperren, auf gedrangem Steg,
Zwei Mörder plötzlich seinen Weg.
Zum Kampfe muß er sich bereiten,
Doch bald ermattet sinkt die Hand,
Sie hat der Leier zarte Saiten,
Doch nie des Bogens Kraft gespannt.
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Die letzten Minuten und Sekunden von Ibykus gehen zu Herzen:
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Er ruft die Menschen an, die Götter,
Sein Flehen dringt zu keinem Retter,
Wie weit er auch die Stimme schickt,
Nicht Lebendes wird hier erblickt.
„So muß ich hier verlassen sterben,
Auf fremdem Boden, unbeweint,
Durch böser Buben Hand verderben,
Wo auch kein Rächer mir erscheint!“
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Schiller lässt uns hier sehr unmittelbar durch die Worte des Ibykus, durch die wörtliche Rede, an dem Geschehen Anteil nehmen.
Doch die Kraniche und ihre Stimmen sind ihm nah.
Fast wie ein Trost wirken sie hier in sein Sterben hinein:
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Und schwer getroffen sinkt er nieder,
Da rauscht der Kraniche Gefieder,
Er hört, schon kann er nichts mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn.
„Von euch, ihr Kraniche dort oben,
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sei meines Mordes Klag erhoben!“
Er ruft es, und sein Auge bricht.
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Gerade hat Ibykus noch davon gesprochen, dass niemand ihn wird rächen können, da sind schon – welch Zufall – seine göttlichen Freunde aufgetaucht, die Kraniche. Sie können Ibykus nicht retten, aber sie geben dem Sterbenden dies bedeutende Zeichen: Wir sind da, wir sind Zeugen. Du stirbst nicht allein und Dein Tod soll nicht ungerächt bleiben.
Auch hier wieder in den letzten vier Zeilen die wörtliche Rede des Ibykus.
Der Sänger spricht.
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Schiller rafft nun das dramatische Geschehen.
Dem Gastfreund kann es nicht leicht gefallen sein, den Toten zu identifizieren, zumal er offensichtlich gehofft hatte, dass Ibykus aus dem anstehenden gesanglichen Wettsttreit als Sieger hervorgehen werde.
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Der nackte Leichnam wird gefunden,
Und bald, obgleich entstellt von Wunden,
Erkennt der Gastfreund in Korinth
Die Züge, die ihm teuer sind.
„Und muß ich dich so wiederfinden,
Und hoffte mit der Fichte Kranz
Des Sängers Schläfe zu umwinden,
Bestrahlt von seines Ruhmes Glanz!
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Die durch den Mord beleidigten Totengeister, die Manen, die Ibykus in die Unterwelt bringen, sollen gerächt werden – und damit Ibykus! So will es das Volk, und es fordert die Wut des Prytanen; so will es sein Stadtoberhaupt sehen, so voller Zorn wie das Volk selbst. Gewaltig, wie Schiller hier die Zeilen gestaltet: Die Enjambements drängen nach vorn, über die Zeilenenden hinaus … es muss etwas geschehen … Griechenland als Heimat aller Griechen ist personalisiert, das Herz als pars pro toto steht für jeden Menschen und betont zugleich, wie sehr allen der Tod des geliebten Sängers zu Herzen geht.
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„Und jammernd hören’s alle Gäste,
Versammelt bei Poseidons Feste,
Ganz Griechenland ergreift der Schmerz,
Verloren hat ihn jedes Herz.
Und stürmend drängt sich zum Prytanen
Das Volk, es fordert seine Wut,
Zu rächen des Erschlagnen Manen,
Zu sühnen mit des Mörders Blut.
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In dieser Strophe wird deutlich, wie Schiller seine Sprache dem Inhalt zuliebe intensiviert: Wiederholt finden wir – wie übrigens immer wieder in der Ballade – vorangestellte Partizipien, sei es ein Partizip Präsens wie jammernd oder ein Partizip Perfekt wie Versammelt; zur Wirkung trägt auch ein anaphorisches, parallel geschaltetes zu bei: Zu rächen, zu sühnen.
Und in der folgenden Strophe wird deutlich, wie sehr Schiller griechisches Denken übernimmt. Wie selbstverständlich wird das Die Sonne bringt es an den Tag dem Sonnengott Helios anvertraut. Wer anderes als er kann den Täter unter der Masse der Menschen finden?
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Doch wo die Spur, die aus der Menge,
Der Völker flutendem Gedränge,
Gelocket von der Spiele Pracht,
Den schwarzen Täter kenntlich macht?
Sind’s Räuber, die ihn feig erschlagen?
Tat’s neidisch ein verborgner Feind?
Nur Helios vermag’s zu sagen,
Der alles Irdische bescheint.
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Er geht vielleicht mit frechem Schritte
Jetzt eben durch der Griechen Mitte,
Und während ihn die Rache sucht,
Genießt er seines Frevels Frucht.
Auf ihres eignen Tempels Schwelle
Trotzt er vielleicht den Göttern, mengt
Sich dreist in jene Menschenwelle,
Die dort sich zum Theater drängt.
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Immer wieder setzt Schiller auch gekonnt Alliterationen zur inhaltlichen Unterstützung ein, wie hier Frevels Frucht oder Personifikationen, indem er die Rache selbst auf Suche gehen lässt.
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Denn Bank an Bank gedränget sitzen,
Es brechen fast der Bühne Stützen,
Herbeigeströmt von fern und nah,
Der Griechen Völker wartend da,
Dumpfbrausend wie des Meeres Wogen;
Von Menschen wimmelnd, wächst der Bau
In weiter stets geschweiftem Bogen
Hinauf bis in des Himmels Blau.
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Wer zählt die Völker, nennt die Namen,
Die gastlich hier zusammenkamen?
Von Theseus‘ Stadt, von Aulis‘ Strand,
Von Phokis, vom Spartanerland,
Von Asiens entlegener Küste,
Von allen Inseln kamen sie
Und horchen von dem Schaugerüste
Des Chores grauser Melodie,
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Der streng und ernst, nach alter Sitte,
Mit langsam abgemeßnem Schritte,
Hervortritt aus dem Hintergrund,
Umwandelnd des Theaters Rund.
So schreiten keine irdschen Weiber,
Die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmaß der Leiber
Hoch über menschliches hinaus.
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Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden,
Sie schwingen in entfleischten Händen
Der Fackel düsterrote Glut,
In ihren Wangen fließt kein Blut.
Und wo die Haare lieblich flattern,
Um Menschenstirnen freundlich wehn,
Da sieht man Schlangen hier und Nattern
Die giftgeschwollenen Bäuche blähn.
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Das ist schon meisterlich, wie Schiller in der letzten und auch in der folgenden Strophe den Chor malt, der hier als Eumeniden auftritt. Die Frauen tun es so perfekt, so eindrucksvoll, dass der Zuschauer eben diesen  Eindruck gewinnt: Da schreiten keine Sterblichen. Der schwarze Mantel, die entfleischten Hände, die düsterrote Glut, die blutleeren Wangen, Schlangen und Nattern anstelle von Haaren, die von Gift aufgedunsenen Bäuche … und dann der Kreis, in dem sie sicherlich in der Mitte des Theaters sich drehen und zu singen beginnen … der Leser kann kaum all diese Eindrücke aufnehmen. Diese Ballade ist nicht nur zum Einmal-Lesen.
Da soll der Mörder nur frappiert gewesen sein, wie wir oben von Schiller gehört haben? – Das kann ich mir nicht vorstellen …
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Und schauerlich gedreht im Kreise
Beginnen sie des Hymnus Weise,
Der durch das Herz zerreißend dringt,
Die Bande um den Sünder schlingt.
Besinnungsraubend, herzbetörend
Schallt der Errinyen Gesang,
Er schallt, des Hörers Mark verzehrend,
Und duldet nicht der Leier Klang:
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Schiller hat in seinem Dramen immer wieder die Seele dargestellt, die vom Weg abgekommen ist und sich verstrickt hat, auch in Totschlag und Mord, denken wir nur an Maria Stuart, die Frau, die vor einem Mord am eigenen Gatten nicht zurückschreckte, was wohl auch auf die historische Maria zutraf.
Oder denken wir an Wilhelm Tell, der den kaiserlichen Vogt wohl eher aus privaten Motiven umbringt, wenn das Geschehen auch im Zusammenhang mit dem Befreiungskampf der drei Schweizer Ur-Kantone gesehen werden kann; doch war jener Mord wahrlich zu seinem Zeitpunkt nicht zwingend.
Eine Maria Stuart, ein Wilhelm Tell wären es nicht gewesen, doch reine Seelen sind durch ihre Reinheit geschützt vor dem Zugriff der Eumeniden, dem Geschlecht der Nacht, wie sie Schiller auch nennt, sind sie doch tatsächlich auch Wesen, die aus dem Dunkeln der Seele auf uns Menschen zugreifen:
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Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle
Bewahrt die kindlich reine Seele! I
hm dürfen wir nicht rächend nahn,
Er wandelt frei des Lebens Bahn.
Doch wehe, wehe, wer verstohlen
Des Mordes schwere Tat vollbracht,
Wir heften uns an seine Sohlen,
Das furchtbare Geschlecht der Nacht!
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Schiller lässt die Eumeniden sprechen. In der letzten und der folgenden Strophe sind sie das Gewissen Griechenlands und jedem im Rund ist bewusst, was sie singen, wenn auch auch unbewusster Ebene vielleicht nur.
Doch wer so schreitet, wer so singt, der soll den Mörder nicht stellen?
Sind sie nicht ganz bewusst hier aufgetaucht, um dem Erfolg der Klage des Ibykus den Boden zu bereiten? – Den Mörder zu stellen?
Sie geben selbst die Antwort:
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Und glaubt er fliehend zu entspringen,
Geflügelt sind wir da, die Schlingen
Ihm werfend um den flüchtgen Fuß,
Daß er zu Boden fallen muß.
So jagen wir ihn, ohn Ermatten,
Versöhnen kann uns keine Reu,
Ihn fort und fort bis zu den Schatten
Und geben ihn auch dort nicht frei.
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So singend, tanzen sie den Reigen,
Und Stille wie des Todes Schweigen
Liegt überm ganzen Hause schwer,
Als ob die Gottheit nahe wär.
Und feierlich, nach alter Sitte
Umwandelnd des Theaters Rund
Mit langsam abgemeßnem Schritte,
Verschwinden sie im Hintergrund.
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Es ist nicht nur ein Als ob die Gottheit ist nahe, kein Zweifel, der Leser weiß es auch. Die Stille ist nicht nur wie des Todes Schweigen, sie ist des Todes Schweigen. Die Eumeniden und ihr Tanz werden für den Mörder tödliche Konsequnzen haben.
Die Geschöpfe der Nacht verschwinden im Hintergrund – was Schiller aber wirklich abbildet:
Sie bilden den Hintergrund.
Ohne Hintergrund gibt es kein sich klar abzeichnendes, erkennbares, wichtiges Geschehen. Hier ist Hintergrund vorhanden. Kein Zweifel, die Gottheit selbst ist zugegen. Und ihre Helfer, die Richter, die Eumeniden sind da, im Verborgenen, aber sie sind da! Sie und die Gottheit, sie bilden den Hintergrund. Anima mundi naturaliter religiosa. Für die Griechen, für die Alten, war die Weltseele von Natur aus religiös
Ein tiefes Herz weiß um darum; in seinen Tiefen weiß der Mensch um die Botschaft der Eumeniden.
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Und zwischen Trug und Wahrheit schwebet
Noch zweifelnd jede Brust und bebet
Und huldigt der furchtbarn Macht,
Die richtend im Verborgnen wacht,
Die unerforschlich, unergründet
Des Schicksals dunklen Knäuel flicht,
Dem tiefen Herzen sich verkündet,
Doch fliehet vor dem Sonnenlicht.
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.Es kein Wunder, dass weiterhin das Dunkle, die Farbe Schwarz dominiert. Es ist die Farbe der Eumeniden,  die Farbe des furchbaren Geschlechts der Nacht. Kein Wunder verdunkeln die Kraniche den Himmel! Als der Mörder sie ankündigt, weiß nur er, was er sagt. Doch er weiß es unmittelbar. Er weiß sogleich, wessen diese Kraniche sind. Mit ihnen fliegt – für ihn spürbar – die Seele des Ibykus. .
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Da hört man auf den höchsten Stufen
Auf einmal eine Stimme rufen:
„Sieh da! Sieh da, Timotheus,
Die Kraniche des Ibykus!“ –
Und finster plötzlich wird der Himmel,
Und über dem Theater hin
Sieht man in schwärzlichtem Gewimmel
Ein Kranichheer vorüberziehn.
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Und jeder weiß: Wer diesen Zusammenhang herstellen kann, wer Kraniche sieht und sie dem Sänger zuordnet – der kann nur der Mörder sein. Kann doch kein Mensch eigentlich wissen, dass die Kraniche die Todeszeugen des Ibykus sind. Doch es ist sofort klar. In dieser Situation,  in der jedes Herz tief berührt ist, ist durch diese Herzenstiefe die Voraussetzung geschaffen, dass die Botschaft der furchbaren Macht, die im Hintergrund wacht, sich verkündet:.
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„Des Ibykus!“ – Der teure Name
Rührt jede Brust mit neuem Grame,
Und, wie im Meere Well auf Well,
So läuft’s von Mund zu Munde schnell:
„Des Ibykus, den wir beweinen,
Den eine Mörderhand erschlug!
Was ist’s mit dem? Was kann er meinen?
Was ist’s mit diesem Kranichzug?“ –
.++
Noch sind es Fragen, die Griechen sich stellen. Doch wie ein Blitz durchzuckt die Anwesenden die Wahrheit. Und sie wissen auch, wer sie verkündet, welches machtvolle Geschlecht:
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Und lauter immer wird die Frage,
Und ahnend fliegt’s mit Blitzesschlage
Durch alle Herzen. „Gebet acht!
Das ist der Eumeniden Macht!
Der fromme Dichter wird gerochen,
Der Mörder bietet selbst sich dar!
Ergreift ihn, der das Wort gesprochen,
Und ihn, an den’s gerichtet war.“
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Schiller richtet in der Schluss-Strophe noch einmal den Fokus auf den Mörder. Nur von einem ist zunächst die Rede, doch beteiligt waren zwei, zwei Bösewichter: .
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Doch dem war kaum das Wort entfahren,
Möcht er’s im Busen gern bewahren;
Umsonst, der schreckenbleiche Mund
Macht schnell die Schuldbewußten kund.
Man reißt und schleppt sie vor den Richter,
Die Szene wird zum Tribunal,
Und es gestehn die Bösewichter,
Getroffen von der Rache Strahl.
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Die indogermanische Wurzel des Wortes Rache bedeutet so viel wie stoßen, drängen, treiben. Ja, die Eumeniden be-treiben dieses Geschäft, es ist ihre Berufung.
Wir wissen, das Göttliche ist kein Rächer im Sinne einer der Rache im Grunde fast unterworfenen Instanz. – Ich möchte es ein spirituelles Gesetz nennen, dass das, was wir tun, Folgen hat, die unsere Zukunft mitbestimmen. Wir selbst sind die Auslöser alles Folgegeschehens. Das Wort Rache im Zusammenhang mit dem Numinosen weist Letzterem viel zu sehr die Ursache zu. Auch dadurch konnte sich die Vorstellung von Gott als einem Rächer durchsetzen.
Wir wissen von Schiller, dass dieses Bild Gottes bei ihm eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Schrecklich, welches Gottesbild Franz Moor in den Räubern erkennen lässt. Kein Wunder, ist dessen irdisches Vaterbild genauso kaputt wie das in Bezug auf seinen himmlischen Vater. Vermutlich ist es zuallermeist so, dass man nur zu einem der Wahrheit sich annähernden Gottesbild kommt, wenn man den physischen Vater auf der Erde hat in sein Leben integrieren können. Franz versuchte seinen Vater umzubringen – und kein Wunder muss Gott einer sein, der Menschen wie ihn zur Strecke bringt.
Wie sehr alles auch die innere Wirklichkeit Schillers widerspiegelt, wissen wir letztendlich nicht, aber klar ist, dass er von solchen Vorstellungen nicht frei war.
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In der Bibel heißt es von Gott: Mein ist die Rache. – Ich würde gerne wissen, was das dieser Übersetzung zugrunde liegende hebräische Wort noch bedeuten kann.
Die Wirklichkeit ist für mich ganz effektiv und einfach: Unsere Seele schafft sich durch unser physisches oder seelisch- geistiges Tun ihre Zukunft. Daraus erklärt sich auch für mich der Begriff des Jüngsten Gerichts: Just in jedem augenblicklichen, jungen Moment sind wir durch unser aktuelles Denken, unser aktuelles Tun unsere Richter.
Niemand braucht zu fragen, warum Gott etwas zulässt. Er lässt uns die Freiheit, zu tun und zu lassen, was wir wollen. Wenn uns dann das Goldene Kalb um die Ohren fliegt oder die Arche zur Titanic wird, sollten wir nicht jammern. Es war nicht Gott, sondern allein wir.
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Noch einmal, als Ganzes:
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Friedrich  Schiller
Die Kraniche des Ibykus
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Zum Kampf der Wagen und Gesänge,
Der auf Korinthus‘ Landesenge
Der Griechen Stämme froh vereint,
Zog Ibykus, der Götterfreund.
Ihm schenkte des Gesanges Gabe,
Der Lieder süßen Mund Apoll,
So wandert‘ er, an leichtem Stabe,
Aus Rhegium, des Gottes voll.
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Schon winkt auf hohem Bergesrücken
Akrokorinth des Wandrers Blicken,
Und in Poseidons Fichtenhain
Tritt er mit frommem Schauder ein.
Nichts regt sich um ihn her, nur Schwärme
Von Kranichen begleiten ihn,
Die fernhin nach des Südens Wärme
In graulichtem Geschwader ziehn.
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„Seid mir gegrüßt, befreundte Scharen!
Die mir zur See Begleiter waren,
Zum guten Zeichen nehm ich euch,
Mein Los, es ist dem euren gleich.
Von fernher kommen wir gezogen
Und flehen um ein wirtlich Dach.
Sei uns der Gastliche gewogen,
Der von dem Fremdling wehrt die Schmach!“
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Und munter fördert er die Schritte
Und sieht sich in des Waldes Mitte,
Da sperren, auf gedrangem Steg,
Zwei Mörder plötzlich seinen Weg.
Zum Kampfe muß er sich bereiten,
Doch bald ermattet sinkt die Hand,
Sie hat der Leier zarte Saiten,
Doch nie des Bogens Kraft gespannt.
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Er ruft die Menschen an, die Götter,
Sein Flehen dringt zu keinem Retter,
Wie weit er auch die Stimme schickt,
Nicht Lebendes wird hier erblickt.
„So muß ich hier verlassen sterben,
Auf fremdem Boden, unbeweint,
Durch böser Buben Hand verderben,
Wo auch kein Rächer mir erscheint!“
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Und schwer getroffen sinkt er nieder,
Da rauscht der Kraniche Gefieder,
Er hört, schon kann er nichts mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn.
„Von euch, ihr Kraniche dort oben,
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sei meines Mordes Klag erhoben!“
Er ruft es, und sein Auge bricht.
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Der nackte Leichnam wird gefunden,
Und bald, obgleich entstellt von Wunden,
Erkennt der Gastfreund in Korinth
Die Züge, die ihm teuer sind.
„Und muß ich dich so wiederfinden,
Und hoffte mit der Fichte Kranz
Des Sängers Schläfe zu umwinden,
Bestrahlt von seines Ruhmes Glanz!“
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Und jammernd hören’s alle Gäste,
Versammelt bei Poseidons Feste,
Ganz Griechenland ergreift der Schmerz,
Verloren hat ihn jedes Herz.
Und stürmend drängt sich zum Prytanen
Das Volk, es fordert seine Wut,
Zu rächen des Erschlagnen Manen,
Zu sühnen mit des Mörders Blut.
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Doch wo die Spur, die aus der Menge,
Der Völker flutendem Gedränge,
Gelocket von der Spiele Pracht,
Den schwarzen Täter kenntlich macht?
Sind’s Räuber, die ihn feig erschlagen?
Tat’s neidisch ein verborgner Feind?
Nur Helios vermag’s zu sagen,
Der alles Irdische bescheint.
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Er geht vielleicht mit frechem Schritte
Jetzt eben durch der Griechen Mitte,
Und während ihn die Rache sucht,
Genießt er seines Frevels Frucht.
Auf ihres eignen Tempels Schwelle
Trotzt er vielleicht den Göttern, mengt
Sich dreist in jene Menschenwelle,
Die dort sich zum Theater drängt.
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Denn Bank an Bank gedränget sitzen,
Es brechen fast der Bühne Stützen,
Herbeigeströmt von fern und nah,
Der Griechen Völker wartend da,
Dumpfbrausend wie des Meeres Wogen;
Von Menschen wimmelnd, wächst der Bau
In weiter stets geschweiftem Bogen
Hinauf bis in des Himmels Blau.
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Wer zählt die Völker, nennt die Namen,
Die gastlich hier zusammenkamen?
Von Theseus‘ Stadt, von Aulis‘ Strand,
Von Phokis, vom Spartanerland,
Von Asiens entlegener Küste,
Von allen Inseln kamen sie
Und horchen von dem Schaugerüste
Des Chores grauser Melodie,
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Der streng und ernst, nach alter Sitte,
Mit langsam abgemeßnem Schritte,
Hervortritt aus dem Hintergrund,
Umwandelnd des Theaters Rund.
So schreiten keine irdschen Weiber,
Die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmaß der Leiber
Hoch über menschliches hinaus.
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Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden,
Sie schwingen in entfleischten Händen
Der Fackel düsterrote Glut,
In ihren Wangen fließt kein Blut.
Und wo die Haare lieblich flattern,
Um Menschenstirnen freundlich wehn,
Da sieht man Schlangen hier und Nattern
Die giftgeschwollenen Bäuche blähn.
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Und schauerlich gedreht im Kreise
Beginnen sie des Hymnus Weise,
Der durch das Herz zerreißend dringt,
Die Bande um den Sünder schlingt.
Besinnungsraubend, herzbetörend
Schallt der Errinyen Gesang,
Er schallt, des Hörers Mark verzehrend,
Und duldet nicht der Leier Klang:
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Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle
Bewahrt die kindlich reine Seele!
Ihm dürfen wir nicht rächend nahn,
Er wandelt frei des Lebens Bahn.
Doch wehe, wehe, wer verstohlen
Des Mordes schwere Tat vollbracht,
Wir heften uns an seine Sohlen,
Das furchtbare Geschlecht der Nacht!
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Und glaubt er fliehend zu entspringen,
Geflügelt sind wir da, die Schlingen
Ihm werfend um den flüchtgen Fuß,
Daß er zu Boden fallen muß.
So jagen wir ihn, ohn Ermatten,
Versöhnen kann uns keine Reu,
Ihn fort und fort bis zu den Schatten
Und geben ihn auch dort nicht frei.
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So singend, tanzen sie den Reigen,
Und Stille wie des Todes Schweigen
Liegt überm ganzen Hause schwer,
Als ob die Gottheit nahe wär.
Und feierlich, nach alter Sitte
Umwandelnd des Theaters Rund
Mit langsam abgemeßnem Schritte,
Verschwinden sie im Hintergrund.
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Und zwischen Trug und Wahrheit schwebet
Noch zweifelnd jede Brust und bebet
Und huldigt der furchtbarn Macht,
Die richtend im Verborgnen wacht,
Die unerforschlich, unergründet
Des Schicksals dunklen Knäuel flicht,
Dem tiefen Herzen sich verkündet,
Doch fliehet vor dem Sonnenlicht.
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Da hört man auf den höchsten Stufen
Auf einmal eine Stimme rufen:
„Sieh da! Sieh da, Timotheus,
Die Kraniche des Ibykus!“ –
Und finster plötzlich wird der Himmel,
Und über dem Theater hin
Sieht man in schwärzlichtem Gewimmel
Ein Kranichheer vorüberziehn.
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„Des Ibykus!“ – Der teure Name
Rührt jede Brust mit neuem Grame,
Und, wie im Meere Well auf Well,
So läuft’s von Mund zu Munde schnell:
„Des Ibykus, den wir beweinen,
Den eine Mörderhand erschlug!
Was ist’s mit dem? Was kann er meinen?
Was ist’s mit diesem Kranichzug?“ –
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Und lauter immer wird die Frage,
Und ahnend fliegt’s mit Blitzesschlage
Durch alle Herzen. „Gebet acht!
Das ist der Eumeniden Macht!
Der fromme Dichter wird gerochen,
Der Mörder bietet selbst sich dar!
Ergreift ihn, der das Wort gesprochen,
Und ihn, an den’s gerichtet war.“
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Doch dem war kaum das Wort entfahren,
Möcht er’s im Busen gern bewahren;
Umsonst, der schreckenbleiche Mund
Macht schnell die Schuldbewußten kund.
Man reißt und schleppt sie vor den Richter,
Die Szene wird zum Tribunal,
Und es gestehn die Bösewichter,
Getroffen von der Rache Strahl.

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