Von der Gnade des Verzeihens, des Vergeben-Könnens. Conrad Ferdinand Meyers „Die Füße im Feuer“.

Zugegeben, ich kenne nicht viel von Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898), eigentlich nur Gedichte, aber dennoch bin ich ein bekennender Fan dieses Schweizer Dichters. Auch wenn viele seiner Gedichte keinen großen Bekanntheitsgrad erlangten – der ein oder andere mag sagen, zu Recht -, so gibt es doch einige wenige, die wahre Kleinode der deutschsprachigen Lyrik sind, so das so verhalten wirkende Gedicht über eine zarte Liebe, Stapfen überschrieben, oder auch Der Römische Brunnen.

Conrad Ferdinand Meyer ist ein Meister der Andeutung; es genügen ihm zwei Sätze, wo Thomas Mann zwei Seiten geschrieben und alles zerredet hätte (sorry, ich mag Thomas Mann nicht). Bei diesem Schweizer Autor ist der Leser gefragt mit seiner eigenen Gefühlswelt, mit seinem inneren Engagement. Bei Stapfen und den Füßen im Feuer ist das in hohem Maße so. Mir macht ihn das höchst  sympathisch.

Was mich schon immer am meisten beeindruckte, ist letzteres Gedicht – und ich freue mich riesig, darüber jetzt schreiben zu können -, dieses lyrische Drama, handelnd von einem Burgherrn, der eines Nachts, ohne es zu wissen, den Mörder seiner Frau aufnimmt und beherbergt. Doch seine Kinder erkennen diesen Mann jener grässlichen Nacht, der ihnen die Mutter raubte; sie setzen ihren Vater in Kenntnis, wer der fremde Reiter in Wahrheit sei.

Eine Nacht, in der um die Burg ein Sturm tobt, vergeht.

Am Morgen hat der Edelmann den Kampf seines Lebens gekämpft, äußerlich erkennbar an seinem Haar, das über Nacht ergraute und Zeugnis gibt von dem Sturm, der auch in ihm tobte; doch er hat gesiegt.

„Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist, insbesondere meine Rache“; so mag er in Anlehnung an eines der  Kreuzesworte Jesu gebetet haben. Er hat seine persönliche Rache nach Golgatha gebracht.

Es ist ein Werk über das Vergeben, ermöglicht durch eine tiefe Religiosität.

Hier nun zunächst die Ballade; für den- bzw. diejenige, die sie noch nicht kennt, sei zum besseren Verständnis gesagt, dass die Erlebnisse jener Nacht, in welcher der Reiter, damals als Hugenottenjäger unterwegs, die Frau des Edelmannes folterte, um zu erzwingen, dass sie das Versteck ihres Mannes preisgebe, immer wieder sich in die Gedanken des Reiters einblenden:

                                               

DIE FÜSSE IM FEUER

Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.
Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Ross,
Springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust
Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest.
Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell
Und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann …

– „Ich bin ein Knecht des Königs, als Kurier geschickt
Nach Nîmes. Herbergt mich! Ihr kennt des Königs Rock!“
– „Es stürmt. Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmert’s mich?
Tritt ein und wärme dich! Ich sorge für dein Tier!“
Der Reiter tritt in einen dunkeln Ahnensaal,
Von eines weiten Herdes Feuer schwach erhellt,
Und je nach seines Flackerns launenhaftem Licht
Droht hier ein Hugenott im Harnisch, dort ein Weib,
Ein stolzes Edelweib aus braunem Ahnenbild …
Der Reiter wirft sich in den Sessel vor dem Herd
Und starrt in den lebendgen Brand. Er brütet, gafft …
Leis sträubt sich ihm das Haar. Er kennt den Herd, den Saal       …
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.

Den Abendtisch bestellt die greise Schaffnerin
Mit Linnen blendend weiß. Das Edelmägdlein hilft.
Ein Knabe trug den Krug mit Wein. Der Kinder Blick
Hangt schreckensstarr am Gast und hangt am Herd entsetzt        …
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.
– „Verdammt! Dasselbe Wappen! Dieser selbe Saal!
Drei Jahre sind’s … Auf einer Hugenottenjagd
Ein fein, halsstarrig Weib … ‚Wo steckt der Junker? Sprich!‘
Sie schweigt. ‚Bekenn!‘ Sie schweigt. ‚Gib ihn heraus!‘ Sie schweigt.
Ich werde wild.  D e r  Stolz! Ich zerre das Geschöpf …
Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie
Tief mitten in die Glut … ‚Gib ihn heraus!‘ … Sie schweigt …
Sie windet sich … Sahst du das Wappen nicht am Tor?
Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr?
Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich.“
Eintritt der Edelmann. „Du träumst! Zu Tische, Gast …“

Da sitzen sie. Die drei in ihrer schwarzen Tracht
Und er. Doch keins der Kinder spricht das Tischgebet.
Ihn starren sie mit aufgerissnen Augen an –
Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk,
Springt auf: „Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt!
Müd bin ich wie ein Hund!“ Ein Diener leuchtet ihm,
Doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück
Und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr …
Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach.

Fest riegelt er die Tür. Er prüft Pistol und Schwert.
Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt.
Die Treppe kracht … Dröhnt hier ein Tritt? … Schleicht dort ein Schritt? …
Ihn täuscht das Ohr. Vorüberwandelt Mitternacht.
Auf seinen Lidern lastet Blei, und schlummernd sinkt
Er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut.
Er träumt. „Gesteh!“ Sie schweigt. „Gib ihn heraus!“ Sie schweigt.
Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut.
Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt …
– „Erwach! Du solltest längst von hinnen sein! Es tagt!“
Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt,
Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr – ergraut,
Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.

Sie reiten durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut.
Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad.
Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch.
Friedsel’ge Wolken schwimmen durch die klare Luft,
Als kehrten Engel heim von einer nächt’gen Wacht.
Die dunkeln Schollen atmen kräft’gen Erdgeruch.
Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug.
Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: „Herr,
Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit
Und wisst, dass ich dem größten König eigen bin.
Lebt wohl. Auf Nimmerwiedersehn!“ Der andre spricht:
„Du sagst’s! Dem größten König eigen! Heute ward
Sein Dienst mir schwer … Gemordet hast du teuflisch mir
Mein Weib! Und lebst! …. Mein ist die Rache, redet Gott.“

                                             

Die Ballade ist kunstvollst gestaltet, allein schon der Beginn:

Wie gekonnt verknappt Meyer die stürmischen Bedingungen, unter denen der Kurier ankommt, wie gekonnt verknappt er die Ankunft des Reiters selbst. Wie gekonnt kontrastiert das Toben und Tosen der Natur und die Aufgeregtheit des Reiters der inneren Ruhe, dem Frieden der Burg, vermittelt durch das goldenhell schimmernde Licht und die Wärme, die dem lärmemden Reiter sich darbieten will.

Ganz sparsam nur ist durch das fahle Licht, in dem gleich zu Beginn der Reiter den Turm sieht, und durch das schwarze Kleid des Edelmanns angedeutet, wo ein wesentliches Zentrum eines Teils der Ballade sein wird – im Turm –  und dass es hinter den Mauern nicht nur Licht gibt, sondern auch ein dunkler Schatten von Leid auf dieser Burg liegt.

Wen es interessiert, für den sei gesagt, dass die Ballade in jambischen Trimetern verfasst ist, wobei diesen jeweils ein Auftakt vorausgeht. Gestaltungsmittel wie innerer Monolog und erlebte Rede kennzeichnen die für mich inhaltlich und formal phaszinierende Ballade; dazu vielleicht später mehr.

Zunächst besticht die Ruhe des Edelmannes; dem aufgeblasenen Wesen des Reiters, der sich drohlich Zutritt mit einem Verweis auf des Königs Rock, den er trägt, zu schaffen sucht, setzt der Edelmann ganz gelassen seine natürliche Gastfreundschaft entgegen, verbunden mit einer knappen Klarstellung, eingekleidet in eine rhetorische Frage:

„Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmert´s mich?“

Das launenhaft flackernde Feuer gibt die Kulisse für einen Erkentnisprozess, der sich im Folgenden dem Reiter entringt. Zunächst sieht er nur das Ahnenbild eines stolzen Edelweibs, doch wirft er sich schon vorahnend in den Sessel und brütet. Nach und nach dämmert es ihm, wo er ist, und leitmotivartig durchziehen ab hier die Füße, die in der Glut zucken, den Fortgang der Handlung, die im Grunde immer mehr zu einer inneren Handlung wird.

Die geballte Erinnerung, die den Kurier überkommt, unterbricht der Edelmann, der von allem noch nichts ahnt  und dennoch sagt:“Du träumst“, als ahne er, was für ein Alp-Traum seinen Gast überkommen hat.

Um den Tisch sitzt die Familie – ohne Mutter – in schwarzer Tracht.

Die Lichtsymbolik spielt in der ganzen Ballade eine unglaublich kommentierende Rolle – und sei es durch die Abwesenheit von Licht.

Die Familie trauert in Schwarz.

Ruppig wie schon zuvor anlässlich seiner Ankunft und mit ebensolch rüpeliger Wortwahl – „Müd bin ich wie ein Hund“ – springt der Gast auf, den Kindern durch seine Worte auf ihre Blicke gleichsam antwortend, wie er sich fühlt und was er ist.

Ein Hund.

Grausamst gefoltert und gemordet hat er während der Hugenottenkriege, eine der schrecklichsten Zeiten innerhalb der abendländischen „Kultur“-Geschichte, man denke nur an die Bartholomäusnacht, die Nacht auf den 24. August 1572, die sogenannte Pariser Bluthochzeit, in deren Rahmen zahlreiche Führer der Hugenotten und Tausende ihrer Anhänger auf Befehl der katholischen Katharina von Medici, einem wahren Teufelsweib, ermordet wurden, anlässlich eines Ereignisses, der Hochzeit nämlich ihrer Tochter Margarete von Valois mit Heinrich von Navarra, dem späteren Heinrich IV., die vermeintlich als große Versöhnung zwischen Hugenotten, also Protestanten, und Katholiken gedacht war (mehr zum Schicksal der Hugenotten hier). 

Der ehemalige Hugenottenjäger – im Herzen mag er es wohl immer noch sein – sieht noch das Flüstern der Kinder, bevor er zur Turmstube aufsteigt, und weiß, dass auch der Edelmann nun um seine wahre Identität weiß.

Als er schließlich übermüdet doch einschläft, wiederholt sich seine Erinnerung an die Glut. Doch in diesem erneuten Alp-Traum gibt es eine Änderung – zum Schluss brennt auch er:

„Er zerrt das Weib. zwei Füße zuckcn in der Glut. / Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt.“

So hätte es kommen müssen, wenn der Sturm angehalten hätte, der so gell  noch pfiff, als er auf das Lager sank.

Doch seltsam, die Natur hat sich besänftigt.

Mittlerweile plätschert Regenflut.

Wie kann das sein?

Warum kann sie so friedlich sein?

Die Antwort liegt im Inneren des Edelmannes. Er hat den schwersten Kampf seines Lebens gekämpft. Als er auf Golgatha ankommt und seine Rache Gott übergibt und diesen Tod stirbt, der Rache heißt, damit Vergebung auferstehen kann, da kann der Sturm in Regen übergehen.

Das ist die scheinbare Rettung des Kuriers. Doch in Wirklichkeit ist er den göttlichen Mühlsteinen übergeben, die bekanntlich langsam mahlen, aber mahlen.

Wenn man das liest, könnte man meinen, Vergebung müsse gar nicht so schwer sein. Doch der Schein trügt. Wie der Gott der Liebe sich entscheidet, welchen Weg der „Rache“ er wählt, wissen wir nicht. Dieser alttestamentarische Begriff bringt nicht zum Ausdruck, welchen Weg Gott wählen wird. Gewiss ist es nicht der Weg, den der Edelmann sich ausgewählt hätte, als er noch auf Rache sann. Gott, als Gott der Liebe – und auch der alttestamentarische Gott ist der Gott der Liebe, auch wenn macnhes im Alten Testament dies uns zu verschleiern vermag -, wählt den Weg, an dessen Ende Liebe steht und der, Meter für Meter, durch Liebe gekennzeichnet ist.

Vergessen wir nicht: Auch ein liebender Vater, eine liebende Mutter kennen Konsequenz, Klarheit, auch Strenge, um ihr Kind zu leiten, zu begleiten, zu geleiten.

Manche Menschen können weder vergeben noch vergessen. Mittlerweile hat die Psychologie erkannt, dass Nicht-Vergeben-Können eine psychische Erkrankung ist, an der, so sage ich, Nationen leiden können und Menschen.

Bei Pressetext findet sich ein bemerkenswerter Artikel mit der Überschrift Unversöhnlichkeit als psychische Erkrankung. Darin heißt es:

Verbitterung kann in verstärkter Form ähnlich wie Angst zu einem krankheitsähnlichen Zustand führen, der Betroffene schwer beeinträchtigt und Behandlung erfordert. (…) 

Die Krankheit weitet sich auch in andere Lebensgebiete in zerstörerischer Weise aus, wobei die Symptome von Selbstzweifel, Appetitlosigkeit, Depressionen, Phobien und Aggressionen bis hin zu Selbstmordgedanken reichen. „Viele vereinsamen und gehen nicht einmal mehr auf die Straße“, so der Wiener Psychiater (Bonelli). (…)

Überwinden kann man Verbitterung durch das Loslassen. „Verbitterte wollen die absolute Gerechtigkeit hier und jetzt erleben. Man kommt jedoch erst durch die Erkenntnis weiter, dass diese Gerechtigkeit nicht existiert und alles Erlebte bloß relativ ist.“ Der Berliner Psychiater und Fachtagungs-Redner Michael Linden, der 2003 als erster das Krankheitsbild beschrieben hat, schlägt für die Behandlung eine sogenannte „Weisheitstherapie“ vor. „Es geht darum, das erfahrene Unrecht zu ertragen statt an ihm zu verzweifeln.

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Das liest sich, als ob Vergebung unter Umständen relativ leicht handelbar sei. So jedoch ist es nicht. Tatsächlich gehört Weisheit dazu, eine herzliche Vernunft, die einen nicht einfach anfliegt.

Ich möchte fast sagen, Vergeben-Können ist eine göttliche Gnadengabe, die Gott als Geschenk gibt, wenn der Mensch bereit ist, über seinen Schatten zu springen. Und der Schatten, den wir Rache nennen, kann ein schier unüberwindbares dunkles Feld sein.

Der ein oder andere Leser mag den Film Das Herz von Jenin kennen. Es geht darin um das Herz des 12-jährigen Palästinenserkindes Ahmed, der 2005 von israelischen Soldaten erschossen wird, weil er eine Spielzeugpistole in der Hand hält. Der Film dokumentiert, so heißt es in einer Amazon-Kundenrezensionwas nach der Erschießung (…) geschah.
Ganz anders, als die (leider) schon gewohnten Bilder von Sebstmordattentaten und Bombenanschlägen als Vergeltung für erlittenes Unrecht wird hier ein anderer,ein neuer, ein ungewohnter, ein höchst menschlicher Weg beschritten.
Der Vater des erschossenen palästinensischen Jungen entscheidet sich, die Organe seines Sohnes zur Transplantation frei zu geben – wissend, daß mit den Organen seines Sohnes das Leben von israelischen Kindern gerettet werden wird.
Das Kamerateam begleitet den Vater auch, als er nach einem Jahr die fünf geretteten Kinder und deren Familien in Israel besucht.

Wenn ich diesen Film im Unterricht zeige, dann ist eineinhalb Stunden Schweigen. So sehr ergreift junge Menschen der Gedanke der Versöhnung. Wir kennen aus der Geschichte der Menschheit weitere Zeugnisse von großer Versöhnung, wir denken z.B. an die Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Demgegenüber stehen Elaborate von Hass und Unversöhnlichkeit wie Dürrenmatts Besuch der alten Dame oder der Mythos von Siegfried und die blutdurchtränkte Rache Kriemhilds. Mögen solche Geschichten und Mythen als Ausdruck menschlich seelischen Geschehens nicht mehr geschrieben werden müssen.

Conrad Ferdinand Meyer trägt mit seiner Ballade zur Überwindung von Unversöhnlichkeit und Rache bei.

Und wie.

Zum Zeugen ruft er die Natur selbst.

Im sechsten und letzten Teil der Ballade reiten beide, der Edelmann und sein Blut-Gast frühmorgens durch den Wald.

Warum regt sich kein Lüftchen?

Hält selbst die Natur den Atem an?

Gewiss mag es die sprichwörtliche Ruhe nach dem Sturm sein, aber die Natur hält in der Tat für mich den Atem an, denn das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Doch brennen keine Füße mehr im Feuer. Im Edelmann brennt das Feuer der Vergebung, der Liebe, der Versöhnung.

In dem Wort Versöhnung verbirgt sich das Wort Sühne, und Sühne bedeutet unter anderem Kuss.

Ja, der Edelmann hat sich von der Liebe Gottes küssen lassen.

Einen wertvolleren Kuss gibt es nicht.

Sie reiten durch den Wald. / Kein Lüftchen regt sich heut. / Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad.

Die Natur gibt Zeugnis von dem inneren Kampf des Edelmanns.

Irgendwo im Netz las ich unlängst auf der Webseite eines Kollegen, wie er berichtet von seinem Deutschlehrer, der beim Vorlesen des Schlusses dieser Ballade geweint habe.

Mir geht das fast genauso. Wenn ich diese Ballade vorlese, weiß ich, dass ich am Schluss mich zusammenreißen muss. Ja, ja, ich weiß, auch Lehrer dürfen weinen …

Mich berührt das unglaublich, dieses Zeugnis der Natur;

dieser Sieg des Edelmannes über sich und seine Rache, ein Sieg, bei dem es keinen Verlierer gibt, nur einen Sieger, die Liebe.

Warum das so berührend ist:

Die Natur meint nicht, es müsste alles clean sein, sie meint nicht, am Morgen ein Vorgarten-Zauber-Zierstrauch-Gesicht zeigen zu müssen.

Unmittelbar bin ich erinnert an das Bild Rembrandts, von dem unlängst im Rahmen eines Postes die Rede war, jenem Bild, das die Himmelfahrt Jesu zeigt. Dieser Jesus zeigt seine Wundmale an den Händen. Ganz bewusst nimmt er seine Verletzung mit in den Himmel.

Der Himmel weiß um unsere Verletzungen, unsere Wunden,  unsere Kämpfe. Er will, dass wir sie nicht verleugnen. Für den Himmel, so glaube ich – und ich nehme an, auch Rembrandt sah das so (in der Bibel ist anlässlich der Himmelfahrt nicht von ihnen die Rede) – sind es Auszeichungen. Auch im Märchen Vom Wasser des Lebens kommt der Sohn zum Vater zurück, verletzt an der Ferse; und an dieser Verletzung erkennt der Vater, wem er das Wasser des Lebens verdankt. Lange habe ich mich gefragt, warum das sein muss, dass das Tor den Sohn noch erwischen muss. Seitdem ich die Predigt von Melitta Müller-Hansen gehört habe, der ich den Hinweis auf das Rembrandt-Bild verdanke, weiß ich, warum.

Auch die Natur zeigt ihre Verletzungen, ihre Kämpfe. Sie stehen für die Kämpfe der Menschen.

Nur angesichts dieser Verletzungen kann sich diese Dimension des Friedens, die sich unnachahmlich in der Ballade zeigt, vermitteln.

Der Kurier nimmt die Verletzungen der Natur sehr genau wahr. Seine Seele weiß genau, was sie bedeuten. Kein Wunder lauert er, er kann sich nicht vorstellen, dass diese Verletzungen von tiefem Frieden zeugen können. Noch einmal droht er unterschwellig, spricht von seinem größten König, dem er eigen ist, womit er  sich vermutlich auf den historischen Ludwig XIII. bezieht.

Der deutliche Hinweis für den Edelmann will sagen: Rühre mich nicht an. Du legst dich mit meinem König an.

Die Antwort des Edelmannes ist unmissverständlich. Er nimmt – in einem Wort-Spiel, das den großen inneren Ernst vermittelt – die Formulierung des nächtlichen Gastes auf und stellt dessen König seinen König gegenüber. In seiner Wortwahl, die so knapp ist, wie es nur sein kann, kommt ein großes Bekenntnis zum Ausdruck, das Bekenntnis zu seinem nächtlichen Kampf, nicht mit seinem Blut-Gast, sondern mit sich selbst. Und er verbirgt nicht, wie schwer der Dienst für SEINEN König ihm in der vergangenen Nacht gewesen ist. Er verschweigt nicht, dass er um die Tat seines Blut-Gastes weiß:

Gemordet hast du teuflich mir / mein Weib. 

Nicht von ungefähr findet sich mein Weib mittels eines Enjambements in der folgenden Zeile. Schlichter und zugleich wirkungsvoller kann dieses Opfer an dieser Stelle kaum herausgestellt werden.

Wie kann ein Enjambement so viel Schmerz tragen!

Vergleichbares habe ich nirgendwo gefunden.

So kann der frühere Hugenottenjäger, der schon damals den Edelmann umbringen wollte und sich stattdessen an dessen Weib vergriff, nicht im Zweifel bleiben, was die Natur versinnbildlicht und welche Leistung sein Gastgeber vollbracht hat.

Es war eine Nachtmeerfahrt der Seele zu sich selbst, gleichsam Gethsemane und Golgatha in einem. Man fährt sie allein und ist es doch nicht. – Engel wachen -. Und wenn die Fahrt überstanden ist, dann, so bin ich sicher, kehren sie, wie es in der Ballade heißt, heim, und berichten im Himmel von deiner Fahrt.

Der Himmel weiß um unsere Nachtmeerfahrten.

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PS: Mehr als sechs Jahre nach der Veröffentlichung des obigen Beitrages und angesichts der Besprechung dieser Ballade im Literaturkreis Bad Kissingen drängt es mich doch, ein PS zu schreiben, denn in der Tat – im Rahmen der Kommentare haben wir schon eine vergleichbare Diskussion geführt – würde ich heute den Schluss anders sehen, weil ich wichtig finde, was genau der Edelmann sagt. Ich finde es vor allem deshalb wichtig, weil er sich nicht heiliger macht, als er sich ausgeben könnte; in der Tat nämlich könnte er von Vergebung sprechen oder sie andeuten; auch Conrad Ferdinand Meyer könnte den Schluss bewusst anders gestaltet haben. Der Frieden der Natur legt fast „Vergebung“ nahe. Aber der Burgherr zitiert jene Stellen aus dem 5. Buch Mose, in der es heißt: Mein ist die Rache, spricht der Herr. Und auch jene Stelle bei Paulus in seinem Brief an die Römer (12.19) ist unmissverständlich: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschriebe: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«“

Der Edelmann hätte die Möglichkeit gehabt, den Kurier und Mörder seiner Frau zu töten – er tat es nicht. Und seine seelische Leistung liegt nicht in einer Vergebung, sondern darin,  dass er in der Lage ist, eine Vergeltung Gott anheim zu stellen. Mit welchen Gedanken er dieses Anheimstellen begleitet, wissen wir nicht, es könnten natürlich Gedanken des Wunsches nach einer Rache durch Gott sein. Selbst wenn es so wäre, wäre das, zu was er sich seelisch durchgerungen hat, ein hohes seelisches Gut. Selbst Paulus spricht im Übrigen nicht von Vergebung, sondern verwendet das Wort Rache.

Eine der wichtigsten Eigenschaften auf dem Weg unserer seelischen Entwicklung ist es, ehrlich die eigenen Gefühle wahrzunehmen.Vielleicht hat der Edelmann noch Gefühle der Rache; jedenfalls spricht er von ihr – und das ist gewiss ehrlich. Dieses Wort beschönigt nichts.- Heilger sein zu wollen als man ist, kann meinem Dafürhalten nach eine weitere seelische Entwicklung unglaublich blockieren. – Deshalb ist dieses Wort Rache wichtig.

Der Edelmann hat sich in der Nacht zu einem Verhalten und in seiner Wortwahl am Morgen zu etwas durchgerungen, was unseren höchsten Respekt verdient. Er ist damit auch seinen Kindern ein großes und für deren Leben so wichtiges Vorbild.

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11 Antworten zu Von der Gnade des Verzeihens, des Vergeben-Könnens. Conrad Ferdinand Meyers „Die Füße im Feuer“.

  1. gauting90 schreibt:

    Ich habe gewagt das Gedicht nachzudichten, um meinen Freunde zu lesen. Ich war bewundert als mein Kollege mir das Gedicht zu lesen gab.Ihre Kommentare sind professionell und sehr interessant. Wissen Sie es ist für mich, als Georgierin auch aktuell, weil wir ähnliche Situation der Gastfreundschaft im Werk von Waja Pschavela haben und immer dachte ich das im Gedicht über Gastfreundschaft der Georgier oder Kaukasen allgemeinlich geschildert wäre.Jetzt bin ich überzeugt,dass Christentum und religiose Weltanschauung für die Interpretation dieses Poems von Waja wichtiger sind.

  2. gauting90 schreibt:

    Hat dies auf narevi rebloggt.

  3. gauting90 schreibt:

    Darf ich Ihren Artikel übersetzen und zusammen mit der Übersetzung bloggen-

    • Hallo liebe Unbekannte,

      ich kenne Sie zwar nicht, aber ich habe das Gefühl, Ihnen vertrauen zu können.
      Viel Freude bei der Übersetzung und lassen Sie es mich wissen, wenn es soweit ist, dass ich alles in ihrer Sprache mal anschauen kann :-)

      Es freut mich, dass Ihnen das Gedicht und was ich geschrieben habe, gefällt.
      Ja, mir gefällt Conrad Ferdinand Meyers Ballade unglaublich gut. Gerade auch der Schluss, dieses Verzeihen-Können – und das bei dieser Vorgeschichte!
      Das kann sicherlich nur jemand, der glaubt und hofft und liebt.

      Waja Pschavela kenne ich nicht; ich finde auch im Netz nichts über sie. Können Sie mir ein paar Sätze zu ihr sagen?

  4. duregger andrea schreibt:

    Durch ein Gespräch sind wir auf die Hugenottenkriege gekommen und ich habe mich erinnert dieses Gedicht in der Schule gelesen zu haben. Es hat mich schon damals beeindruckt und ich war jezt beim Wiederlesen und von ihren Erläuterungen noch einmal mehr ergriffen.

  5. Ja, ich habe es ja nun schon oft gelesen, aber die Bilder sind einfach unglaublich eindrücklich – für mich auch der Schluss.

    Danke für Ihren Kommentar.

  6. Beridze Lali schreibt:

    Es war ein Spass bei der Nachdichtung.Toll!

  7. S. Spies schreibt:

    Sehr geehrter Hr. Klinkmüller,

    da ich dieses Gedicht demnächst mit meinen Schülern behandle, bin ich – auf der Suche nach Informationen und Material – auf ihre Interpretation gestoßen und wundere mich sehr über Ihre Deutung der „Vergebung“. Das Gedicht gibt keinerlei Hinweise darauf, dass der Hausherr dem Katholiken verzeiht, im Gegenteil. Dass der Edelmann überraschenderweise auf Rache verzichtet, ist damit zu begründen, dass er sich gewiss darüber ist, dass Gott im jüngsten Gericht diese Rache vollziehen wird. Er gehorcht Gott, da er darauf vertraut, dass dieser dem Mörder seiner Frau eine gerechte Strafe erteilt; er ergibt sich dem göttlichen Willen und legt sein Verlangen nach Vergeltung in seine Hände. Sein Verzicht auf Rache ist lediglich ein Aufschub der gerechten, von Gott in Zukunft zu vollziehenden Bestrafung. Dies kann allerdings nicht mit Vergebung gleichgesetzt werden, was in den letzten drei Zeilen der Ballade deutlich wird, deren Wortwahl anders ausgefallen wäre, würde es sich hierbei um eine Tat des Verzeihens handeln. Vor allem die Formulierung „Und lebst…“ zeigt, dass der Edelmann den Reiter lieber tot als lebendig sehen würde.

    Mit freundlichen Grüßen

    S. Spies

  8. Hallo Frau Spies,

    vielen Dank für Ihren Kommentar.

    Mit einigem Abstand, den ich heute zu meiner Interpretation habe, würde ich das ein oder andere so nicht mehr, auch insgesamt weniger elegisch schreiben.
    Rein formal haben Sie sicherlich Recht mit Ihrem Hinweis, dass man zwischen Vergebung und Verzicht auf Rache differenzieren kann, vielleicht sogar muss. Jedenfalls kann ich Ihre Sicht gut nachvollziehen. Vielleicht können Sie genau diesen Aspekt zum Schluss Ihrer Besprechung thematisieren, indem Sie einen Auszug meines Textes vorlesen und Ihre Sicht ihm gegenüber- und zur Diskussion stellen.
    Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Ihnen viele Ihrer Schüler Recht geben.
    In der Tat geht das schon sehr weit, was ich schreibe. Auf der anderen Seite ist mir Verzicht zu wenig. Wie die Natur dargestellt wird und auf welche Worte Meyer zurückgreift, das weist auf eine Ebene hin, die ich moralisch-ethisch höher ansiedle.
    Wo Sie das, was Sie finden, so ansprechen, wird mir bewusst, dass dieser letzte Satz mir nie so recht passen wollte. Es zieht diesen Kampf des Burgherren auf eine alttestamentarische Ebene, die mir mit dem Naturbild und dem Vokabular überwunden scheint. Allerdings: Meyer schreibt „Rache“ – und es ist sein Gedicht!
    Mir ist selbst, was Sie schreiben, nie in den Kopf gekommen. Wenn ich diese Gedanken gehabt hätte, hätte ich ziemlich sicher Obiges so nicht geschrieben. Damals, das weiß ich noch, hat mich, was ich geschrieben habe, genau so ganz und gar erfüllt.

    Jedenfalls finde ich es gut, dass Ihre Sicht als Korrektiv hinzukommt. Und wenn Ihnen viele zukünftige Leser zustimmen, kann ich das gut nachvollziehen.

    Liebe Grüße und gutes Gelingen!
    Johannes Klinkmüller

    • S. Spies schreibt:

      Guten Abend Hr. Klinkmüller,

      vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort.
      Einen Auszug Ihres Textes in der Klasse zur Diskussion zu stellen, ist eine gute Idee, die ich auch umsetzen werde.

      Ihnen alles Gute

      S. Spies

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