Ein weitgehend unbekanntes Juwel der deutschen Literatur: Goethes „Novelle“

Wollte man jemandem mittels 27 Reclam-Seiten vermitteln,

  • was es mit dem Bibelwort, wieder zu werden wie ein Kind auf sich hat;
  • mit der Bedeutung von Musik und der Symbolik von Tieren in Träumen und der Literatur;
  • mit der deutschen Klassik, die man ja auch Weimarer Klassik nennt;
  • wollte man jemandem den Goetheschen Kosmos in nuce erläutern:

die Novelle, die nichts anderes als diesen Titel trägt, wäre zu all dem und noch zu mehr bestens geeignet.

Sie würde vermitteln können, dass die Epoche der Klassik kein ästhetisch-abstraktes Gebilde fernab des realen Lebens ist – im Gegenteil. Denn genauso verhält es sich ja mit Goethe. Man mag ihn als Dichterfürsten beschreiben, aber man würde unterschlagen, was der Mann in seinem Leben alles war:

Vor seiner italienischen Reise, zu der er nach drei vergeblichen Anläufen endgültig 1786 – übrigens unter falschem Namen und ohne jemanden zu informieren – aufbrach, war er Erzieher des Fürsten zu Weimar, war Geheimer Legationsrat, also im Grunde ein enger Berater des Fürsten, Mitglied des Weimarer Ministeriums, engagierte sich für das Liebhabertheater, war Intendant des Hoftheaters, war auch zuständig für den Park, die Forsten und die Bauten, war in der Kriegs- und Wegebau-Kommission tätig, seit 1782 für die gesamten Staatsfinanzen verantwortlich, er reformierte das Verkehrs- und Versicherungswesen, war an der Organisation der Armee beteiligt, war beteiligt an der Reformierung des landwirtschaftlichen Bereichs und der Industrie, brachte die Jenaer Universitätsbibliothek auf Vordermann und hatte dort auch die Oberaufsicht über die naturwissenschaftlichen Institut , ja, hielt selbst Vorträge über Anatomie, schließlich war es ja auch er, der den Zwischenkieferknochen beim Menschen entdeckte und eine Wirbeltheorie des Schädels verfasste.

Sein ganzes Leben über war er naturwissenschaftlich tätig, schrieb über den Granit, zur Wetterkunde und Wolkenbildung, verfasste eine eigene Farbenlehre, beschäftigte sich mit der Botanik und der Urpflanze und  und und …

Nein, Goethe war nicht abgehoben, gewiss nicht. Zeit seines Lebens nicht. Nicht genannt ist ja bisher, dass er sich zig-mal verliebte, meistens dann etliche Gedichte verfasste; dass er tausende von Briefen schrieb und – wie nur wenige der Großen der Literatur – nicht nur in einer einzelnen Literaturgattung führend war, also nur im Bereich der Lyrik oder dem Drama oder der Prosa – nein, im Rahmen aller drei Gattungen schrieb er Wegweisendes; seinen Faust halten viele in der deutschsprachigen Literatur für unübertroffen – dem möchte ich mich anschließen.

Wenn also eine 27-seitige Novelle viel von diesem Mann offen legen kann, muss sie schon etwas Besonderes sein.

Das ist sie auch.

Wie so vieles bei Goethe basiert sie auf selbst Erlebtem, war er doch zumeist bei den zahlreichen Treibjagden des Fürsten mit dabei, erlebte auch einen Brand, bei dem er die Löscharbeiten selbst mit leitete und wir von ihm lesen: „Meine Augenbrauen sind versengt, und das Wasser, in meinen Schuhen siedend, hat mir die Zehen gebrüht (…)“.

Ja, jene Stelle der Novelle, die den Knaben der Schaustellerfamilie gleichsam in Verklärung zeigt, hat Goethe im Grunde selbst erlebt, wenn er schreibt:

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In der Gegend von Teplitz ging ich eines Tags bei unfreundlichem Wetter durchs Feld. Der Himmel, stürmend, bedrohte mit Regen, und doch trieb mich etwas den frei stehenden Schloßberg hinan. Strichregen gingen an mir vorüber und über mich weg, und es war ein verdrießlicher Zustand, als ich mich oben zwischen altem grauem Gemäuer sah, das ohne Licht, Schatten und Farbe widerwärtig neben und über einander stand und lag!

Als ich mir nun selbst ein Rätsel schien, bot sich die willkommenste Auflösung dar. Ich trat in eins der Gewölbe, um mich vor dem Regen zu schützen, und erblickte darin mit Verwunderung den schönsten Knaben von der Welt, der in Begleitung eines alten Mannes hier gleichfalls Schutz gesucht. Reinlich gekleidet, eher ärmlichen Bürgern als wohlhabenden Bauern ähnlich, standen sie auf und erwiderten meinen Gruß. Sie bestätigten meine Vermutung. Es waren Bürger eines kleinen Ortes, notdürftig, wenn auch nicht kümmerlich lebend; sie hofften durch einen Besuch bei entfernten Verwandten ihren Zustand zu verbessern, und so zogen sie durchs Land. Bei Erblickung des Schloßberges hatte der Knabe bei frischem und lebendigem Höhesinn den Vater bewogen, diesen Gipfel von jenseits zu ersteigen, indes ich von der anderen Seite herankam. In dieser Mauerhöhle das schöne Wunderkind zu sehen, machte mich lächeln, ich danke dem Genius, der mich bei dem Schopf herangezogen hatte, und gab nach treulichen Glückwünschen dem Knaben als Reisezehrung alles, was ich bei mir fand, und habe mich des unschuldigen Abenteuers gern erinnert.

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Es ist ein Kennzeichen dieser großen Seele, dass sie in allem, was sie tut und erlebt, das Überdauernde, Überzeitliche, das Symbolische sucht und erkennt. Das wird in der Novelle deutlich werden.

Mit am deutlichsten wird das auch in Goethes Gedichten, man denke nur an an jenes, das er angesichts des Staubbachfalls im wunderschönen Lauterbrunnental – allemal ein Besuch wert – schrieb und Gesang der Geister über den Wassern nannte, in dem das Wasser zum Sinnbild der Seele wird, deren Kreislauf – für Goethe war Reinkarnation selbstverständlich – dem Kreislauf wiederum eben des Wassers entspricht:


Des Menschen Seele

Gleicht dem Wasser:

Vom Himmel kommt es,

Zum Himmel steigt es,

Und wieder nieder

Zur Erde muss es,

Ewig wechselnd.

 

Strömt von der hohen,

Steilen Felswand

Der reine Strahl,

Dann stäubt er lieblich

In Wolkenwellen

Zum glatten Fels,

Und leicht empfangen

Wallt er verschleiernd,

Leisrauschend

Zur Tiefe nieder.

 

Ragen Klippen

Dem Sturz entgegen,

Schäumt er unmutig

Stufenweise

Zum Abgrund.

 

Im flachen Bette

Schleicht er das Wiesental hin,

Und in dem glatten See

Weiden ihr Antlitz

Alle Gestirne.

Wind ist der Welle

Lieblicher Buhler;

 

Wind mischt vom Grund aus

Schäumende Wogen.

 

Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser!

Schicksal des Menschen,

Wie gleichst du dem Wind!

Natürlich hat auch der Wind hier eine symbolische Bedeutung, denn auch er ist ja zusammen mit dem Wasserelement ein seelisches Element. Das zeigen uns viele Sprachen an, in denen dieselben Worte stehen für Luft und Hauch ebenso wie für Seele: im Lateinischen anima bzw. animus und spiritus, im Griechischen pneuma, im Fernöstlichen Qi (Energie, Fluidum), im Hebräischen ruach …

In dem allermeisten, was Goethe schreibt, geht es ihm um die Höhere Natur des Menschen, zu der es sich zu verwandeln gilt. So wird gerade auch die Liebe eine Möglichkeit, wahrhaft fromm zu sein. Diese Sicht auf das Leben, im Realen das Ideale zu sehen und das Ideale im Leben zu suchen und zu finden, ist es, was für mich das Wesen der Klassik ausmacht. Wer das Innere nicht in der Weise zu bewegen vermag wie Goethe, dem mag sie starr werden, mag starr  und abgehoben auf ihn wirken. Für Goethe, für den das Leben ein ewiges Ein- und Ausatmen ist, dabei eine ständige Verwandlung, ist das gewiss nicht der Fall.

Weil ich im Moment nicht die Zeit habe, mich diesen Aspekten in der Novelle ausführlicher zu widmen und darzulegen, füge ich hier meine Ausführungen zur Novelle aus meinem Blog zum Inneren Kind ein; sie legen den Schwerpunkt auf die Bedeutung des Kindes, das nun einmal auch im geistigen Mittelpunkt der Novelle steht, aber immer wieder blitzt auch einiges von dem Überdauernden auf, was uns Goethes Wirken zu vermitteln vermag. Ohnehin ist das innere Kind ja ein zentrales Thema unseres Seins und es ist kein Zufall, wie sehr so oft Kinder im Mittelpunkt Goetheschen Schaffens stehen, man denke nur, wie sehr sie immer wieder im Werther – wenn auch nur für kurz – in den Mittelpunkt rücken. In der Novelle geschieht das in ganz auffälligem Ausmaß.

Da sich die Leser meines Blogs zum Inneren Kind und diesem hier, Methusalem, meines Wissens kaum überschneiden, erlaube ich mir, zu dieser Lösung zu greifen, weil ich es schade fände, wenn Menschen und Leser dieses Blogs sich der Novelle nicht nähern könnten; es lohnt sich in mehrfacher Hinsicht.

So wünsche ich aufschlussreiches Lesen :-))

⤵⤵⤵

Wussten Sie, dass unser inneres Kind ein Meister des Feuerelementes sein und ihm die Kraft des Löwen zur Verfügung stehen kann?

Auch Ihrem inneren Kind?!

Wenn nicht, sollten Sie Johann Wolfgang von Goethes Novelle lesen, in der Reclam-Ausgabe gerade mal 27 Seiten lang und außerdem auf Gutenberg zu finden.

Da steht alles drin. Und dazu gleich mehr. Vorab noch drei Bemerkungen:

In der Literatur finden sich immer wieder Beispiele der Ausgestaltung innerer Kinder. Oft sind es handelnde Personen, sozusagen literarisch reale Kinder, die aber Merkmale dessen tragen, was innere Kinder zeigen, wenn sie unverletzt sind oder ihre Verletzungen geheilt haben oder auf dem Weg dazu sind.

Solche Ausgestaltungen finden wir im ganz und gar Positiven in der Gestalt von Michael Endes Momo und in der Gestalt des ein oder anderen Märchenhelden. Für eine Ausgestaltung im Negativen habe ich das im Hinblick auf Bertolt Brechts Von der Freundlichkeit der Welt aufgezeigt. 

Es gibt weitere Beispiele, die anhand der Reaktion auf ein intaktes inneres Kind zeigen, dass keine Empfänglichkeit für den Stoff da ist, weil seine tiefere Bedeutung nicht annähernd erfasst wird, erfasst werden kann.

Das gilt für Gottfried Benn, der im Hinblick auf den Inhalt von Goethes Novelle kommentiert:

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… wirkt das nicht alles wie Karikatur? Betrachten Sie das Ganze: wilde Tiere brechen aus einer Menagerie aus, und alles verläuft harmonisch! Das Säuseln eines Knaben besänftigt die Natur. Gewiß, das Erhabene sieht alles vereint und weiß für alles Auswege, aber ist das nicht einfach hier: Bequemlichkeit? Führt das nicht zurück auf eine Stufe, die wohl einmal war, vielleicht aber für uns verloren ist, warum hexen und zaubern und Alterssprüche vom Stapel lassen, daß es anders sei?

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Nein, Gottfried Benn hat keine Antenne für diesen Stoff, er kann alles nur mehr oder weniger als infantile Regression deuten; wenn wir seine Texte lesen, ahnen wir auch, warum; deshalb kann dieser Text, kann die Novelle bei ihm  auch gewiss nicht ihre Heilkraft entfalten, denn – und das ist mein zweiter Punkt: 

Es gibt Geschichten, Märchen, Texte, die heilsam sind. Und zwar heilen sie nicht dadurch, dass man über sie nachdenkt, sondern sie heilen durch ihre Bilder. Diese wirken unmittelbar auf das Unbewusste, und wenn sich der Verstand dazwischenschaltet, kann es sein, dass dieser deren Wirkkraft blockiert; das muss nicht sein, aber bei Gottfried Benn und anderen ist es offensichtlich so.

Bilder, wie sie in Momo und in der Novelle oder auch in Novalis´ Heinrich von Ofterdingen vorkommen, wirken durch ihre bild-ende Kraft; ja, in der Tat: Bildung ist als Wort abgeleitet von dem Wort Bild und tatsächlich ist es so: Bilder bilden!

Der Verstand kann das bei weitem nicht so effektiv, insbesondere nicht, was die Bildung unserer Seele ausmacht.

Wenn Sie von daher Äußerungen Benns zu Krankheit und Siechtum in Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke oder zum Thema Liebe in Nachtcafé lesen und auf die Bilder achten, dann wissen Sie, warum die Bilder der Novelle in diesem Mann nur schwerlich wirken können.

 Wie gesagt, sie können heilen. In einer tiefen Krise in meinem Leben habe ich abends einfach manchmal ein Grimm-Märchen gelesen, wahlllos, einfach eines der großen, sei es Aschen-puttel oder Dornröschen oder Rapunzel. – Danach kann man wie getröstet einschlafen.
 Die dritte Bemerkung bezieht sich auf den Umstand, dass die Novelle – diese Bezeichnung war Goethe als Titel genug, sie war für ihn einfach die Bezeichnung für eine unerhörte Begebenheit – in Goethe wie eine Frucht reifte, über 30 Jahre hin. 1797 entwirft er den Plan zu einem epischen Gedicht, genannt „Die Jagd“ und erwähnt es gegenüber Schiller und Wilhelm von Humboldt. Doch es dauert fast 30 Jahre, bis er es ausführt, dann als Prosatext, der mit dem Lied des Kindes endet, nachdem jenes – bezeichnenderweise erfahren wir seinen Namen nicht – den Löwen nicht besiegte, sondern sich ihm näherte wie einem Freund – kein Wunder, war doch auch der Löwe ein Teil von ihm.

Die letzte Strophe lautet:

                                 

      Und so geht mit guten Kindern

      Sel´ger Engel gern zu Rat,

      Böses Wollen zu verhindern,

      Zu befördern schöne Tat.

      So beschwören, fest zu bannen

      Liebem Sohn ans zarte Knie

      Ihn, des Waldes Hochtyrannen,

      Frommer Sinn und Melodie.


Die Handlung spielt in einem Fürstentum und zweifelsohne ist der Fürst ein aufgeklärter, wie man jene bezeichnet, die nicht mehr im Stile eines absoluten Herrschers regierten, sondern zum Wohle ihres Volkes. Dennoch aber zeigt sich innerlich Unaufgearbeitetes in ihm, wenn es heißt, dass er sich vorgenommen hatte, mittels einer Jagd „die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder durch einen unerwarteten Kriegszug zu beunruhigen.“

Als die Jagdgesellschaft gerade aufgebrochen war, bricht im Dorf ein Feuer aus, in dessen Folge Tiere einer Schaustellertruppe ausbrechen, ein Tiger und ein Löwe.

Die Gemahlin des Fürsten war nicht mit zur Jagd gekommen, sondern war mit dem Oheim des Fürsten und Honorio, einem Junker, den der Fürst zu ihrer Begleitung und als dienstbaren Boten zur Seite gegeben hatte, unterwegs in Richtung der alten Stammburg; sie befanden sich auf halber Bergeshöhe, als sie des Feuers gewahr wurden, das, wie sie aus der Ferne wahrnahmen, auf dem Marktplatz ausgebrochen war und sie zur Umkehr veranlasste. Der Fürst-Oheim war schon vorausgeritten, als die Fürstin in Begleitung Honorios den Tiger wahrnimmt, der sich auf sie zubewegt. 

In wenigen Zeilen gelingt es Goethe, die Dramatik der Szene vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen. Honorio gelingt es, mit einem Schuss den Tiger zu erlegen, ein Geschehen, das sich im Nachhinein als nicht notwendig herausstellen sollte, denn der Tiger war zahm.

Mag sein, dass Honorio das nicht erkennen konnte, mag aber auch sein, dass er vor der Fürstin zu gern Held sein wollte; jedenfalls sprengte er in unnachahmlicher Manier heran und mit seiner zweiten Pistole gelang es ihm, den Tiger zur Strecke zu springen. Auf ihm kniend empfängt er den Dank der Fürstin und spricht davon, dass er sich vorstelle, wie das Fell des Tigers die Fürstin  zur Lust bekleidet – „begleitet“, schreibt Goethe.

 Vor allem im Alterswerk Goethes ist alles hochsymbolisch, und so hat natürlich auch das Feuerelement, das hier im Dorf verrückt spielt, eine Bedeutung. Sicherlich steht es im Zusammenhang mit dem Feuer der Unruhe, das der Fürst absichtsvoll in die Wälder tragen wll, um die dortigen Tiere aufzuschrecken und zur Strecke zu bringen, es hat aber vor allem mit der Leidenschaft zu tun, die in jenem jungen Edelmann zur Gattin des Fürsten auflodert.

Selbst in der verhaltenen Darstellung, die wir im Alterswerk Goethes finden, wird klar, dass es in diesem jungen Mann lichterloh brennt und die Fürstin dies durchaus auch wahrnimmt.

Hier kann nicht darauf eingegangen werden, wie wertvoll es ist, sich die Reaktion der Fürstin und auch des jungen Mannes zu Gemüte zu führen; sie fallen nämlich nicht in Dschungelcampmanier übereinander her, sondern er akzeptiert, dass die Fürstin verheiratet und nicht zu haben ist, und sie bittet ihn aufzustehen, nicht auf den Knien zu bleiben, eine Haltung, die suggerieren könnte, dass er um ihre Gunst und Zuneigung bittet. 

Der junge Mann löst die Situation, indem er kniend darum bittet, auf eine Reise gehen zu dürfen.

Es will also nicht geschehen, was Goethes Werther nicht schaffte, sich nämlich von seiner an Albert vergebenen Lotte zu lösen, obwohl er eigentlich schon Abschied genommen hatte, was seinen Tod und Lottes tiefen Schmerz zur Folge hatte, sondern Honorio ist bereit zu entsagen, zu verzichten:

ein Aspekt, der gerade in unserer heutigen Zeit ganz und gar in Vergessenheit geraten zu sein scheint und doch für die seelische Bildung unverzichtbar ist.

 Was beide zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, ist, dass auch der Löwe ausgebrochen ist und sich in der alten, zum Teil verfallenen Stammburg befindet, die oberhalb des Dorfes auf einem Bergrücken liegt.

Der Fürst, mit seinem Jagdgefolge inzwischen zurückgekehrt, weil auch er den Brand wahrgenommen hatte, erfährt, dass auch der Löwe los ist und lässt die Gewehre laden. Doch ein Mann bittet um das Leben des Löwen; er stellt sich als Vater innerhalb der Schaustellerfamilie heraus, die im Dorf verweilte, als das Feuer ausbrach, die miterleben musste, dass schon ihr Tiger getötet worden war und die nun händeringend um das Leben ihres Löwen fleht.

Er bietet sich an den Löwenkäfig zu holen und spricht, indem er auf seine Frau uns ein Kind verweist:

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„Hier diese Frau und dieses Kind (…) erbieten sich, ihn zu zähmen, ihn ruhig zu erhalten, bis ich den beschlagenen Kasten heraufschaffe, da wir ihn denn unschädlich und unbeschädigt wieder zurückbringen werden«.

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Das Kind beginnt nun, auf einer Flöte zu spielen, und es heißt:

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„Das Kind verfolgte seine Melodie, die keine war, eine Tonfolge ohne Gesetz, und vielleicht eben deswegen so herzergreifend; die Umstehenden schienen wie bezaubert von der Bewegung einer liederartigen Weise (…)“.

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Ja, es war eine Melodie ohne Gesetz, aber aus dem Herzen; sie folgte sozusagen den Gesetzen des Herzens.

Seltsamerweise und auffallend ist, dass ein Wächter, der oben auf der Burg sich befunden hatte und nun herangelaufen kommt, berichtet, der Löwe liege auf der Burg im Sonnenschein.

 Das allerdings ist kein Zufall. In der astrologischen Symbolik ist der Löwe dem Feuerelement zugeordnet und der Löwe als Feuerzeichen beherrscht den Planeten Sonne. Dieser Symbolik war sich Goethe, der mt dem Wissen des Paracelsus höchst vertraut war, bewusst, und es entsprach auch seinem Denken.

Aber es ist dies kein spezifisch paracelsisch-goethesches Denken, sondern entspricht tiefem inneren Menschheitswissen, denken wir nur daran, dass die Taten des Herakles alle den astrologischen Symbolen im Zodiakus, im Tierkreis zuzuordnen sind, eine Tatsache, die die Mythenforschung weitgehend ignoriert.

Klar hört das nicht gern, wer Astrologie als pure Scharlatanerie abtut, obwohl Keppler, Goethe und nicht wenige andere ihr durchaus große Bedeutung zumaßen.

 Um die Bedeutung von Sonne, Feuer und Löwe in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, muss noch einmal herausgehoben sein, dass der Löwe sich auf der alten Stammburg aufhält, einer Burg, die, bis auf einen Weg, der freigelegt worden war, keinen weiteren Zugang mehr besaß. Im Verlauf der Novelle wird sie in mehreren Zusammenhängen beleuchtet, auf die ich hier nicht näher eingehen kann und die dem Goetheschen Prinzip der wiederholten Spiegelungen entsprechen, aber so viel ist klar, dass sie „von alten Zeiten“ herkommt und sich in ihr die „alten Spuren längst verschwundener Menschenkraft mit der ewig lebenden und fortwirkenden Natur in dem ernstesten Streit erblicken lassen.“

Diese Burg also symbolisiert das ewige Verhältnis von Naturgesetzlichkeit und Wirken der Menschenkraft. Sie steht symbolisch für das Wissen darum seit alters her.

Genau an diesem Platz in der Sonne hält sich der Löwe auf und er verweist damit darauf, dass es um ein Geschehen geht, dass diese Dimension in sich trägt: Es geht um ein Bewusstsein und Wissen von alters her.

Dieses Wissen macht das Kind mit seinem Tun für die Anwesenden fruchtbar, denn es sorgt dafür, dass die Kraft des Löwen und das, was er darstellt, nämlich die Kraft des Herzens, nicht umgebracht wird; alle, die zugegen sind – und auch wir als Leser – werden Zeugen eines Geschehens, das die Anwesenden und uns mit diesem Wissen, das seit alters her existiert, wieder neu verbinden will.

Das aber kann nur ein Kind leisten.

Ein puer aeternus, ein Knabe von Ewigkeit her, wie er in uns allen ist und wie er sich natürlich auch in der Geburt von Jesus findet. Was Letzterer bringt, will ja in jedem von uns sein, und es ist ein Bewusstsein jenseits jeglicher Konfession; mancher Atheist mag es leben „gegen“ seinen Willen :-))

Dieses Wissen um das Kind, um den ewigen Knaben, das ewige Kind, ist bereits ein vorchristliches Wissen. Deshalb erfahren wir, wie Moses auf den Wassern des Nil überlebt, deshalb hören wir von David  und seinen Kampf gegen Goliath, deshalb wissen wir um die apokryphe Schrift des Tobias, der von dem Erzengel Raphael geleitet, das Heilmittel für seinen blinden Vater nach Hause bringen kann.

Deshalb wirkt das Kind in der Novelle schon, bevor es den Löwen besänftigt, schon auf die Erwachsenen ein; für sie singt es seine Verse, denn deren Einstellung, deren Sinnen ist Voraussetzung dafür, dass der Löwe sich genauso verhält!

So singt das Kind „mit reiner Kehle, heller Stimme und geschickten Läufen“, vom Vater auf der Flöte begleitet, seine drei Strophen, die auf biblisches und mythologisches Geschehen Bezug nehmen, ein Bezug, der früheren Lesern geläufig war, heute aber, da die Bibelkenntnis so zurückgegangen ist, dass Golgatha für eine Zahnpasta und Gethsemane für eine Rockgruppe, nicht aber für den Garten, in dem Jesus seine letzten Anfechtungen vor seinem Tod erleiden musste, gehalten wird.

 Das erste Bild, das im Folgenden den Propheten im Graben anspricht, bezieht sich allerdings auf eine sehr unbekannte apokryphe Schrift mit dem Titel „Vom Drachen zu Babel“, in der ein Engel den Habakuk, ein Landmann, in Judäa lebend, der einen Brei für seine Schnitter auf dem Feld gekocht hatte, am Schopf packt und durch die Lüfte nach Babylon zu der Löwengrube trägt, damit Daniel inmitten seiner Löwen eine Speise erhalte; darauf also nimmt die erste Strophe des Liedes Bezug:

                                      ●

      Aus den Gruben, hier im Graben

      Hör ich des Propheten Sang;

      Engel schweben, ihn zu laben,

      Wäre da dem Guten bang?

      Löw und Löwin hin und wieder,

      Schmiegen sich um ihn heran;

      Ja, die sanften frommen Lieder

      Haben´s Ihnen angetan!

                                   ●

       Engel schweben auf und nieder

      uns in Tönen zu erlaben,

      Welch ein himmlischer Gesang!

      In den Gruben, in dem Graben

      Wäre da dem Kinde bang?

      Diese sanften frommen Lieder

      Lassen Unglück nicht heran:

      Engel schweben hin und wider

      Und so ist es schon getan.

                       

      Denn der Ew´ge herrscht auf Erden,

      Über Meere herrscht sein Blick;

      Löwen sollen Lämmer werden,

      Und die Welle schwankt zurück;

      Blankes Schwert erstarrt im Hiebe;

      Glaub´  und Hoffnung sind erfüllt;

      Wundertätig ist die Liebe,

      Die sich im Gebet enthüllt.

                               

Und nun heißt es in der Novelle:

.

Alles war still, hörte, horchte, und nur erst, als die Töne verhallten, konnte man den Eindruck bemerken und allenfalls beobachten. Alles war wie beschwichtigt, jeder in seiner Art gerührt. Der Fürst, als wenn er erst jetzt das Unheil übersähe, das ihn vor kurzem bedroht hatte, blickte nieder auf seine Gemahlin, die, an ihn gelehnt, sich nicht versagte, das gestickte Tüchlein hervorzuziehen und die Augen damit zu bedecken. Es tat ihr wohl, die jugendliche Brust von dem Druck erleichtert zu fühlen, mit dem die vorhergehenden Minuten sie belastet hatten. Eine vollkommene Stille beherrschte die Menge; man schien die Gefahren vergessen zu haben, unten den Brand und von oben das Erstehen eines bedenklich ruhenden Löwen. 

.

An den Erwachsenen schon zeigt sich, was sich nachher auch an dem Löwen zeigen wird.

Der Fürst selbst fragt vorsichtshalber die Mutter:

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»Ihr glaubt also, daß Ihr den entsprungenen Löwen, wo Ihr ihn antrefft, durch Euren Gesang, durch den Gesang dieses Kindes, mit Hülfe dieser Flötentöne beschwichtigen und ihn sodann unschädlich sowie unbeschädigt in seinem Verschluß wieder zurückbringen könntet?«

.

Der Wärtel, der Wärter also, versichert der Mutter, dass er mit schussbereitem Gewehr dastehe; auch Honorio sitzt mit gespannter Doppelbüchse auf einem Mauerstück, um sofort eingreifen zu können, wiewohl der Knabe zunächst allein, ohne dass von außen eingegriffen werden könnte, in das Burggemäuer hinein muss, wohin sich der Löwe zurückgezogen hat.

Doch die Mutter weiß:

.

»Die Umstände sind alle nicht nötig; Gott und Kunst, Frömmigkeit und Glück müssen das Beste tun«.– »Es sei«, versetzte der Wärtel; »aber ich kenne meine Pflichten. Erst führ ich Euch durch einen beschwerlichen Stieg auf das Gemäuer hinauf, gerade dem Eingang gegenüber, den ich erwähnt habe; das Kind mag hinabsteigen, gleichsam in die Arena des Schauspiels, und das besänftigte Tier dort hereinlocken!« Das geschah; Wärtel und Mutter sahen versteckt von oben herab, wie das Kind die Wendeltreppen hinunter in dem klaren Hofraum sich zeigte und in der düstern Öffnung gegenüber verschwand, aber sogleich seinen Flötenton hören ließ, der sich nach und nach verlor und verstummte. Die Pause war ahnungsvoll genug; den alten, mit Gefahr bekannten Jäger beengte der seltene menschliche Fall. Er sagte sich, daß er lieber persönlich dem gefährlichen Tiere entgegenginge; die Mutter jedoch, mit heiterem Gesicht, übergebogen horchend, ließ nicht die mindeste Unruhe bemerken. Endlich hörte man die Flöte wieder; das Kind trat aus der Höhle hervor mit glänzend befriedigten Augen, der Löwe hinter ihm drein, aber langsam und, wie es schien, mit einiger Beschwerde. Er zeigte hie und da Lust, sich niederzulegen; doch der Knabe führte ihn im Halbkreise durch die wenig entblätterten, buntbelaubten Bäume, bis er sich endlich in den letzten Strahlen der Sonne, die sie durch eine Ruinenlücke hereinsandte, wie verklärt niedersetzte und sein beschwichtigendes Lied abermals begann, dessen Wiederholung wir uns auch nicht entziehen können:   

                            

        Aus den Gruben, hier im Graben

        Hör ich des Propheten Sang;

        Engel schweben, ihn zu laben,

        Wäre da dem Guten bang?

        Löw und Löwin hin und wieder,

        Schmiegen sich um ihn heran;

        Ja, die sanften frommen Lieder

        Haben´s Ihnen angetan!

                              

Zum Schluss heißt es noch:

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(…) das Kind (sah) in seiner Verklärung aus wie ein mächtiger, siegreicher Überwinder, jener (der Löwe also) zwar nicht wie der Überwundene, denn seine Kraft blieb in ihm verborgen, aber doch wie der Gezähmte, wie der dem eigenen friedlichen Willen Anheimgegebene.

.

Ja, das Kind wird sogar dem Löwen noch einen Dorn aus dem Fußballen ziehen, bevor die Schlussverse die Novelle beschließen.

Im Grunde verrät das Goethesche Vokabular schon, wenn er zweimal von Verklärung und ebenfalls von siegreicher Überwindung schreibt, dass der alte Weimarer wusste, dass er hier eine im Grunde heilige Szene gestaltete, eine archetypische, die in jedes Menschen Herzen eingelagert ist, denn der Löwe bedeutet nun einmal die Kraft des Herzens und es ist jenes heilige Kind in uns, das diese Kraft den Leidenschaften entreißen kann und sie nutzbar machen kann einem Frieden in uns und unter den Menschen, einem Zustand der Liebe, von dem Goethe in seiner Marienbader Elegie gesprochen hat, indem er schrieb: Wir nennen´s fromm sein

Kein Zufall, dass auch in der Novelle von Frömmigkeit und fromm sein gesprochen wird

Nur das Kind in uns kann uns den Garten oder auch die Stammburg – um im Bild der Novelle zu bleiben – zu jener höheren Natur aufschließen, die sich in jedem von uns befindet, um dort den Löwen zu treffen.

Gewiss ein Weg der Überwindung.

Über und durch viele Leben.

Aber ich glaube, das Bewusstsein der Menschen ist weiter, als es den Anschein haben will, und manche und mancher suchen und finden den Kontakt zu diesem Kind in uns und ebenso nicht zum zerstörenden, sondern zum heiligen Feuer und zu jener Kraft, dem Mut, den wir brauchen, um diesen Weg zu jenem Kind in uns zu gehen.

Kleiner Nachtrag, aus dem Leben gegriffen: Lion hugs woman

 

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Buchveröffentlichung Gedichtinterpretationen gestalten lernen
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