… und hört im Herzen auf zu sein. – Eine Welt ohne Stäbe, ist sie möglich? – Rilkes „Der Panther“

Der Untertitel des Gedichtes lautet:

Im Jardin des Plantes, Paris
.

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe 
so müd geworden, dass er nichts mehr hält. 
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe 
und hinter tausend Stäben keine Welt. 

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, 
der sich im allerkleinsten Kreise dreht, 
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, 
in der betäubt ein großer Wille steht. 

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille 
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, 
geht durch der Glieder angespannte Stille – 
und hört im Herzen auf zu sein.

Wir sehen die Stäbe nicht, die uns umgeben, von denen Rilkes Gedicht Der Panther spricht, und doch ist unser Sein voll von ihnen. Mit jedem Urteil errichten wir einen neuen Stab. – Und wieviele Urteile haben wir nicht schon gefällt?

Doch es sind nicht nur die eigenen Urteile, es sind auch die Wertungen unserer Eltern, die wir übernommen haben, die Ansichten unserer Lehrer, die sie in unseren offenen kindlichen Seelen platziert haben, oder die des Pfarrers, dem ich als Kind so vertrauensvoll zuhörte.

Es sind die erwähnten Worte unserer Vorbilder und Erziehungsberechtigten, die unsere Gedanken prägten und eine Welt formten, die es nur so in unseren Gedanken gibt. Wir tun dasselbe mit unseren Kindern und ständig formatieren wir die Welt, die uns umgibt.

Wer glaubt, er drehe sich nicht in  jenem allerkleinsten Kreise, von dem wir bei Rilke lesen, der kommt sich womöglich so neunmalklug vor wie jene Menschen in E.T.A. Hoffmanns Erzählung  Der Goldene Topf, denen wir zunächst lauschen wollen. Wir befinden uns in Hoffmanns Werk bereits in der 10. Vigilie, in der 10. Nachtwache also, und unser Held Anselmus hat schon einiges erlebt, vielleicht sogar die wahre Liebe schon erfühlt – so sicher ist alles noch nicht, noch ziert sich seine alles geliebte grüne Schlange namens Serpentina, aber die Geschehnisse bisher weisen ihn als als einen aus, der den Weg eines Märchenhelden geht, einen Weg des Bewusstseins also, ist doch auch der Goldene Topf, so der Untertitel, ein Märchen aus der neuen Zeit.

Anselmus erkennt mit einem Mal, dass er in einem Glas gefangen ist, ein Los, dass er mit fünf Studierenden und Praktikanten teilt, die ihr Los allerdings keineswegs gleich ihm wahrnehmen; der Erzähler jedenfalls beginnt die 10. Vigilie mit den folgenden Worten, den Leser um ein Gedankenexperiment bittend:.

Mit Recht darf ich zweifeln, daß du, günstiger Leser, niemals in einer gläsernen Flasche verschlossen gewesen sein solltest, es sei denn, daß ein lebendiger neckhafter Traum dich einmal mit solchem feeischen Unwesen befangen hätte. War das der Fall, so wirst du das Elend des armen Studenten Anselmus recht lebhaft fühlen; hast du aber auch dergleichen nie geträumt, so schließt dich deine rege Fantasie mir und dem Anselmus zu Gefallen wohl auf einige Augenblicke in das Kristall ein. – Du bist von blendendem Glanze dicht umflossen, alle Gegenstände rings umher erscheinen dir von strahlenden Regenbogenfarben erleuchtet und umgeben – alles zittert und wankt und dröhnt im Schimmer – du schwimmst regungs- und bewegungslos wie in einem festgefrornen Äther, der dich einpreßt, so daß der Geist vergebens dem toten Körper gebietet. Immer gewichtiger und gewichtiger drückt die zentnerschwere Last deine Brust – immer mehr und mehr zehrt jeder Atemzug die Lüftchen weg, die im engen Raum noch auf und niederwallten – deine Pulsadern schwellen auf, und von gräßlicher Angst durchschnitten zuckt jeder Nerv im Todeskampfe blutend. – ( …) – Er konnte kein Glied regen, aber seine Gedanken schlugen an das Glas, ihn im mißtönenden Klange betäubend, und er vernahm statt der Worte, die der Geist sonst aus dem Innern gesprochen, nur das dumpfe Brausen des Wahnsinns. – Da schrie er auf in Verzweiflung: »O Serpentina – Serpentina, rette mich von dieser Höllenqual!« Und es war, als umwehten ihn leise Seufzer, die legten sich um die Flasche wie grüne durchsichtige Holunderblätter, das Tönen hörte auf, der blendende verwirrende Schein war verschwunden, und er atmete freier. »Bin ich denn nicht an meinem Elende lediglich selbst schuld, ach! habe ich nicht gegen dich selbst, holde, geliebte Serpentina, gefrevelt? – habe ich nicht schnöde Zweifel gegen dich gehegt? habe ich nicht den Glauben verloren und mit ihm alles, alles, was mich hoch beglücken sollte? – Ach, du wirst nun wohl nimmer mein werden, für mich ist der goldne Topf verloren, ich darf seine Wunder nimmermehr schauen. Ach, nur ein einziges Mal möcht‘ ich dich sehen, deine holde süße Stimme hören, liebliche Serpentina!« – So klagte der Student Anselmus, von tiefem schneidendem Schmerz ergriffen, da sagte jemand dicht neben ihm: »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen, Herr Studiosus, warum lamentieren Sie so über alle Maßen?« – Der Student Anselmus wurde gewahr, daß neben ihm auf demselben Repositorium noch fünf Flaschen standen, in welchen er drei Kreuzschüler und zwei Praktikanten erblickte. – »Ach, meine Herren und Gefährten im Unglück«, rief er aus, »wie ist es Ihnen denn möglich, so gelassen, ja so vergnügt zu sein, wie ich es an Ihren heitern Mienen bemerke? – Sie sitzen ja doch ebenso gut eingesperrt in gläsernen Flaschen als ich und können sich nicht regen und bewegen, ja nicht einmal was Vernünftiges denken, ohne daß ein Mordlärm entsteht mit Klingen und Schallen, und ohne daß es Ihnen im Kopfe ganz schrecklich saust und braust. Aber Sie glauben gewiß nicht an den Salamander und an die grüne Schlange.« »Sie faseln wohl, mein Herr Studiosus«, erwiderte ein Kreuzschüler, »nie haben wir uns besser befunden als jetzt (…) wir gehen jetzt alle Tage zu Josephs oder sonst in andere Kneipen, lassen uns das Doppelbier wohlschmecken, sehen auch wohl einem hübschen Mädchen in die Augen, singen wie wirkliche Studenten: ›gaudeamus igitur‹ und sind seelenvergnügt.« (…) »Aber meine besten, wertesten Herren!« sagte der Student Anselmus, »spüren Sie es denn nicht, daß Sie alle samt und sonders in gläsernen Flaschen sitzen und sich nicht regen und bewegen, viel weniger umherspazieren können?« – Da schlugen die Kreuzschüler und die Praktikanten eine helle Lache auf und schrieen: »Der Studiosus ist toll, er bildet sich ein, in einer gläsernen Flasche zu sitzen, und steht auf der Elbbrücke und sieht gerade hinein ins Wasser. Gehen wir nur weiter!«

Vielleicht gehören wir auch zu denen, die sich vor lauter Lachen auf die Schenkel klopfen und sich köstlich amüsieren über einen, der daherkommt und sagt: Hörst Du Deine Worte nicht im Glasbehälter tönen? Siehst Du nicht die Stäbe?

Nein. – Wir sehen vielmehr unseren Geist gleich einem frei jagenden Panther. Alles Land ist uns zu eigen. Unsere Gedankensprünge können gewaltig sein. Immer landen wir sicher, zielsicher, da, wo wir wollen. Und mit unserer Beute sind wir zufrieden, stellen sie nicht in Frage.

Gedanken können verrückt spielen – bei manchen sind sie ein Leben lang wie rebellische Kinder -, bei manchen dagegen wehren sie sich nicht und sind ständig das brave Kind, das seine Existenzberechtigung durch Folgsamkeit sicherstellen will. Und tun sie es doch, genügt oft ein kleiner Tatzenhieb seitens des lieblosen Erwachsenen in uns, dann mucken sie nicht mehr auf.

Rainer Maria Rilke sieht alles in wenigen und doch so beeindruckenden Bildern. Er schrieb sein Gedicht Der Panther, als er unter dem Einfluss von Rhodin in Paris Anfang des letzten Jahrhunderts begann, sich die Dinge genauer anzusehen, die lebenden und die scheinbar toten. Und so konnte auch ein Brunnen in Rom – es ist jener der berühmten Villa Borghese, der auch für Conrad Ferdinand Meyers Gedicht, das mit Aufsteigt der Strahl so unnachahmlich beginnt, Pate stand – für den jungen Dichter Anlass zu Gedanken über das Geben und Nehmen werden, über Wasser, seine Tropfen fast wie Liebe weitergebend, und über ein Wissen, das jenem Element eigen ist:.

(…)
sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis
nur manchmal träumerisch und tropfenweis.

sich niederlassend an den Mondbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen..

So wurde ihm auch das Karussell im Jardin du Luxemburg zu einer Widmung an ein kindlich kreisendes Lebensgefühl, aus dem wir manchmal ziellose Blicke werfen, sitzend wie auf einem Karussellpferdchen:.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon erwachsen; mitten in dem Schwung,
schauen sie auf, irgendwohin, herüber –.

Glauben wir wirklich, unsere Blicke wären zielgerichteter?

Erinnern wir uns, wie wir als Kinder auf einem Karussell saßen und versuchten, etwas zu fixieren, was draußen stand  und wie wenig uns das gelang?

Bisweilen erhaschten wir ein Lächeln:.

Und manchesmal ein Lächeln, hergependelt,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel . . ..

Ähnelt unser Leben einem atemlosen blinden Spiel?

Und was sehen wir wirklich, was nehmen wir wirklich wahr?

Oder sind wir tatsächlich so erwachsen geworden, dass wir sagen:

Die ganzen Erfahrungen meines Lebens haben mich gelehrt, mein Glas zerspringen zu lassen. Ich kann zwar manchmal, wenn ich will, wie ein Kind sein, aber ich lasse mich nicht mehr gegen meinen Willen von dem Karussell des Lebens vereinnahmen.

Möge es so sein!

Für Rilke war Leben in einem ganz anderen Sinn ein Kreisen.

Eine seiner berühmtesten Bestandsaufnahmen zu und über sich selbst lautet schließlich .

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, 
die sich über die Dinge ziehn. 
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, 
aber versuchen will ich ihn. 

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, 
und ich kreise jahrtausendelang; 
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm 
oder ein großer Gesang..

So jedenfalls schrieb er in seinem Buch vom mönchischen Leben.
Hier sieht sich Rilke als Falke, als Sturm oder als großer Gesang.

Vier Jahre später schreibt er über den Panther:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe 
so müd geworden, dass er nichts mehr hält. 
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe 
und hinter tausend Stäben keine Welt. 

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, 
der sich im allerkleinsten Kreise dreht, 
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, 
in der betäubt ein großer Wille steht. 

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille 
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, 
geht durch der Glieder angespannte Stille – 
und hört im Herzen auf zu sein. 

Aus seinen Pariser Beobachtungen heraus ist Rilke gewiss weit davon entfernt, den Panther in einem Atemzug mit dem Falken, dem Sturm oder dem großen Gesang zu nennen, aber wir sollten uns nicht zu sicher sein, ob wir nicht öfter, als uns lieb ist, auf dem Karussell sitzen, öfter, als uns lieb ist, uns unter der Glasglocke befinden und öfter, als uns lieb ist, uns in jener Höhle aufhalten, über die Platon ein so bezeichnendes Gleichnis schrieb, sein berühmtes Höhlengleichnis, in dem die Menschen sich in einer Höhle des Bewusstseins aufhalten. Nur wenige gelangen hinaus.

Was macht uns so sicher, dass wir nicht grundsätzlich zu den Höhlenbewohnern gehören, nicht jenem Panther gleichen, dessen großer Wille so betäubt ist?

Schauen wir uns dessen Situation an:

Die älteren unter uns werden das vielleicht noch wissen, wie es war, wenn man vor 30 Jahren sich einer Augenuntersuchung unterziehen musste: Man bekam einen Tropfen in jedes Auge und die Folge war, dass man bis weit über die Untersuchung hinaus nichts mehr fixieren konnte. Wieder auf der Straße war es ein Grauen, zum Bus oder zur Straßenbahn gelangen zu müssen (eigentlich hätte man noch ein bis zwei Stunden warten sollen). Man konnte nur kurz den Blick auf etwas richten, dann musste man die Augen zumachen, man konnte sie unmöglich halten; dieses Gefühl war kein Schmerz, dennoch aber unerträglich. – So ähnlich stelle ich mir die Situation des Panthers vor: Sein Blick ist so müde, er möchte, ja, er kann gar nichts mehr mit den Augen festhalten.

Im Grunde aber ist seine Situation noch viel schlimmer:

Es ist nämlich so, nimmt man Rilkes Formulierung wirklich ernst, dass nicht er an den Stäben vorübergeht, sondern die Stäbe an ihm, dem Panther, vorübergehen. Er ist nur Statist seiner Wirklichkeit. Seine Gefängnisspfähle, die doch eigentlich fest sind, machen ihn zu einem, mit dem etwas geschieht. Gewiss sagen wir in einem Zug sitzend, die Landschaft ziehe an uns vorüber; aber es stimmt genauso wenig wie jene Formulierung, dass die Sonne auf- bzw. untergehe. Wir sind es, mit denen etwas geschieht. Nur zu gern machen wir uns zu dem, der die Landschaft, ja das All und die Stäbe im Griff hat. Nur zu gern machen wir uns zur Frau oder zum Herrn eines Geschehens, um nicht wahrnehmen zu müssen, dass wir uns besser, wie sich die Erde vor der Sonne neigt, ja verneigt, demütig auch verneigen könnten vor der Tatsache, dass wir  es sind, die auf Zeitschienen durch die Landschaft des Lebens fahren, ja, manchmal rasen, und das gern immer schneller tun, um bald möglichst gar nichts mehr wirklich wahrnehmen zu können.

Mag auch die Perspektive, die wir auf das Gedicht als einer Welt der Stäbe vornehmen, bedrückend sein, so spüren wir vielleicht, dass uns Rilke hier zugleich eine Welt vor Augen führt, die auch unter dem Aspekt der Zeit uns etwas zu verdeutlichen vermag: Man kann sich auch so schnell drehen wollen, dass einem alles verschwimmt –  um dann womöglich noch von der Verwirklichung eines Menschheitstraumes zu sprechen. Das wäre – so weit sind wir nicht mehr davon entfernt – der Sieg der Stäbe. Als gäbe es sie nicht mehr.

Unglaublich jedenfalls, wie Rilke hier das Mittel der Personifikation nutzt – es sind die Stäbe, die leben, die gehen -, um die Situation des Panthers zu vermitteln. Es ist ja nicht eine so geartete physikalische Situation – die Stäbe bewegen sich ja nicht wirklich -, es ist eine seelische Situation, eigentlich eine gedankliche; sie ist weit schlimmer, als nur müde zu sein. Selbst die Dimensionen verschwimmen zuungunsten des eigenen Lebensgefühls, statt 40 oder 50 Stäben nimmt er tausend wahr, hinter denen ein Nichts sein könnte, wie es in der Unendlichen Geschichte Michael Endes beschrieben ist: Wenn jenes Nichts dort sich ausbreitet und man etwas sehen will, ist es, als ob man blind wäre. Das Nichts ist wie Blindsein.

So mag es dem Panther ergehen. Und seine Situation untermalt Rilke unnachahmlich durch das assonante Stäbe – gäbe; zum Binnenreim hin unterstützt der Konjunktiv II und das als ob die Ausweglosigkeit des Seins. Nicht nur der Konjunktiv ist ein Irrealis. Alles ist irreal und real zugleich.

Wie sehr vermitteln Adjektive wie weich und geschmeidig im Kontrast zu stark – auch die Alliterationen (geschmeidig-Gang; stark-Schritte) hinterlassen in uns ihre Spuren – was den Panther eigentlich ausmacht: Lautlos, weich, geschmeidig ist er; explosiv aber kann er Stärke zeigen und zeigen, dass er eine Raubkatze ist. Selbst in der vorliegenden Situation wirkt seine Erscheinung noch wie ein Tanz von Kraft, ausgerichtet auf ein Zentrum und in diesem Zentrum ein großer Wille.

Man möchte angesichts dieser Worte fast die Situation des Panthers vergessen, doch die dritte Strophe bringt sie unwiderbringlich zurück. Lautlos wie der weiche Gang schiebt auch der Vorhang der Pupille sich zurück, manchmal.

Vielleicht geht es Ihnen auch so: Wie so oft bei Rilke erfasst er einen Vorgang, ein Geschehen, ein Bewusstsein, dass man einfach nur bewundernd innehalten mag und wahrnimmt: Ja, das ist dieser Blick eines Panthers, wie ich ihn aus der Wilhelma oder als Kind aus dem Frankfurter Zoo kannte: Da blickt ein Auge und blickt doch nicht. Das Auge äußert sich nicht.

Augen können Willen haben. Diese Augen haben keinen Willen mehr.

Rilke aber sagt  uns: Manchmal geht ein Vorhang auf, dann mag nichts hinausgehen, aber es geht etwas hinein.

Was für ein Bild mag das sein?
Rilke lässt uns wissen: Dieses Bild, das da manchmal eintritt, findet den Weg bis ins Herz.
Das ist nicht selbstverständlich.
Bilder, die bis ins Herz gelangen, vermögen in uns ein Bewusstsein wach werden zu lassen, dass wir im Glas uns befinden oder hinter Stäben.

Weil es Bilder sind, die von einer Wirklichkeit erzählen, die jenseits aller Stäbe ist.
In der Herzenstiefe verlieren diese Bilder eine Dimension, die wir Sein nennen.
Im Herzen aber sind Sein und Nichtsein eins.

Meine Leser mögen mir verzeihen, dass ich einfach so den Panther als Sinnbild unseres Seins genommen habe. Das geht womöglich weit über das hinaus, was Rilke selbst wollte, bewusst wollte.
Nur erinnert mich der Panther zu sehr an die Situation von uns Menschen und die Frage, was unser wahrer Wille sein mag. Für mich ist er eindeutig, ich nenne ihn religiös, religiös in einem vielleicht sogar nicht-theistischen Sinne, losgelöst also von Gott, von dem, was wir Gott nennen.

Und dieser Wille ist für mich in der Menschheit betäubt; vielleicht ist er noch nie so betäubt gewesen, obwohl wir doch so aufgeklärt sind.
Weil wir so schrecklich aufgeklärt sind. So lieblos aufgeklärt.

Rilkes sogenannte Ding-Gedichte weisen fast alle eine Tiefe auf, die uns Einblicke geben wollen. Nicht umsonst lautet die Schlusszeile dieses Gedichtes: Und hört im Herzen auf zu sein.

Warum berührt das Gedicht so, warum berührt das Schicksal des Panthers so, wenn man sich näher darauf einlässt:

Weil es eines, vielleicht sogar DAS zentrale Thema unseres Seins anspricht, die Frage nämlich:

Was ist Wirklichkeit?

Mit am besten hat das meines Erachtens Erich Fromm in Die Kunst des Liebens formuliert, wenn er schreibt:

Auf der Suche nach der hinter der Mannigfaltigkeit verborgenen Einheit kamen die brahmanischen Denker zu dem Schluss, dass das sichtbare Gegensatzpaar das Wesen nicht der Dinge, sondern das des wahrnehmbaren Geistes widerspiegelt.

Mit diesem Satz verweist Fromm auf die Tatsache, dass unser Denken ausgerichtet ist, über polare Gegensatzstrukturen die Wirklichkeit wahrzunehmen, zu erkennen, zu begreifen. Wir wissen, was Gesundheit ist, weil wir um das Kranksein wissen; die Tiefe wissen wir einzuordnen, weil wir Höhe wahrnehmen, ebenso links und rechts, innen und außen.

Doch über all das denken die Brahmanen, denkt Fromm:.

Der Widerspruch ist eine Kategorie des menschlichen Geistes, selbst jedoch kein Element der Wirklichkeit.

Dieser Satz Fromms führt direkt in die Arme Meister Eckeharts, des großen deutschen Mystikers des ausgehenden Mittelalters. In den letzten Wochen habe ich mich wieder mit ihm beschäftigt; mit ihm ergeht es mir so wie mit Dante: Liest man die Göttliche Komödie, liest man sie intensiv – und wenn man sie verstehen will, muss man sie wirklich studieren, ohne Kommentar geht das nicht; ich habe mich so gern auch den tiefen Gedanken Romano Guardinis anvertraut – und blickt man hinter die Stäbe, also die Buch-Staben, dann meint man, mit ihr, die doch einem scheinbar überholten, nämlich dem geozentrischen Weltbild anhaftet – Dante ging noch davon aus, dass die Erde der Mittelpunkt des Weltalls sei – mit diesem geozentrischen Weltbild also sei in dieser Divina Commedia dennoch so viel, ja, alles gesagt. Über die seelische Wirklichkeit des Menschen. Was finden sich nicht Mörder, Korrupte und Machtgeile beschrieben, seien sie Päpste, Priester oder adlige Männer und Frauen und Bewohner italienischer Städte, vor allem auch seiner Heimatstadt Florenz, die ihn verbannte. Wie genau hat Dante die Menschen angeschaut, ihre seelische Wirklichkeit. Wir finden aber auch den durch die Hölle und das Fegefeuer und das Paradies wandernden Dante und nehmen ebenso wahr, wie sehr es auch eines kundigen Führers bedarf, sei es der von ihm so verehrte Vergil, sei es eine unsterblich weibliche Seele wie seine Beatrice.

Zurück zu Meister Eckehart: Wer ihn mit Aufmerksamkeit liest, weiß um seine zentrale Botschaft:

Es gibt nur eine Wirklichkeit, und das ist die Wirklichkeit Gottes. Was wir Wirklichkeit nennen, ist in Wirklichkeit unwirklich.

Nun mag mancher mit einem Wort wie Gott seine Schwierigkeiten haben. Er würde da auf vollstes Verständnis bei unserem Meister stoßen, ist jener doch der Meinung, dass man all sein vermeintliches Wissen verabschieden müsse, auch das über Gott! Deshalb ist eines seiner zentralen Worte: Abgeschiedenheit

Da steckt scheiden drin. Abgeschiedenheit bedeutet für Eckehart:

Du selbst bist es, der sich in den Dingen hindert, denn du verhältst dich verkehrt zu den Dingen.

Eckehart ist der Auffassung, dass man sich aller Bilder, aller Vorstellungen entleeren müsse, bis man zum Nichts komme. Und dann gälte es noch, sich dieses Nichts zu entledigen. Erst dann komme man durch die Tür, die ins innere Reich führt.

Dieses Reich aber ist nichts anderes als eine Wirklichkeit, die nichts mit unseren Gedanken zu tun hat. Da verbinden sich fern-östliches und westlich-mystisches Denken.

Mit Abgeschiedenheit meint Eckehart ein Verabschieden und Hinter-sich-Lassen all dessen, was wir jetzt glauben. Das bedeutet auch, dass man seine Vorstellungen von Gott hinter sich lässt. Weshalb ich oben von einer nicht-theistischen (griechisch theós bedeutet Gott) Einstellung sprach als Ausdruck dessen, wie wenig ich von Gott weiß und aufgeben muss, über ihn etwas wissen zu wollen.

Diese Einstellung lässt uns einen bezeichnenden Blick auf die werfen, die immer so genau wissen, was Gott will. In Wirklichkeit treten sie an die Stelle Gottes, und angesichts der Unverfrorenheit, mit der sie das tun, kann man auch nicht mehr davon sprechen, sie täten das unbewusst.

Vermutlich ist eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht lohnenswert, denn womöglich sind sie weiter von Gott entfernt als sogenannte Atheisten.

Auch all dies Gerede aus der sogenannten esoterischen Ecke produziert eine Wirklichkeit, die womöglich nicht die Spur mit Gott zu tun hat. Was haben nicht viele Esoteriker – und mit ihnen meine ich all die, die diesen ursprünglich ehrbaren Begriff missbrauchen – für das Wassermann-Zeitalter vorausgesagt: Von all dem ist nichts bisher eingetroffen, und es ist vielleicht deshalb nicht eingetroffen, weil all das Gerede eine mögliche neue Wirklichkeit zugemüllt hat. Es ist tatsächlich besser, dem Nicht-Wissen zu vertrauen.

Eckeharts Sicht bedeutet im Übrigen auch, dass man als jemand, der an Gott glaubt, um nichts mehr bittet, weil unser Bitten impliziert, wir wüssten, was richtig sei. Er jedenfalls formuliert das so; mich hat das überzeugt.

Wir sollten, wie angesprochen, nicht  unserem Wissen, sondern unserem Nicht-Wissen vertrauen. Das rät uns und lässt uns eine Weisheit der Bibel in neuem Licht sehen und verstehen, die lautet: Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein.

Salopp formuliert: Schnabel halten, still sein (manche mögen es meditieren nennen; stillsein genügt vollauf).

Eckehart möchte, dass wir vom gelehrten Reden über Gott, über alles Transzendentale wieder unmittelbar zu Gott selbst kommen, ihn unmittelbar suchen.

Nie wieder hat für mich jemand die  Unmittelbarkeit Gottes, dass nur er zählt, so radikal in den Mittelpunkt unserer Existenz gerückt. Deshalb ist es ihm ein Höchstes, dass der Mensch seiner selbst leer werde, sich seiner, wie er es formuliert, entbinde, „damit dir Gott groß werde.“

Mit jedem Bit, das wir aus unserem Inneren entfernen, schaffen wir Raum für ein neues Bewusstsein. Für ein Bewusstsein, nichts zu wissen.

Klar mag den ein oder anderen Atheisten stören, dass sooft auch bei Eckehart der Begriff Gott fällt. Aber er ist ein Wort, an Stelle dessen Eckehart auch das absolute Nichts setzt. Das nun mag auch Atheisten magisch anziehen.

Nur über eines ist sich Eckehart sicher, nämlich, dass das, was er den Grund der Seele nennt, von Natur aus göttlich ist, was immer das auch sei, und so kann er sagen:

Alles Gute, was alle Heiligen besessen haben, und Maria, Gottes Mutter, und Christus nach seiner Menschheit, das ist alles von Natur aus schon mein eigen.

Vergleichbares habe ich in Masaharu Taniguchis Die geistige Heilkraft in uns gelesen, wenn der japanische Religionsphilosoph schreibt:

Der Mensch ist ein Kind Gottes. Daher ist er von Anfang an vollkommen und wird es auch in alle Zukunft sein. Das ist die Wahrheit vom Menschen. Dieses sein wirkliches Wesen ist seine wahre Natur. Falsch ist, was nicht wirklich ist. Krankheitserscheinungen sind falsch. Falsche Erscheinungsbilder sind nicht-existent, mögen sie auch ein wirkliches Dasein zu haben scheinen. (…)
Krankheiten sind nichts als verkörpertes krankhaftes Denken.

Für unser Denken ist das absurd oder sagen wir: paradox. Wie kann ich krank sein und soll doch gesund sein, wie soll Gott existieren und doch ein absolutes Nichts sein? Wie sollen meine Gedanken existent sein und eine Wirklichkeit existieren, die absolut frei von meinen Gedanken ist? (Das letztere krank sein sollen, davon reden wir mal besser gar nicht – obwohl es vielleicht bitter not-wendig wäre, um unsere Not zu wenden.)

Auch hier mag Erich Fromm uns weiterhelfen:
Er stellt in oben erwähntem Werk , der Kunst des Liebens, die Logik in Frage, der wir seit Aristoteles – dieser griechische Philosoph erfasste das damals gängige Wissen in seinen Werken – huldigen, indem wir mittels des Satzes der Identität sagen: A = A; 
mittels des Satzes des Widerspruchs sagen: A ≠ Nicht-A und in einem dritten Schritt sagen: A kann nicht A und Nicht-A zugleich sein.
Wir schließen das aus, dass A und Nicht-A zugleich existieren können. 

Anders das chinesische und indische Denken (wie übrigens auch Griechenlands Heraklit), das in den Worten des im 4. vorchristlichen Jahrhundert lebenden chinesichen Dichters und Philosophen Tschuangtse seinen Ausdruck findet:

Das, was eins ist, ist eins. Das, was nicht eins ist, ist auch eins.

Oder, um es mit Laotse  zu sagen:

Der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der ewige Sinn, der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name..

Hören wir also auf, Gott einen Namen geben zu wollen.

Erst am Ende unserer Bewusstseinsreise, so lässt uns das Neue Testament im zweiten Kapitel seines letzten Buches, der Offenbarung des Johannes, wissen, werden wir übrigens unseren wahren Namen erhalten.
Erst in diesem Licht, im Rahmen der Aussage des ach so heidnischen Laotse wird die Bedeutung dieser Bibelstelle klar.
Offensichtlich müssen wir uns in unseren Wirklichkeitsvorstellungen neu orientieren. Aber auch hier gilt: müssen tun wir gar nichts. Wir können auch den Betäubungsmittelgesetzen der Höhle vertrauen, die vermeintlich sicherstellen, dass unser freier Wille nicht betäubt ist.

In erster Linie aber stellen sie sicher, dass die Höhle weiterexistiert (in zweiter und dritter Linie übrigens auch . . .).

Wir, die wir glauben, Wirklichkeit bestehe aus Gegensätzen, können wissen:

Dieses Wissen bedeutet Leid.
Es ist kein Wissen.
Nicht-Wissen ist Wissen.

All dies hebt die Aussage des Sokrates auf eine neue, ungeahnte Höhe, wenn er sagte:

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Wirklich wusste er, dass er von wahrem Wissen nichts weiß. Es war seine Mission, den Menschen ihren Wissensdünkel vorzuführen, indem er sie immer wieder im Gespräch zu dem Punkt führte, wo sie erkennen konnten, in Wahrheit nichts zu wissen.
Sein so berühmter Satz war keine Selbstbeweihräucherung mit Hilfe einer rethorischen Floskel und einem fishing for compliments (ach Sokrates, das stimmt doch gar nicht, du weißt doch so viel), sondern tatsächlich tiefes Wissen, wie wir es bei Laotse und Meister Eckehart finden. Sokrates war nur sein Dämon – im Griechischen keineswegs ein dunkles geistiges Wesen – beigesellt, der, wie wir lesen, ihn immer, wenn er etwas Falsches sagte, stupste. Seiner Wortwahl – Platon vor allem hat ja, was er sagte, aufgeschrieben – entnehmen wir, wie dankbar er diesem ihm zugesellten Geist war (ein bisschen erinnert er an jenen Geist, von dem C.G. Jung erzählt, dass er ihn in vielen Gesprächen über die Bedeutung des Bösen aufgeklärt habe – nachzulesen in Jungs Rotem Buch).

Heraklit, vielleicht der berühmteste vorsokratische Philosoph, wusste auch um das, was uns so paradox ist:

In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht;
wir sind es, und wir sind es nicht.

All das mag uns unsere falsche Selbstsicherheit nehmen und uns führen zu dem, was als absolutes Nichts erkannt sein will.

Mich gemahnen Rilkes Sätze

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

daran, uns über unser Sein, unseren Alltag, unser Leben Gedanken zu machen und bereit zu sein, dass unser Vorhang sich öffnen kann.
Auch dieser Vorgang ist ja bei Rilke personifiziert; es ist nicht der Panther, der dies tut, es ist der Vorhang selbst, der sich bisweilen langsam aufschiebt. Vielleicht tun wir es ja auch nicht selbst, sondern im Tun des Vorhangs kommt zum Ausdruck, dass hoffentlich unser Unbewusstes übernimmt, was unser Bewusstes noch nicht zulässt: unsere Vorhänge beiseite zu schieben, damit etwas bis zu unserem Herzen gelangen kann, wo es aufhört zu sein, damit es sein kann.

Manchmal können Gedichte solche Bilder sein, die uns Anlass geben können, unsere Wirklichkeit neu zu bewerten und nach der zu streben, die seit 800 Jahren Meister Eckehart anmahnt – einer Wirklichkeit, von der wir so wenig wissen, von der wir nichts wissen, solange wir an die Wirklichkeit unserer Gedanken glauben.

Beginnen wir – um es mit Meister Eckehart zu formulieren – uns zu entbinden.

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