„Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“ – Goethes Vermächtnis im Faust II: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis“!

Zu Beginn des zweiten Teils von Goethes Faust finden wir den gleichnamigen Protagonisten auf Blumen gebettet in einem Heilschlaf. Der war auch bitter nötig, hatte Faust doch am Ende von Faust I die Bühne des Theater-Lebens verlassen, indem er maßgeblich in vier Todesfälle, ja Morde involviert war. Gretchen hatte ihr Kind umgebracht, das auch seines war, weil sie nicht mehr aus noch ein wusste und Faust sich herzlich wenig um sie gekümmert hatte; selbst war sie dem Wahnsinn verfallen und zum Tode verurteilt. Ihren Bruder hatte Faust mittels eines Degenstoßes, den Mephisto kräftig unterstützt hatte, ins Jenseits geschickt, und schließlich hatte Gretchens Mutter sterben müssen, weil der Schlaftrunk, der sie ruhig stellen sollte, damit Faust mit Gretchen die Liebe leben konnte, Gift gewesen – so ist es nun mal, wenn man Liebe auf mephistophelische Weise leben will, wie es Faust tat.

Dennoch berührt, dass Faust so unbelastet zu Beginn des zweiten Teils der Tragödie – und Goethe nennt sein Werk eine Tragödie – aufwachen kann; zu verdanken hat er das dem Wirken Ariels und seiner Geister.

Und wie Faust aufwacht!

Gleich ist in ihm wieder sein Lebens-Streben aktiv, er ist kein Fernsehgucker, kein Computerfreak, ihn zieht es, den Sonnenaufgang im Gebirge wahrzunehmen, wie ihr aufgehender Schein sich an den Bergriesen schon zeigt, und er vergleicht das rötlich aufgehende Licht des Tages mit einem sehnenden Hoffen, das wir empfinden können.

Er empfindet es und Goethe empfindet es, nur deshalb kann er seinen Faust sprechen lassen:

Sie tritt hervor! – und, leider schon geblendet,
Kehr‘ ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.
So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen
Dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen,
Erfüllungspforten findet flügeloffen;
Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen
Ein Flammenübermaß, wir stehn betroffen;
Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,
Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!
Ist’s Lieb‘? ist’s Hass? die glühend uns umwinden,
Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer,
So dass wir wieder nach der Erde blicken,
Zu bergen uns in jugendlichstem Schleier.
So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Ihn schau‘ ich an mit wachsendem Entzücken.
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend,
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.

Diese Stelle gehört für mich mit zum Bedeutungsvollsten, was Goethe je geschrieben hat:

Wir können nicht direkt in die Sonne schauen. Sie repräsentiert das Göttliche. Auch in Platons Höhlengleichnis kann der Mensch, der aus der Höhle kommt, nicht in das Licht sehen:

Und wenn er ans Licht käme, hätte er doch die Augen voll Glanz und vermöchte auch rein gar nichts von dem zu sehen, was man ihm nun als das Wahre bezeichnete […]

Er müsste sich also daran gewöhnen, denke ich, wenn er die Dinge dort oben sehen wollte. Zuerst würde er wohl am leichtesten die Schatten erkennen, dann die Spiegelbilder der Menschen und der andern Gegenstände im Wasser und dann erst sie selbst. Und daraufhin könnte er dann das betrachten, was am Himmel ist, und den Himmel selbst, und zwar leichter bei Nacht, indem er zum Licht der Sterne und des Mondes aufblickte, als am Tage zur Sonne und zum Licht der Sonne.

So kann der Mensch das Göttliche wahrnehmen im Symbol, sei es eine Taube oder die Majestät eines Berges, im Abglanz, in den Spiegelungen des großen Göttlichen Lichtes, im Flug der Vögel, in einem Adler, dem großen Verbinder zwischen Göttlichem und Menschlichem, einem Rotkehlchen, das für ihn singt, im Regenbogen, über den die Götter und Engel zu den Menschen kommen, in der Stille des ruhenden Sees, in dem Blick eines aus dem Göttlichen ins Erdenleben geborenen Kindes, in der Liebe einer Rose.

Göttliches Wirken zeigt sich dem, der es zu sehen vermag.

Faust sieht den Regenbogen, den der Wassersturz durch das Licht der Sonne ihm zu Gesicht bringt.

Ihn kann er sehen und er weiß: Das Göttliche ist zugegen – im Abglanz, im Glanz, im Symbol, ja in jedem Menschen, der sich strebend im Leben bewähren will.

Es gehört zu dem Größten, was Goethe den Menschen für ihre Entwicklung mitgibt:

Schau auf das Besondere und Du erkennst das Allgemeine, das große Ganze.

Im Mikrokosmos erkennst Du den Makrokosmos.

Bringst Du Dein Leben und Deine Umgebung in Ordnung, so repräsentiert sie die Ordnung des Alls; nicht von ungefähr lautet ja die Übersetzung des griechischen Wortes Kosmos Ordnung, Schmuck.

Wenn der Mensch das tut, seine kleine Welt zu einem Kosmos im Kleinen werden zu lassen, dann wird er zum Priester, ist ein Priester des Göttlichen, er tut, was Gott im Makrokosmos tut.

Nicht von ungefähr heißt es im West-Östlichen Divan im Vermächtnis altpersischen Glaubens:

Habt ihr Erd und Wasser so im Reinen,
Wird die Sonne gern durch Lüfte scheinen,
Wo sie, ihrer würdig aufgenommen,
Leben wirkt, dem Leben Heil und Frommen.

Ihr, von Müh zu Mühe so gepeinigt,
Seid getrost! nun ist das All gereinigt,
Und nun darf der Mensch als Priester wagen,
Gottes Gleichnis aus dem Stein zu schlagen.

So wird selbst das Kerzenlicht zu einem Verweis auf das große Licht:

Werdet ihr in jeder Lampe Brennen
Fromm den Abglanz höhern Lichts erkennen,
Soll euch nie ein Mißgeschick verwehren
Gottes Thron am Morgen zu verehren.

Wer diese Sicht Goethes teilt, versteht die Schlussworte am Ende von Faust II und ihr Vermächtnis:

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis …

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Eine Antwort zu „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“ – Goethes Vermächtnis im Faust II: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis“!

  1. thomas anna schreibt:

    Ich Danke Ihnen!

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