Von Anfortas zu Parzival: Der Gralsweg des Menschen

Den folgenden Vortrag hielt ich
im Rahmen des Zyklus „Mythologie und [Selbst-]Erziehung“
am 10. Februar 1995 am Albert-Schweitzer-Gymnasium Leonberg

VON ANFORTAS ZU PARZIVAL

DER GRALSWEG DES MENSCHEN

 

Es ist früh am Morgen, die Vögel sind noch mitten in ihrem Sonnenaufgangskonzert, vereinzelte Strahlen dringen durch die Kronen und Zweige der Bäume des Waldes. Dann schimmert das Moos hell grünlich auf und gibt uns durch ein glitzerndes Funkeln preis, dass Tautropfen noch sanft auf ihm ruhen.

Der Schritt des jungen Mannes – eigentlich ist er noch ein Kind – ist unhörbar, zumal er geschickt jene Zweige, die knacken könnten, vermeidet. Nur sein Handwerk will gar nicht zu dem begin­nenden Frühlingsmorgen passen. Plötzlich zieht sich ein Schwirren durch die Luft, ein Pfeil zischt seine kurze und gnadenlose Bahn, an deren Ende einer jener lebenslustigen Sänger, die den Wald so friedlich-frisch mit ihrem Gesang füllen und erfüllen, tot zu Boden fällt.

Seltsam nur, dass jener Junge angesichts des toten Geschöpfes zu weinen beginnt, ja es in die Luft wirft, offensichtlich in der Hoffnung, es möge wieder fliegen. Gedrückt und bedrückt geht er nach Hause, zieht sich in sein Zelt zurück, und wie schon öfters findet ihn die Mutter so vor. Schließlich gelingt es ihr zu erfahren, was der Grund seiner Trauer ist, nämlich, dass er zwar gern jage, aber zugleich nicht töten wolle; so befiehlt sie ihren Dienern, alle Vögel des Waldes zu vertreiben oder zu töten, damit ihr Kind nicht mehr traurig sein müsse. Der Junge bekommt die Aktion mit, zumal die Diener viel zu tollpatschig und zu laut sind, um erfolgreich sein zu können, und fragt seine Mutter:

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Was wirft man den Vöglein vor?

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Und er verlangt, dass man sie auf der Stelle in Frieden lasse. Da küsst ihn seine Mutter auf den Mund und ruft:

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Warum nur breche ich das Gebot des höchsten Gottes?

Sollen die Vögel um meinetwillen auf ihren frohen Gesang verzichten?

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Darauf sieht sie der Knabe groß an:

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Ach Mutter, was ist das, Gott?

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Dieser Junge ist niemand anderes als Parzival, und was ich Ihnen soeben erzählte, entspricht – von mir zum Teil etwas ausgeschmückt – dem Beginn der Parzivalhandlung (3. Buch) in Wolfram von Eschenbachs gleichnamigem Werk. Bevor ich den Faden wieder aufnehme – und ich sage Ihnen, es geht, so köstlich und ernst zugleich, noch eine ganze Weile in der Handlung weiter -, möchte ich Ihnen einige Informationen zum Gesamtkomplex Parzival bzw. Gral an die Hand geben und bitte Sie, wie ich das auch für den Siegfriedmythos schon tun musste, um Verständnis für notwendige Verkürzungen.

Es ist merkwürdig im wahrsten Sinne des Wortes – es ist des Merkens würdig -, dass um das Jahr 1200 im französischen und deutschen Sprachraum innerhalb von 30 Jahren drei Gralserzählungen ge­schrieben werden, die diesen Mythos zum ersten Mal literarisch ausgestalten und auch in der Folge ihresgleichen suchen. Wie auf Abruf ist das Gralsmotiv auf einmal da und fasziniert auf rätselhafte Weise den europäischen Kulturkreis. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts – Reformation und Humanismus wird anderes wichtig – träumt das Mittelalter von Schlössern des Heiligen Gral; manche Burg möchte die Gralsburg selbst bzw. ihr Vorbild gewesen sein; manche Legende rankt sich um das Ziel höchsten ritterlichen Strebens.

Gerade nun in den letzten Jahren gab es einige Publikationen zum Mythos um Parzival und den Gral, und noch keine 10 Jahre liegt es zurück, dass der anerkannte Mittelalter-Experte Dieter Kühn den bereits vielfach übersetzten Parzival des Wolfram von Eschenbach aus dem Mittelhochdeutschen nochmals übersetzte und seiner Übersetzung Materialien über Leben, Werk und Zeit Wolframs voranschickte.

Erst kürzlich wurde jenem Autor, eben Wolfram von Eschenbach – er lebte von ungefähr 1170 bis 1220 -, der zu Lebzeiten eigenen Aussagen zufolge so wenig begütert war, dass die Mäuse bei ihm keinen Grund zum Feiern hatten, eine besondere Ehre zuteil:

Nachdem schon 1917 ein Ort, er liegt an der Autobahn Heilbronn – Nürnberg, nach ihm benannt wurde, Wolframs-Eschenbach, wurde nun ein ihm gewidmetes Dichtermuseum dort eröffnet.

Sie sehen, der Gral und sein Umfeld leben, und maßgeblich daran beteiligt sind auch zwei französische Autoren. Der eine ist der wohl bedeutendste französische Dichter des 12. Jahrhunderts, der sich vor allem hervortat durch seine zahlreichen Romane über Ritter der Artusrunde, Lancelot, Erec und andere, Chrestien, also Christian von Troyes, der den Gral in seinem Conte du Graal als eine Art Hostienbehälter bzw. Hostienschale beschreibt. Sein Werk blieb unvollendet, ebenso wie jenes zweite französische Epos, welches kurz darauf, wahrscheinlich gegen 1190 erscheint; es ist der Josef von Arimathia von Robert de Boron, der als erster Teil einer groß angelegten Gralsdichtung geplant war, „die von den Ursprüngen des Gralsgefäßes Kunde bringen, in einem zweiten Teil dann die Merlin- und Artussage mit ihr verweben und im dritten die Gralsnot sowie die rettende Tat eines verheißenen Erlösers“, wohl Perceval bzw. Parzival, bringen sollte.

Bei Robert de Boron ist der Gral jener Kelch, in welchem das Blut Jesu durch Josef von Arimathia aufgefangen wurde.

Der Gral als Hostienschale bzw. Kelch – das mag ohne weitere Erklärung einsichtig sein; aber der Gral als Stein – sträubt sich da nicht einiges in uns? Tatsächlich finden wir bei Wolfram von Eschenbach den Gral als einen Stein dargestellt. Wir würden sehen, dass diese Symbolik auch nicht eine Spur ärmer ist als jene in den vorausgehenden, Fragmente gebliebenen französischsprachigen Darstellungen; nur wenn ich alles sagen wollte, was es Wissenswertes über die Symbolik des Steines zu vermelden gibt –  man denke nur an den Stein der Weisen in der Alchemie oder jenen weißen Stein, den jeder Mensch am Ende seiner Reise von Gott überreicht bekommt, nachzulesen in der Offenbarung des Johannes -, würden Sie irgendwann mit ziemlich versteinerten Gesichtern dasitzen und hoffen, dass der Kelch des Leidens doch bald an Ihnen vorübergehe.

Wolfram hat sein Werk wohl um 1210 nach 10-jähriger Arbeitszeit beendet; es umfasst immerhin annähernd 25000 Verse, die auf 16 Bücher bzw. Kapitel verteilt sind.

Es würde, wie bereits angedeutet, Abende füllen, wenn ich in detaillierter Form auf dieses Werk eingehen wollte, und ich will hier gar nicht erst anfangen zu erwähnen, auf was ich nicht eingehe.

Zwei Ausflüge in umliegendere Gefilde allerdings möchte ich mir dennoch gestatten, weil sie uns inhaltlich – und das ist kein Widerspruch – dem Gral näherbringen.

Der erste:

Schon vor vierzehn Tagen hätte ich gern einen Mann zumindest erwähnt, wenn nicht stärker in den Mittelpunkt gestellt, der in Bezug auf den Mythos um Siegfried und auch um den des Parzival Unnachahmliches geschrieben hat – in Wort und Ton: Ich spreche von Richard Wagner. Kaum jemand fordert ja so schnell Urteile, um nicht zu sagen Vor-Urteile heraus, und bei vielen, die irgendwelche Meinungen über seine Musik kolportieren, stellt sich heraus, dass sie auch nicht eine seiner Opern richtig gehört, geschweige denn verstanden haben.

Schon in Bezug auf das Nibelungen-Thema wären Ausschnitte aus seinem Ring des Nibelungen eine große Bereicherung gewesen, ja hätten unser Verständnis vertiefen können; ich musste aber aus Zeitgründen verzichten. Vor allem nun hört man immer wieder, wie bombastisch und aufwendig in strumentiert seine Musik sei, aber ich muss sagen: Wenn Sie sein Werk kennen, dann wissen Sie um so viele zarte, lyrische Stellen, die ihresgleichen suchen; denken Sie an die Worte Elsas –

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Einsam in trüben Tagen

hab ich zu Gott gefleht,

des Herzens tiefstes Klagen

ergoss ich im Gebet.

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– die sie in der Lohengrin-Oper singt in Tönen, die fast aus einer anderen Welt zu kommen scheinen.

In jener Oper nun findet sich ebenfalls eine wunderbare Beschreibung des Gral und seiner Heimat, die wir uns anhören wollen, und vielleicht vertieft sich Ihre Hochachtung vor jenem Komponisten, wenn Sie bedenken, dass Wagner für seine Opern – was ansonsten selten vorkommt – nicht nur die Musik schrieb, sondern auch den Text.

Zu jener Gralserzählung genannten Beschreibung kommt es in der Lohengrin-Oper aufgrund folgender Geschehnisse:

Elsa von Brabant wird von Friedrich von Telramund des Mordes an ihrem Bruder beschuldigt. König Heinrich der Vogler, eigentlich anwesend, um die brabantischen Ritter zum Heeresdienst nach Mainz für den Kampf gegen die Ungarn zu entbieten, sieht sich gezwungen, die vorhandene Fehde zu schlichten. Da er die Wahrheit nicht erkennen kann, ruft er zum Gottesgericht auf; es heißt:

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Gott allein soll jetzt in dieser Sache noch entscheiden.

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Doch keiner der anwesenden Ritter und Edlen aus Thüringen, Sachsen und Brabant tritt für Elsa gegen Telramund in den Ring.

Da sinkt Elsa auf ihre Knie und bittet Gott um jenen Ritter, den sie in einer Vision ihr zu Hilfe kommen sah.

Erstaunen, ja Schaudern ergreift die Anwesenden, als in der Ferne des Flusslaufes ein Nachen sichtbar wird, gezogen von einem Schwan, in dem ein herrlicher Ritter aufrecht steht, Lohengrin, Parzivals Sohn, gesandt vom Gral, einem unschuldig bedrängten Menschen Hilfe zu leisten.

Er tut es unter einer Bedingung, die er an Elsa richtet:

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Nie sollst du mich befragen / noch Wissens Sorge tragen

woher ich kam der Fahrt / noch wie mein Nam und Art.

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Elsa wird ihn, aufgestachelt von der dämonischen Ortrud, der Frau des im folgenden Zweikampf besiegten Telramund, dennoch fragen; Lohengrin wird scheiden müssen, nicht ohne vorher zu enthüllen, woher er kam der Fahrt und wie sein Nam und Art.

Sie können den Text auf Ihrem Blatt mitverfolgen:

 

In fernem Land, unnahbar euren Schritten,

Liegt eine Burg, die Monsalvat genannt;

Ein lichter Tempel stehet dort inmitten,

So kostbar, als auf Erden nichts bekannt;

Drin ein Gefäß von wundertätgem Segen

Wird dort als höchstes Heiligtum bewacht:

Es ward, dass sein der Menschen Reinste pflegen,

Herab von einer Engelschar gebracht;

Alljährlich naht vom Himmel eine Taube,

Um neu zu stärken seine Wunderkraft:

Es heißt der Gral, und selig reinster Glaube

Erteilt durch ihn sich seiner Ritterschaft.

Wer nun dem Gral zu dienen ist erkoren,

Den rüstet er mit überirdischer Macht;

An dem ist jedes Bösen Trug verloren,

Wenn ihn er sieht, weicht dem des Todes Nacht.

Selbst wer von ihm in ferne Land entsendet,

Zum Streiter für der Tugend Recht ernannt,

Dem wird nicht seine heilge Kraft entwendet,

Bleibt als sein Ritter dort er unerkannt.

So hehrer Art doch ist des Grales Segen,

Enthüllt – muss er des Laien Auge fliehn;

Des Ritters drum sollt Zweifel ihr nicht hegen,

Erkennt ihr ihn – dann muss er von euch ziehn.-

Nun hört, wie ich verbotner Frage lohne!

Vom Gral ward ich zu euch daher gesandt:

Mein Vater Parzival trägt seine Krone,

Sein Ritter ich – bin Lohengrin genannt.

 

Unser zweiter Ausflug:

Stellen wir uns vor, es wäre ein sonniger Tag und wir wären im Odenwald Richtung Amorbach unterwegs. Gerade sind wir durch einen Ort namens Buch gefahren, da taucht rechter Hand eine Burgruine auf, die wir verbotenerweise aufsuchen, denn sie ist mittlerweile leider gesperrt, wohl, weil sie baufällig ist. Wir stehen in einer wunderschönen Burganlage, in deren Inneren sich noch umrisshaft der große Palas andeutet; einem Stein der Palasmauer würde unserer besonderes Augenmerk gelten, finden sich doch auf ihm die ersten beiden Worte jener so wichtigen Parzivalfrage an seine Mutter:

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ôwê muoter – ach Mutter –

waz ist got?

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Die Gravur muss älteren Datums sein, und sie kommt nicht von ungefähr; auf jener Burg soll Wolfram von Eschenbach zwei der 16 Kapitel seines Gralsepos geschrieben haben, was im Übrigen durchaus wahrscheinlich ist, waren doch die Herren von Durne, zu Wolframs Zeiten Besitzer der Burg, Nachbarn des Grafen von Wertheim, in dessen Brot und Sold Wolfram stand.

Burg Wildenberg heißt jene leider dem Verfall preisgegebene Burg bei Amorbach; Munsalväsche, so heißt in seinem Gralsepos die Gralsburg, ein Name, der sich von franz. Mont sauvage, übersetzt Wilder Berg ableitet, war sie doch auch wild deshalb, weil sie für Uneingeweihte nicht zu erreichen war, oder – wie Wagner es ausdrückte – unnahbar euren Schritten.

Burg Wildenberg bei Amorbach und Munsalwäsche: Wilder Berg – so gingen für Wolfram Leben und Werk Hand in Hand.

Wie gelangt nun Parzival auf die Gralsburg Munsalwäsche, ja wie gelangte er zunächst überhaupt in jenen Wald, in dem er, wie wir zu Anfang hörten, so gern jagte?

Kurz zusammengefasst:

Seine Mutter Herzeloyde war mit einem für seinen Kampfesmut und seine Kampfeskraft über Ländergrenzen hinweg bekannten Helden verheiratet, der im Kampf für den Baruc, seinen Herrn und Gönner, vor Bagdad durch hinterhältige List fiel. Damit ihrem Kind, das sie unter dem Herzen trug, als der Vater Gachmuret in den Kampf zog, nicht dasselbe widerfahre, zog sie sich nach seiner Geburt in eine Einöde, Soltane genannt, zurück, wobei sie ihrem Gefolge streng verbot, über Ritter zu sprechen.

Die Frage nun des jungen Parzival nach Gott beantwortet sie an jenem Frühlingstag aus einfälti­gem, liebenden Herzen, indem sie ihm unter anderem sagt, jener sei strahlender als der helle Tag.

Will´s der Kuckuck bzw. der sogenannte Zufall, so galoppieren kurze Zeit später Ritter in prachtvoller Rüstung auf einer Verfolgungsjagd durch den Wald, begegnen natürlich dem Jungen und fragen ihn nach den von ihnen Verfolgten. Doch dem bleibt der Mund offen, glaubt er doch, jeder von ihnen sei in seiner glänzen den Rüstung ein Gott.

Als er nun erfährt, dass sie Ritter seien und den Namen Artus hört, stehen Berufswunsch und Reiseziel fest. Alles Jammern der Mutter hilft nichts. Keine rettende Idee kommt ihr, wie er zu halten sei; sie kann ihm nur noch, damit er nur Hohn und Spott ernte und möglichst bald freiwillig zurückkehre, einen recht erbärmlichen Gaul geben und in Narrenkleider stecken.

Dennoch gibt sie ihm auch Ratschläge mit auf den Weg:

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Ziehst du auf ungebahnten Wegen, so meide dunkle Furten; seichte und durchsichtig klare Furten kannst du ohne Weiteres durchreiten.

Zeige dich höflich und grüße alle Menschen, denen du begegnest.

Hält dich ein alter, erfahrener Mann zu gutem Benehmen an, dann folge willig seiner Lehre und zürne ihm nicht.

Kannst du von einer edlen Frau Ring und freundschaftlichen Gruß erringen, so greife zu, denn es ver treibt alle trüben Gedanken. Zögere nicht lange beim Küssen, und schließe sie fest in die Arme. Wenn sie keusch und recht schaffen ist, erlangst du Glück und edlen Sinn.

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Wir begleiten nun Parzival, wie er von zu Hause aufbricht, um sich neuen Ufern zu zuwenden.

Zunächst scheitert er allerdings kläglich am ersten Ufer – einem Bachufer. Vom Ufer des Baches hängen nämlich Blumen und Gras über das Wasser, und Parzival, eingedenk der Worte seiner Mutter, meide dunkle Furten, überquert den Bach nicht.

Erst am nächsten Morgen kommt er an eine klare Furt und überquert ihn.

Wir durchreiten mit Parzival die Furt. Die Knochen seines alten Gaules klappern lustig vor sich hin, und der Morgenwind lässt seinen Einteiler – so modisch hat die Mutter sein Narrenkleid geschneidert – munter um seinen jugendlichen Körper flattern. Da entdeckt Parzival, noch im Schatten des Waldsaumes liegend, ein Zelt, ein Vermögen wert; Brokat in drei verschiedenen Farben, schöne Borten auf den Nähten, darinen Jeschute, die Frau des Herzogs Orilus. Sie liegt da in tiefem Schlaf und zeigt – Wolfram ist in entspre chenden Schilderungen um einiges einfallsreicher als der Verfasser des Nibelungenliedes (kein Wunder, wenn jener wirklich Mönch war) – (sie zeigt also) die Waffen der Liebe: brennend rote Lippen. Ihr Deckbett reicht bis an die Hüften, „zu heiß geworden, weggeschoben.“

Parzival sieht ihren Ring und denkt an den Ratschlag seiner Mutter; er stürzt sich auf sie und rauft mit ihr, entreißt ihr den Ring und die Spange des Gewandes, küsst sie, presst sie an sich. Verständlich, dass die Herzogin kaum auf die Reihe bringen kann, wen sie da vor sich hat und was sich abspielt. Schlussendlich verabschiedet sich Parzival, nicht ohne noch zwei Rebhühnchen, Brot und Wein genossen zu haben, mit den Worten:

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Gott schütze dich, Mutter riet mir, das zu sagen.

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Für Jeschute hat sein tölpelhaftes Verhalten üble Folgen. Kein Wort glaubt ihr Herzog Orilus, der Ritter ihres Herzens, als er zum Zelt zurückkommt. Fortan muss sie, bei Kälte und Hitze gleichermaßen notdürftig bekleidet, auf einer Schindmähre hinter ihm herziehen; keines Blickes würdigt Orilus sie, bis beide nach über einem Jahr wieder auf Parzival treffen.

Orilus war übrigens gerade von einem Kampf zurückgekommen, im Rahmen dessen er seinen Gegenüber tödlich verwundet hatte. Auch das ist für den Fortgang der Geschichte nicht ohne Bedeutung, denn:

Parzival reitet, Rebhühnchen verdauend, gerade einen Hang hinunter, als er eine Frauenstimme voll tiefstem Schmerz schreien hört. Er reitet hinzu und sieht eine zusammengekrümmte Gestalt, die sich in ihrem unstillbaren Weh die Haare vom Kopf reißt; ihre Tränen netzen ihres toten Mannes Haupt, das in ihrem Schoß liegt.

Die ganze Naivität des jungen Parzival wird an seinen Worten deutlich, mit denen er Sigune, so der Name der Frau, anspricht:

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Ist jemand traurig oder fröhlich – Mutter riet mir, stets zu grüßen.

Gott mit euch!

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Und:

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Geschah das mit einem Jagdspeer? Mir kommt´s vor, als wär er tot.

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Allerdings war Schionatulander tot, getötet im Zweikampf durch einen Ritter mit Namen Orilus. – Wie nah Glück und Elend beieinander liegen, und wie verzahnt doch Wege sein können!

Im Fortlauf der Geschichte wird Parzival noch dreimal mit Sigune zusammentreffen, und diese Treffen kennzeichnen jedes Mal Kreuzpunkte seines Weges, Markpunkte seiner Entwicklung.

Sigune erkennt in dem jugendlichen Tölpel einen Verwandten; sie ist Parzivals Tante; von ihr erfährt er nicht nur seinen Namen, den er bisher gar nicht kennt, sondern auch, dass er König dreier Königreiche sei, die ihm z.T. von einem anderen Fürsten geraubt worden seien, allerdings, so betont Sigune, und weist damit auf den Toten in ihren Armen hin:

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Dieser Fürst hier wurde um deinetwillen erschlagen, denn er verteidigte stets dein Reich. Nie hat er seine Treue gebrochen [. . .] Lieber und wackerer Vetter, höre unsere Geschichte: Ein Hundehalsband stürzte ihn ins Verderben. In deinem und meinem Dienst hat er den Tod gefunden, und mich ließ er in verzehrender Sehnsucht nach seiner Liebe zurück. Ich war töricht genug, ihm meine Liebe zu verweigern, und nun hat das böse Schicksal all mein Glück zerstört. Jetzt liebe ich ihn im Tode.

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Aus einer anderen, Fragment gebliebenen Verserzählung Wolframs (Titurel) entnehmen wir Genaueres über das Geschick Sigunes und Schionatulanders. Wir finden dort das Paar in einem idyl­lischen Wald vereint. Schionatulander hat gerade einen entlau enen Jagdhund, einen Bracken gefan­gen, auf dessen kostbares Leitseil eine Botschaft gestickt ist. So erfahren wir, dass er Gardevias, übersetzt: Achte auf die Wege, gerufen wird, und als Sigune eben beginnt, die Botschaft zu entziffern, reißt sich der Bracken los, und Sigune, „ganz launische Minneherrin“, die Botschaft zu Ende lesen wollend, verspricht Schionatulander die volle Hingabe, wenn er Bracken und Seil wiederbringe. Aus dem Parzival wissen wir, dass er Orilus begegnen und von diesem erschlagen werden wird, und dem Werk eines anderen Autors, Albrecht von Scharfenberg, entnehmen wir, dass die Botschaft des Seiles in der Beschreibung des Tugendkranzes gipfelt, in der Benennung von 12 Tugenden.

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Zwölf Blumen winde dir zum Kranz, wenn du zum Ehrentage gehst,

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heißt es dort.

Diese Szene mit dem von mir geschilderten Hintergrund birgt eine Tür zum richtigen Verständnis des Parzival-Epos.

Der Name Parzival bedeutet, aus dem Lateinischen abgeleitet: Durchdringe das Tal! Wolfram von Eschenbach nun konkretisiert die Namensgebung, indem er Parzival – und damit auch uns – über Sigune wissen lässt:

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Du heißt Parzival, und der Name bedeutet ´Mittenhindurch´.

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Und sie führt unmittelbar aus:

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Weil deine Mutter so treu war, pflügte nämlich die große Liebe eine Furche mitten durch ihr Herz, denn dein Vater ließ sie voll Herzeleid allein.

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Sigune bringt also den Namen Parzivals – bzw. dessen freie Übersetzung – in Zusammenhang mit der Liebe seiner Mutter zu ihrem Mann. Mittenhindurch schnitt der Mutter Herzeloyde die Liebe zu Gachmuret eine Furche ins Herz. Herzeloyde, Herzeleide, heißt sie nicht von ungefähr, und Herz, Leid und Liebe kennzeichnen damit auch Namen und Lebensweg Parzivals.

Erinnern wir uns, wie der Junge der Liebe begegnet. Er begegnet einer liebenden Frau, entweiht im Grunde – allerdings aufgrund der mütterlichen Ratschläge – ihre Liebe, indem er ihr gewaltsam Küsse aufzwingt und zu einer Reaktion seitens Orilus´ Anlass gibt, so grausam, wie sie nur ent­täuschte Liebe, enttäuschte, auf Besitzdenken ausgerichtete Liebe nach sich ziehen kann.

Er lässt Zelt samt Inhalt ganz unbedarft hinter sich und trifft auf eine Frau, die, weil sie mit der Liebe und ihrem Geliebten kokettierend spielte, diesen in den Tod trieb. Weil Sigune meinte, sich ihm verweigern zu müssen, meinte, weitere Beweise seiner Liebe herausfordern zu dürfen, hält sie nun den Geliebten tot im Arm. Verhält sich so jemand, der liebt? Von Herzen liebt?

Über seinen Tod nun muss sie spüren, was seine Liebe ihr wert ist; hatte sie vorher zu wenig Herz für seine Liebe, so hat sie nun eines, allerdings ein gebrochenes.

Glaubte sie nicht an seine Liebe und spielte deshalb mit Schionatulander? War ihre eigene nicht tief und ließ sie deshalb sich so verhalten? Oder konnte sie womöglich nur ihre große Liebe zu ihm erkennen – durch seinen Tod?

Parzival wird sie, wie gesagt, wiedersehen.

Bevor dies allerdings geschieht, findet er voller Tatendrang und Lebenslust zum Artushof, tötet mit seinem Jagdspeer, um an eine Rüstung zu kommen, kurzerhand den berühmten und allseits beliebten Ither, der ihm die eigene nicht abtreten wollte, wobei sich allerdings später herausstellt, dass jener König ein Verwandter von ihm war, und strebt nun, ohne es zu wissen, einem gewaltigen Höhepunkt seines noch jungen Lebens zu, um es mit den Worten Rainer Maria Rilkes zu sagen:

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Reitet der Ritter in schwarzem Stahl

hinaus in die rauschende Welt.

Und draußen ist Alles: der Tag und das Tal

und der Freund und der Feind und das Mahl

im Saal

und der Mai und die Maid und der Wald und

der Gral

und Gott ist selber vieltausendmal

an alle Straßen gestellt.

                        (Buch der Lieder)
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Machen wir doch einen kleinen, aber notwendigen Umweg über das Mahl im Saal, war es doch ganz einfach so, dass Parzival zunächst einmal lernen musste, sich zu benehmen. Weder hatte er nämlich richtige Tisch- noch ritterliche Manieren, wusste er doch nicht einmal eine Lanze richtig einzulegen. Dass er den sogenannten roten Ither besiegt hatte, verdankte er der im heimatlichen Wald oft geübten Kunst, seinen Jagdspeer zielgenau zu werfen. Im ritterlichen Lanzen- oder Schwertkampf hätte er Ither gar nicht besiegen können, weil der angemessene Gebrauch der Waffen ihm nicht möglich gewesen wäre. All dies und noch mehr, was eben ein Königssohn, der er ja eigentlich war, können musste, lernte er bei einem angesehenen und edlen Fürsten, Gurnemanz von Graharz.

Jener merkte schnell, was es mit dem jungen Mann auf sich hatte. Als seine Diener nämlich dem jugendlichen Abenteurer aus der Rüstung halfen, fuhren sie schockiert zurück, hatte er doch noch die Narrenkleider der Mutter samt den Bauernstiefeln, die sie ihm auch verabreicht hatte, an.

Entsprechend ernst und von Grund auf betrieb Gurnemanz seine Erziehung und riet ihm u.a.:

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Haltet euch an meine Lehren, und ihr werdet gut dabei fahren[. . .] Stellt keine überflüs­sigen Fragen, doch will Euch jemand mit seiner Rede aus forschen, so seid schnell bei der Hand mit ei ner wohlüberlegten Antwort [. . .]  Und schließt die Frauen in Euer Herz [. . .]  Mann und Frau sind untrennbar eins wie Sonne und Tag. Aus einem Samenkorn erblühen sie und sind nicht von einander zu trennen.

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Gar zu gern hätte es Gurnemanz gesehen, wenn seine Tochter Liaze mit Parzival solch ein Samenkorn geteilt hätte, aber unser junger Held wollte sich noch nicht binden – und wie recht er hatte, denn seine nächste Etappe sollte ihn zur Frau seines Herzens bringen. Es war Condwiramur, die Königin von Pelrapeire, die sich in großer Not befand, war doch ihr Reich umzingelt von Fürsten und Königen, die nur eins im Sinn hatten: einen König namens Clamide zu unterstützen, dem wie­derum nur eins bzw. eine im Sinn lag: Condwiramur. Jener aber war es bestimmt, Parzival zur Liebe zu führen. con duir amour – Condwiramur: Sie führt tatsächlich Parzival zur Liebe, und wie das von Wolfram auf lieblich zarte Weise angedeutet wird, bleibt dem nicht unverschlossen, der noch nicht zu viel Sat1- und RTL-Spätfilme gesehen hat.

Noch einmal zurück zu der Aussage von Gurnemanz:

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Mann und Frau sind untrennbar eins wie Sonne und Tag. Aus einem Samenkorn erblühen sie und sind nicht voneinander zu trennen.

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Nun ist das Untrennbar-Verbundensein so eine Sache, wenn man die zuneh menden Scheidungsraten und -verfahren zur Kenntnis nimmt – in Deutschland sind es 1993 immerhin 156 000 gewesen – und wenn man sieht, wie viele Menschen ohne das Siegel der Ehe zusammenleben, auch weil sie an einem Sinn des Sakramentes der Ehe zweifeln. Und letztendlich trägt die Auseinandersetzung zwischen einigen deutschen Bischöfen und dem Heiligen Stuhl darüber, ob Geschiedene zum Abendmahl wieder zugelassen werden könnten, nicht gerade zu einer Stabilisierung dieses Sakramentes bei.

Zu den Gralsgesetzen nun gehört es, dass der Gral dem Gralskönig die Königin zuweist. Worauf dieses Gesetz zurückzuführen ist und dass es nicht einer puren Willkür entspringt, sondern einem ehemaligen Zustand, einem Eins-Sein, das ein Gralskönig sich bewusst wieder aneignet, will ich versuchen zu erläutern – und fassen Sie das Folgende als eine mögliche gegenwärtige, vor allem aber zu künftige Realität unseres menschlichen Seins auf.

Werfen wir hierzu zunächst einen kurzen Blick auf die Schöpfungsgeschichten der Bibel, deren es ja im ersten Buch Mose zwei gibt, weshalb nicht wenige Theologen annehmen, dass sie zwei unter­schiedlichen Quellen bzw. Urkunden entstammen und von dem Verfasser des 1. Buches Mose eben zusammengefügt worden seien.

In der ersten Schöpfungsgeschichte im ersten Kapitel des ersten Buches Mose schafft Gott den Menschen nach seinem Bilde, und er schuf sie, so übersetzt Luther, als Mann und Weib. Nun ist ja Gott nicht ein Mann und eine Frau, sondern der alttestamentarische Gott ist zweifelsohne männlich-weiblich zugleich, vereinigt, um es in Begriffen fernöstlicher Philosophie auszudrücken, Yin und Yang in sich. Warum erzeugt Gott nun, wenn er selbst beide Geschlechter in sich vereint und den Menschen nach senem Bilde schafft, wie es heißt, diesen in Geschlechter getrennt, als Mann und Frau, wie Luther über setzt?

Tatsächlich findet sich bei genauem Hinsehen im hebräischen Urtext keineswegs, dass Gott Mann und Frau schuf, sondern dass Gott den Menschen schuf, Mann-Frau; es findet sich kein „und“. Als geistiges Wesen, dass Gott selbst ist, schuf er den Menschen nach seinem Bilde – auch als geistiges Wesen: männ lich-weiblich.

Sie finden im übrigen diese Sicht, die aus einer sauberen Übersetzung resultiert, nämlich, dass der Mensch ursprünglich – in seiner Entwicklung vor tausenden, ja hunderttausenden von Jahren – ein ganzheitliches Wesen war, bei Platon und im Sohar bestätigt.

Kommen wir zur zweiten Schöpfungsgeschichte in der Bibel; wir finden Sie im zweiten Kapitel des ersten Buches Mose; da heißt es, dass Gott den Menschen aus Erde schuf und ihm einen lebendigen Odem ein blies.

Adam, so das Wort für Mensch im hebräischen Urtext, ist in der Schöpfungsgeschichte Eigenname des ersten Menschen. Etymologisch hängt Adam mit dem hebräischen Wort Adamah, was Erde, Ackerboden bedeutet, zusammen.

Hier wird der Mensch Adam ganz ohne Zweifel mit männlich-weiblichen Anlagen zugleich geschaf­fen, wird doch später aus einem Teil von ihm noch die Frau geformt als sein Gegenüber, wie es wörtlich über setzt heißt. Wenn Luther Gott sagen lässt:

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[…] ich will ihm eine Gehilfin machen – nun nicht als sein Gegenüber, sondern: die um ihn sei […]

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so kann man das möglicherweise so frei übersetzen, nimmt damit allerdings in Kauf, den eigentli­chen Werdegang des Menschen zu verschleiern, ein Tatbestand, der sich auch in einer weiteren un­glücklichen Übersetzung Luthers spiegelt; wir finden nämlich, dass das hebräische Wort für Rippe, aus der Eva geformt wurde, genauso mit Seite übersetzt werden kann. Wenn nun der Mensch männlich-weiblich aus der Erde geschaffen ist, ist es doch viel sinnvoller, Gott nicht eine Rippe, sondern eine Seite im Sinne einer Hälfte aus dem männlich-weibli hen Gesamtwesen herausnehmen zu lassen, eben als sein Gegenüber.

Ich habe großen Respekt vor der Leistung Luthers, die er, die Bibel übersetzend, damals auf der Wartburg vollbrachte. Leider aber ist sie bisweilen deutlich geprägt von seinem philosophischen Verständnis der Wirklichkeit und verschleiert auf unglückliche Weise für seine zukünftigen Leser, was es meines Erachtens für das Bewusstsein unseres Werdens zu beachten gilt:

Zu Beginn seiner Werdung ist der Mensch ein männlich-weibliches, gleichsam pflanzliches Wesen. Männlich-weiblich schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde, männlich-weiblich schuf er ihn aus der Erde, erst dann tritt eine Differenzierung der Geschlechter ein, indem Gott eine Seite aus dem Menschen herausnimmt und den fehlenden Teil, wie es in der Bibel heißt, mit Fleisch schließt.

Bei dieser Sicht der Dinge wird auch deutlich, was das Neue Testament bezüglich des Sakramentes der Ehe meint, wenn es heißt:

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Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.

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Für mich ist der Mensch ursprünglich ein duales Wesen, und tatsächlich gehört zu jedem Adam eine Eva, zu jeder Eva ein bestimmter Adam. Adam und Eva stehen in der Bibel beispielhaft für uns Menschen, die wir heute sehnsuchtsvoll auf der Suche sind nach jener ursprünglich vorhandenen, ehemaligen Ganzheit.

Es gibt – gerade in Bezug auf das oben angesprochene Thema der Zusammengehö­rigkeit zweier Seelen – ein faszinierendes Dokument des jungen, ungefähr 20-jährigen Schiller, das einer Laura gewidmet ist. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine enthusiastische Liebe seiner Stuttgarter Zeit. Luise Vischerin war wenig mehr als 30 Jahre alt und die Witwe eines erst kürzlich verstorbenen Offiziers, dem sie zwei Kinder geboren hatte. Zahlreiche Gedichte widmet Schiller der Angebeteten, unter anderem auch eines, das er – nach all dem Vorausgeschickten für uns keineswegs mehr überraschend – überschreibt:

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Das Geheimnis der Reminiszenz – Das Geheimnis der Erinnerung.

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Die Literaturwissenschaft ordnet die Laura-Gedichte eher als Fingerübungen eines werdenden Poeten ein. Für manchen laufen sie möglicherweise sehr nah an der Kitsch-Grenze entlang. Aus meiner Sicht verhält es sich so:

In diesen Gedichten hat kein Verstand gefiltert; hier hat einer, ohne an einen Leser zu denken, seine Gefühle zum Ausdruck gebracht und ein tief in ihm ruhendes Wissen, welches das Geheimnis der Liebe betrifft:

 

Das Geheimnis der Reminiszenz (in Auszügen)

Waren unsre Wesen schon verflochten?

War es darum, dass die Herzen pochten?

Waren wir im Strahl erloschner Sonnen,

In den Tagen lang verrauschter Wonnen

Schon in Eins zeronnen?

Ja, wir waren´s! – Innig mir verbunden

Warst du in Äonen, die verschwunden;

Meine Muse sah es auf der trüben

Tafel der Vergangenheit geschrieben:

Eins mit deinem Lieben!

Und in innig festverbundnem Wesen,

Also hab´ ich´s staunend dort gelesen,

Waren wir ein Gott, ein schaffend Leben,

Und uns ward, sie herrschend zu durchweben,

Frei die Welt gegeben.

Uns entgegen gossen Nektarquellen

Ewig strömend ihre Wollustwellen!

Mächtig lösten wir der Dinge Siegel,

Zu der Wahrheit lichtem Sonnenhügel

Schwang sich unser Flügel.

Weine, Laura! dieser Gott ist nimmer,

Du und ich des Gottes schöne Trümmer,

Und in uns ein unersättlich Dringen

Das verlorne Wesen einzuschlingen,

Gottheit zu erschwingen.

Darum, Laura, dieses Glutverlangen,

Ewig starr an deinem Mund zu hangen,

Und die Wollust, deinen Hauch zu trinken,

In dein Wesen, wenn sich Blicke winken,

Sterbend zu versinken.

 

Wir suchen in der Liebe unseren Adam, unsere Eva, und die Geschichte vieler Menschen beweist, dass sich oft nicht findet, was Gott ursprünglich zusammenfügte. Wenn zwei Menschen, ohne Hass und in voller Verantwortung vor dem Sakrament der Ehe, welches beinhaltet, dass sich nicht trennen soll, was Gott zu sammenfügte, er kennen, dass sie für ihn nicht seine Eva ist, er für sie nicht ihr Adam – ist es dann nicht sinnvoll, sie trennen sich?

Ihnen werden meine Gedanken jetzt vielleicht ketzerisch vorkommen, des halb möchte ich noch einmal betonen:

Ich stehe zu dem Sakrament der Ehe, zu der Tatsache, dass der Mensch nicht trennen soll, was Gott zu sammenfügte. Aber wenn der Mensch zu sammenfügt, was Gott nicht zusammenfügte – ist es dann sinnvoll, dies zusammenzuhalten?

Zeigt nicht gerade die Geschichte der Menschen in der Bibel, in vielen Mythen und auch in unserer Wirklichkeit, wie sehr die Erdenbewohner Schwierigkeiten mit ihren Göttern bzw. dem Willen Gottes haben? Sollte es dann aus gerechnet so sein, dass sie dem Willen Gottes immer in der Liebe bzw. Ehe nachgekommen sind?

Für mich ist das Beharren des Heiligen Stuhles auf der Unauflösbarkeit der Ehe ein gravierendes und unnötiges Missverständnis v.a. auch deshalb, weil es so viele Menschen in widersinnige Gewissenskämpfe stürzte und stürzt.

Sie werden verstehen, dass ich hier nicht meine Sicht der Dinge weiter ausführen kann, wie Menschen dem Sakrament der Ehe begegnen sollten. Vergessen wir nicht: Es könnte genauso gut der Fall eintreten, dass sich zwei Menschen gefunden haben, die tatsächlich nach dem Willen Gottes zusammengehören und aus einer fehlenden Bereitschaft heraus, miteinander aneinander und an sich selbst zu arbeiten, sich trennen – gegen den Willen Gottes. Dann, und meiner Meinung nur dann, läge ein Abweichen vom Gebot Gottes vor mit all den Konsequenzen, die dies für die spirituelle Entwicklung zweier Menschen hätte.

Warum gehe ich in diesem Zusammenhang auf diesen Punkt ein?

Sie werden diese Frage, wenn wir den Lebensweg von Parzival noch ein Stück weiter verfolgen, beantwortet sehen, will doch der Gral vereinen, was sich einst trennte.

Hören wir Wolfram von Eschenbach, wie er den Fortgang der Beziehung zwischen Parzival und Condwiramur nach einer Zeit gelebter Liebe selbst schildert – Originalton Wolfram:

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Wenn ich nun davon erzähle, dass sie voneinander scheiden mussten, so wäre hinzuzufügen, dass ihnen der Abschied viel Leid bringen sollte. Vor allem die edele Frau bedaure ich! Nachdem Parzival ihr Volk, ihr Land und sie selbst aus großer Not erlöst hatte, hatte sie ihm ihre Liebe geschenkt. Eines Morgens nun sprach er vor Aug und Ohr vieler Ritter: „Edle Frau, wenn Ihr erlaubt, möchte ich fortziehen und erkunden, wie es um meine Mutter steht. Ich weiß nicht, ob es ihr gut geht oder schlecht, und möchte ihr daher einen kurzen Besuch abstatten, vielleicht auch unterwegs, wenn es sich so fügt, das ein oder andere Abenteuer bestehen. Diene ich euch mit ritterlichen Taten, so lohnt es mir später mit Eurer Liebe.“

Er bat also um Urlaub, und da sie ihn […] liebte, wollte sie seine Bitte nicht ab­schlagen. Parzival ließ all sein Gefolge zurück und zog allein von dannen.

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Wenn Sie – wie ich – den Weg des Parzival als Stufenweg zu einem höheren Bewusstsein sehen, als Weg vieler Stufen, deren ich nur die ein oder andere andeuten oder begleitende Bilder – denken Sie an Sigune und Schionatulander – aufleuchten lassen kann, dann werden Sie mir zustimmen, dass diese Stufe, auf die er jetzt tritt, die Türe, die er jetzt zu öffnen sucht, eine schwierige Prüfung darstellt.

Allein loszuziehen bedeutet ja für denjenigen, der diesen Weg geht, meistens nicht, dass er Familie oder Beruf zurücklässt, sondern dass er im Rahmen seiner bürgerlichen Existenz einen Pfad auf der Suche nach dem Gral betritt, den die meisten nicht kennen und nicht kennenlernen wollen. Er wird bemerken, dass immer weniger Menschen ihn verstehen, weil seine Interessen sich verlagern und zunehmend von der Norm abweichen. Weil er zunehmend häufiger sein Verhalten und sein Denken überprüft und hinter fragt, weiß er manchmal nicht mehr, was richtig und was falsch ist; ihm verschwimmt vor Augen, was bisher Gerüst seiner Wirklichkeit war. Er muss bemerken, dass alles, was er an anderen tadelt, in ihm selbst als Fehler auch vorhanden ist. Er verliert seine Hochnäsigkeit, ist verunsichert, manchmal depressiv, in sich gekehrt.

Nun wird er auch noch von anderen, weil ihm die übliche Aufgeblasenheit und scheinbare Selbstsicherheit – die man im beruflichen Leben bisweilen zur Schau stellen muss – zuwider ist, er sie also auch nicht mehr zeigen und praktizieren mag, von Mitmenschen, denen die Schwäche anderer willkommener Anlass ist, sich stark fühlen zu können, gedemütigt oder einfach dümmlich angegagen.

Er zieht sich womöglich auch von seinen ehemaligen Freunden zurück und unterwirft sein ganzes Leben einer immer radikaleren Inventur. Je weiter er diesen Weg geht, desto unmöglicher wird es ihm, zu einem Leben, wie er es früher führte, zurückzukehren; doch auch das Ziel zeigt sich ihm noch nicht.

Dieser Zustand ist als Nachtmeerfahrt der Seele bezeichnet worden. Immer und immer wieder konfrontiert sich jener, der auf dunkler See fährt, seinen Schwächen, und während andere bei Tische nach oben rücken, rückt er Stuhl um Stuhl nach unten. Ohne dass dies ihm in solchen Zeiten eine Hilfe sein kann, beginnt er doch zu jenen zu gehören, von denen die Bibel sagt:

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Die Letzten werden die Ersten sein.

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Gemeint sind jene, die bereit sind, in den Spiegel zu schauen, sich ihren Fehlern zu konfrontieren, jene, denen vieles in ihrem Leben zum Fingerzeig eigener innerlicher Befindlichkeit wird, die glauben, einen Fehler überwunden zu haben und doch wieder denselben machen, von sich enttäuscht sind, sich aufrichten, wieder straucheln, womöglich wieder stürzen – und doch nicht aufgeben. Die so kämpfen – für die ist ein Stuhl ganz oben reserviert.

Diese Letzten werden die Ersten sein. Sie lernen loszulassen, feste Vorstellungen aufzugeben, von sich wie ebenso von anderen, weil sie tief in ihrem Innern wissen: Neues gewinnen kann ich nur, wenn ich Altes aufgebe und Platz schaffe. Wahrhaft Leben kann nur, wer in einer  Kultur der Einatmer  ein- und ausatmen, das heißt, auch loslassen kann.

Eines sollte man allerdings auch nicht übersehen und hoch genug einschätzen: Condwiramur lässt Parzival ziehen. Es zeigt ihre Größe, die Größe ihrer Liebe, dass sie ihn nicht mit al en Mitteln halten will, sondern spürt, dass loszuziehen für ihn entwicklungs-notwendig ist; beide verzichten aufeinan­der, lassen einander los und ertragen die Ungewissheit, ob sie sich wiedersehen. So wie Sigune Schionatulander liebt, auch wenn er körperlich nicht anwesend ist, so liebt Condwiramur Parzival, und was sie noch nicht weiß: Ihre Bereitschaft zum Verzicht wird belohnt werden dadurch, dass Parzival sie zu beider Gralskönigtum auf die Gralsburg führen wird.

Ein literarisches Beispiel, wie es auch anders gehen kann, hat Max Frisch mit seinem RomanStiller ge statet. Da will einer nicht mehr der Mensch namens Stiller sein, den die anderen kennen, und er schreit ein ums andere Mal: Ich bin nicht Stiller; doch seine Umgebung will, dass er jener Stiller ist, den sie alle kennen.

Max Frischs Werk ist erfüllt von der Problematik, die mit dem Gebot des Alten Testamentes Du sollst dir kein Bildnis machen angesprochen ist, weil er weiß: Es ist das Ende der Liebe, wenn ich mir von jemandem ein Bildnis mache, sei dieser Jemand die Ehefrau, der Freund, ich selbst oder Gott. Nur die Liebe, das bemerkt Max Frisch auf eindringliche Weise, befreit aus jenem Bildnis, das Erstarrung und Tod zur Folge hat.

So reitet Parzival allein los, und das hat seine tiefe Bedeutung.

Allerdings bedrückt ihn der Gedanke an Condwiramur so sehr, so formuliert Wolfram,

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dass er allen Lebensmut verloren hätte, wäre er nicht solch beherzter Ritter ge wesen. Er überließ seinem Ross die Zügel, und das trabte nun, mit locker hängendem Zaum, ohne Leitung des Reiters über Baumstrünke und Moosflechten . . .

Am Abend gelangte er an einen See, wo Fischer mit ihrem Boot vor Anker lagen; . . .

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Diese Szene hat Musikgeschichte geschrieben, weil Richard Wagner seine Parsifal-Oper mit ihr be­ginnen lässt.

Parzival entdeckt im Boot einen Mann,

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der so prächtige Kleider trug, wie sie ein Herrscher über alle Reiche dieser Erde nicht prächtiger besitzen könnte. An diesen Fischer wandte sich Parzival und bat ihn um Gottes willen und als wohlerzogener Mensch zu sagen, wo eine Herberge zu finden sei. Der Mann, von tiefem Gram gezeichnet, erwiderte:

Herr, meines Wissens sind Land und Gewässer im Umkreis von dreißig Meilen völlig menschenleer, abgesehen von einer Burg hier in der Nähe, zu der ich euch guten Gewissens weisen kann.

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Der Mann muss es wissen, denn es ist der Gralskönig Anfortas, und, wie so häufig bei Wolfram, weist auch sein Name auf sein Schicksal:

Anfortas bedeutet, aus dem Lateinischen abgeleitet: ohne Kraft, ohne Stärke.

Ein kaum glaubhafter Name für den Regenten höchsten Königtums. Im Verlauf des Epos wird uns allerdings bekannt, dass Anfortas sich in den Dienst einer Dame stellte und, für sie kämpfend, durch eine Lanze an der Scham verletzt wurde. Verdammt ihn diese Verletzung auf der körperlichen Ebene zu fortwährendem Siechtum, so tut sie dies auch auf der geistigen, übertrat doch Anfortas mit dem Dienst für Orgeluse, so hieß die Dame, ein Gralsgesetz, das lautete, dem Gralskönig werde vom Gral selbst die Frau seines Herzens zugewie sen.

Es hätte jene Frau sein sollen, mit der er jenes ursprüngliche Samenkorn teilte, von dem Gurnemanz sprach – seine Eva. Da Anfortas gegen dieses Gebot des Gral als einem Gebot Gottes verstieß, büßt er zweifach:

Weil seine Diener ihm in regelmäßigen Abständen den Gral zeigen, kann er nicht sterben und leidet höllische körperliche Qualen; so finden wir ihn nicht von ungefähr im Freien, weil die Wunde eitert und übel riecht; weil er aber sich auf der anderen Seite seiner Übertretung bewusst ist, leidet er zugleich seelische Qualen in dem Bewusstsein, sich des Grals nicht würdig erwiesen zu haben.

Wenn da nicht jener Hinweis wäre, der auf dem Gral erschien und lautet:

Es wird einer kommen; und wenn jener nach der Ursache der Qualen des Gralskönig fragt, ist Anfortas von seinem Leiden erlöst, und jener ist der neue Gralskönig.

Nun reitet jener an jenem Abend zur Burg hinauf, und als unser Jüngling sich von den Rostflecken der Rüstung befreit hatte, schien es den Anwesenden, „er strahle so hell wie ein neuer Tag“. In einem Palast, der mit hundert Kronleuchtern, an denen viele Kerzen hingen, er leuchtet war, wird das Abendessen eingenommen. „In der Nähe des mittleren Kamins hatte sich der Burgherr auf seinem Ruhelager niedergelassen. Allen Frohsinns bar, war sein Leben ein ständiges Dahinsiechen.“ Er lud Parzival neben sich.

Viele stattliche Ritter saßen in der Runde, denen man in einer zu Herzen gehenden Szene etwas Trauriges zeigte:

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Zur Tür herein kam ein Knappe gelaufen, in der Hand trug er eine Lanze, aus deren Spitze Blut quoll und den Schaft hinabrann bis zu Ärmel und Hand. Da begann im weiten Palast ein solches Weinen und Klagen, dass nicht einmal dreißig Völker so viele Tränen vergießen könnten! Der Knappe trug die Lanze rings durch den Palast und eilte durch die gleiche Tür wieder hin aus. Als sie den Knappen und die Lanze in seiner Hand, die sie offenbar an ein schreckliches Unheil gemahnte, nicht mehr sahen, verstummte das Wehklagen der Ritter.

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Im Folgenden nehmen wir teil an einer Zeremonie, die aufgrund ihrer Feierlichkeit und Zahlensymbolik sakralen Charakter hat. Blenden wir uns in die Schilderung Wolframs ein:

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Seht, da erschienen bereits wieder sechs Damen in kostbaren Gewändern aus gold­durch wirkter Seide und aus Seidenstoff von Ninive. Wie die letzten sechs Edeldamen trugen sie Kleider aus verschie denfarbi gen Stoffen, die sehr teuer sind. Jetzt endlich er­schien die Königin. Ihr Antlitz strahlte so hell, dass alle mein ten, der neue Tag sei an ge­brochen. Ihr Gewand war aus arabischer Seide, und auf grünem Seidentuch trug sie den Inbegriff paradiesischer Vollkommenheit, Anfang und Ende allen menschlichen Strebens! Dieser Gegenstand wurde der Gral genannt und übertraf alle Vorstellungen irdischer Glückseligkeit.

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Was sollen wir lange drumherum reden: Obwohl der Gralskönig ihm sein eigenes Schwert über­reichte, obwohl alle Anwesenden an seinen Lippen hingen – Parzival stellte die so heiß ersehnte Frage nicht. Er, so lässt uns Wolfram wissen, bemerkte wohl alle Pracht und das wunderbare Geschehen, doch seine höfische Erziehung ließ ihn auf jene Frage verzichten. Er dachte nämlich bei sich:

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Gurnemanz hat mir wohlwollend und unzweideutig eingeschärft, keine unnützen Fragen zu stellen. Soll ich durch ungeschicktes Benehmen wieder Missfallen erregen wie bei ihm? Auch ohne Fragen werde ich schon erfahren, was es mit dieser Rittergesellschaft auf sich hat.

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Mit ausgesuchter Höflichkeit wird Parzival zu Bett gebracht, doch in sei nen Träumen kündet sich schon an, was ihm bevorsteht. Als er schweißüberströmt aufwacht und hochschreckt, fällt ihm so­gleich auf, dass keine Pagen herbeispringen.

Er tat, was zu tun war, und wappnete sich von Kopf bis Fuß.

Am Ende gürtet er beide Schwerter um und begibt sich zur Tür. An der Treppe findet er sein Ross angebunden, daneben lehnen, ihm hochwillkommen, Schild und Lanze. Ehe unser Held Parzival das Pferd besteigt, durcheilt er viele Gemächer und ruft nach den Burgbewohnern. Als er niemanden hört oder sieht, ist er sehr bekümmert; am Ende gerät er in Zorn und stürmt auf den Hof, wo er am Abend seiner Ankunft vom Pferd gestiegen war. Dort sind Erde und Gras zerstampft und die Tautropfen von den Grashalmen gestreift. Laut rufend läuft der Jüngling zu seinem Pferd und schwingt sich schließlich mit Scheltworten in den Sattel. Das Burgtor findet er weit geöffnet, und hindurch führt eine breite Spur von Pferdehufen. Nun zögert er nicht länger und reitet in schnellem Trab auf die Zugbrücke. Da zieht ein verborgener Knappe am Seil, so dass das hochschnellende Brückenende das Pferd fast zu Fall gebracht hätte. Parzival wendet sich um. Gerne hätte er sich danach erkundigt, was es mit dieser Burg auf sich habe. Der Knappe aber ruft ihm zu:

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Ihr seid nicht einmal wert, dass Euch die Sonne bescheint! Zieht ab, Ihr beschränkter Dummkopf! Hättet Ihr doch Euern Schnabel aufgetan und den Burgherrn gefragt! Ruhm und Ehre habt Ihr verspielt!

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Hättet Ihr doch Euern Schnabel aufgetan […]

Ganz so drastisch drückt, was sie denkt, eine Frau, die Parzival ungefähr eine Meile von der Burg entfernt antrifft, nicht aus. Wieder trifft er Sigune an einer entscheidenden Stelle seines Lebens, sie, die es kaum glauben kann, dass er auf der Gralsburg war. Wieder erkennt Parzival seine leibliche Base Sigune zunächst nicht, die gramgebeugt ihren einbalsamierten Schionatulander im Arm hält.

Parzival erzählt ihr:

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Ich habe dort höchst wunderbare Dinge erlebt und viele wunderschöne Edelfrauen be­staunt.

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Da erkennt sie ihn an seiner Stimme und ruft:

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Du bist Parzival. Sag schnell, hast du den Gral und den unglückseligen Burgherrn gesehen? Lass mich die frohe Botschaft vernehmen! Heil dir zu deiner glückbringenden Fahrt, wenn er endlich von furchtbaren Qualen erlöst ist! Du wirst nun über alle Geschöpfe dieser Erde erhoben! Alle Kreatur ist dir untertan! Unermesslicher Reichtum und höchste Machtvollkommenheit sind dein!

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Parzival, noch ganz verblüfft, will zunächst jedoch einfach wissen, woran sie ihn erkannt habe.

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Ich bin die Jungfrau, die dir schon einmal ihr Leid geklagt und dir deinen Namen genannt hat! Du brauchst dich unserer Verwandtschaft nicht zu schämen. Deine Mutter ist meine Tante. Sie ist eine Blüte weiblicher Keuschheit, auch ohne Tau von lauterster Reinheit. Gott lohne es dir! Du hast wirklich Erbarmen gezeigt mit meinem Geliebten, der mir in ritterlichem Zweikampf getötet wurde. Hier halte ich ihn in den Armen! Kannst du den Schmerz ermessen, den mir Gott mit seinem Tod auferlegt hat? Er war ein mannhafter Ritter, und sein Tod hat mich schwer getroffen. Nun erneuere ich Tag für Tag meine Totenklage.

Ach, wo blieb das Rot deiner Lippen! Bist du in der Tat Sigune, die mir sagte, wer ich wirklich sei? Dein Haupt ist kahl, verschwunden sind deine langen braunen Locken! Im Wald von Briziljan warst du noch voller Liebreiz, obwohl du großen Kummer tragen musstest, doch jetzt sind Schönheit und Lebenskraft dahin! Mich würde schaudern in so furchtbarer Gesellschaft! Lass uns diesen Toten begraben!

Da netzten Tränen ihr Gewand […] Sie sprach zu Parzival:

Könnte mich je noch etwas erfreuen, so wäre es die Nachricht, dass der schmerzbe­ladene Anfortas von seinem Dahinsiechen erlöst ist. Hast du ihn vor deinem Abschied er­löst, gebührt dir höchster Ruhm! […] Glaube mir, lieber Vetter: All das Wunderbare, was du dort erblickt hast, gehört dann dir! Hoch über alle andren Edlen erhoben, trägst du die Krone des Heils! Alles, was der Mensch erstrebt, erhältst du im Überfluss. Hast du die entscheidende Frage getan, so gibt es keinen Menschen auf Erden, der sich an Macht und Reichtum mit dir messen kann.“

Er aber sagte: „Ich habe nicht gefragt!“

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Warum hat der gute Mann nicht gefragt? War er zu jung? Fehlte ihm Erfahrung, Reife? Oder wurde er Opfer einer normativen Erziehung, einer ganz traditionellen, der nämlich von Gurnemanz, die auf Höflichkeit und Benimm abgestellt ist? Zeigt sich damit nicht, dass diese Art vordergründiger Erziehung fehl am Platz ist?

„Stell keine überflüssigen Fragen“, hatte ihm Gurnemanz geraten. Daran hatte sich Parzival gehalten – nun wurde er bestraft, dass er sich an den traditionellen Verhaltenskodex eines anerkannten ritterlichen Lehrers hielt. Gralskönig hätte er in diesem Moment sein können. Nun stand er vor dem Nichts, der Verachtung der Wissenden preisgegeben.

Und hatte seine Mutter nicht das ganze Debakel mit ihrem Ratschlag:

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Hält dich ein alter, erfahrener Mann zu gutem Benehmen an, dann folge willig seiner Lehre […]

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in die Wege geleitet? War er nicht auch ihretwegen willig auf des Gurnemanz Ratschläge eingegan­gen? Hatte nicht auch sie ihm geraten

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Zögere nicht lange beim Küssen […]

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und ihn so an Jeschute schuldig werden lassen?

War nicht sein Lebensweg Beispiel eines großen erzieherischen Desasters?

Liebe Anwesenden! Es geht nicht um Debakel, Desaster oder Schuld – es geht um Entwicklung. Was Parzival bei Gurnemanz lernt, ist unabdingbare Voraussetzung, dass er überhaupt das erste Mal zum Gral gelangen kann, wenn er auch dort scheinbar versagt.

Zum Gral gelangt nur, wer seiner würdig ist, und dieses Würdig-Sein zeigt sich auch in äußerlichem Verhalten, in höflichem und respektvollem. Unterschätzen wir es nicht. Wer, wenn er durch eine Türe geht, zurückschaut, der wird dem lateinischen Wort für zurückschauen respicere gerecht; er zeigt Respekt. Natürlich können Menschen bei der Höflichkeit als einer leeren Fratze stehenbleiben; um aber zu einer herzlichen Höflichkeit zu gelangen, zu der wahren, die eine innere Haltung mit einer äußeren verbindet, tut man sich leichter, wenn man z.B. lernt, den Gegenüber ritterlich und fair zu behandeln. Gerade auch sein Besuch auf der Gralsburg muss Parzival vor Augen führen, wie sehr eine äußere Form – Sie erinnern sich an die Zeremonie vor dem Abendessen auf der Gralsburg – korrespondiert in ihrer Würde dem inneren Stellenwert eines Geschehens. Wer nicht weiß, dass der Kamm nicht auf die Butter gelegt wird, hat dort, auf Munsalwäsche, gewiss nichts verloren.

Was ich meine, hat Max Frisch – Sie merken, ich mag diesen vor nicht allzu langer Zeit verstorbenen Schweizer Autor – wunderbar in seinem Tagebuch I zum Ausdruck gebracht:

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Das Höfliche, oft als leere Fratze verachtet, offenbart sich als eine Gabe der Weisen. Ohne das Höfliche nämlich, das nicht im Gegensatz zum Wahrhaftigen steht, sondern eine liebevolle Form für das Wahrhaftige ist, können wir nicht wahrhaftig sein und zugleich in menschlicher Gesellschaft leben, die hinwiederum allein auf der Wahrhaftigkeit bestehen kann – also auf der Höflichkeit.

Höflichkeit natürlich nicht als eine Summe von Regeln, die man drillt, sondern als eine innere Haltung, eine Bereitschaft, die sich von Fall zu Fall bewähren muss –

Man hat sie nicht ein für allemal.

[. . .]

Man hilft dem andern, wenn er den Mantel anzieht. Natürlich sind es meistens bloße Faxen; immerhin erinnern sie uns, worin das Höfliche bestünde, das wirk iche, wenn es einmal nicht als Geste vorkommt, sondern als Tat, als lebendiges Gelingen – [ . . ] (I,60)

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Äußere Form ist also eine Form der Erinnerung an ein lebendiges inneres Gelingen. Sie führt uns – denken Sie an Mnemosyne – zum Ursprung. So auch hier: Äußere Form erinnert an das Nach-innen-Gehen, wo le endiges Gelingen möglich wird.

Das lebendige Gelingen fehlte Parzival offensichtlich. Die äußere Form, das Korsett, war noch zu wenig mit Inhalt gefüllt, und Wolfram von Eschenbach führt uns in eindrücklicher Weise vor Augen, um was es im Innern gehen könnte, indem er Parzival nach Verlassen der Burg wieder auf Sigune treffen lässt. Indem sie sich Schionatulander verweigerte, trieb die Jungfrau jenen in den Tod. So brachte sie sich selbst um die Vereinigung mit dem Geliebten. Nun erst, nach seinem Tod, der so über flüssig war wie Kropf, wie man zu sagen pflegt, spürt sie, wie sehr sie ihn liebt; als sei sein Tod notwendig gewesen, um die Liebe in ihrem Herzen freizulegen. Im Tod hält sie ihn umschlungen.

Dieser wahren Liebe wird Parzival nach Verlassen der Gralsburg ansichtig. Hätte solche Liebe ihn fragen lassen?

Schio-natu-lander: Sie wissen mittlerweile um Wolframs bedeutungsschwangere Namensgebung. Lassen Sie uns Schion-natu wie Zion-natu sprechen und nehmen wir lander hinzu, so bedeutet der Name: der in Zion Geborene, und wenn Sie sich des Adventsliedes Tochter Zion, freue dich erinnern, so ahnen Sie, wen Ihnen Wolfram vergegenwärtigen will: den im goldenen Jerusalem, in Zion Geborenen.

Braut und Bräutigam sehen wir vor uns, und falls Sie etwas bibelfest sind, wissen Sie, dass von der Braut und dem Bräutigam im Neuen Testament des Öfteren die Rede ist, u.a. im Gleichnis von den 10 Jungfrauen, die auf den Bräutigam warten und Sorge zu tragen haben, dass ihre Lampen nicht verlöschen, weil niemand Tag noch Stunde kennt, da der Bräutigam kommt. Jede Seele, jede Braut, jeder Mensch also, so will das Neue Testament uns vermitteln, soll sich bereithalten; der Tod bzw. das Jüngste Gericht und damit der Bräutigam kommen unerwartet.

Es gibt einen Spruch von Andreas Gryphius zu Weihnachten, der lautet:

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Der Mensch war Gottes Bild.

Weil dieses Bild verloren,

Wird Gott, ein Menschenbild,

In dieser Nacht geboren.

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War die Erdengeburt des Menschensohnes und sein Tod auf Golgatha, war der Tod Schion-natu-landers notwendig? Ging Gottes Bild im Laufe der Menschheitsentwicklung tatsächlich verloren? War wenigstens die Mission des Gottessohnes erfolgreich?

Sigune, die Braut, schickte Schionatulander, ihren Bräutigam, in den Tod, weil sie die Botschaft des Brackenseiles zur Gänze wissen wollte – und nichts anderes enthielt dieses als 12, die 12 Tugenden, den Kranz der Tugenden.

Es ist, als ob sich Sigune einer bedeutungsvollen Aussage des berühmten Michelangelo bewusst sei:

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Wo Liebe wahr zu einem Herzen spricht,

baut sie auf Tugend, die die Seele schmückt.

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Gerade angesichts des entlaufenen Hundes mag Sigune, die stellvertretend hier für die Seele eines jeden Menschen steht, gespürt haben, wie wichtig dessen Botschaft, wie wichtig für sie der Kranz der Tugend ist – gerade im Hinblick auf die Beziehung zu Schionatulander; wäre sie sich der 12 sicher gewesen, Schionatulander hätte nicht sterben müssen.

So aber ist für Sigune und für uns der Name des Hundes, der entlief samt der Botschaft eine zusätzliche Mahnung:

Gardevias: Beachte die Wege, was – wiederum auch für uns – heißt: Lerne die Gesamtheit der Tugenden.

Und vergessen wir den Namen Parzivals nicht: Durchdringe das Tal! Beachte dabei Weg und Tugend!

Lassen Sie uns unseren Weg über die Peterskirche in Rom nehmen, um uns nochmals Michelangelo zuwenden zu können, der ja nicht nur Maler und Bildhauer war, sondern auch, wie wir eben angedeutet fanden, Verfasser tiefsinniger Sonette und Versdichtungen überhaupt. Begegnen wir ihm diesmal auf seinem eigentlichen Feld. Er hatte ausgangs des 15. Jahrhunderts „eingewiligt, ´die schönste Arbeit in Marmor, die Rom heute aufweisen kann´“ – wie er selbst sagte -, „zu liefern, und er bemühte sich“, eine Pietà zu fertigen, die bis in alle Einzelheiten dieses Versprechen rechtfertigte.

„Bis in das 15. Jahrhundert hinein war das Thema der pietà fast nur Künstlern Nordeuropas vorbehalten gewesen, deren schauerliche Figuren von Jesus und Maria, meist aus Holz, in den Gläubigen anscheinend Erschütterung und Betroffenheit über das Opfer Christi auslösen sollten. Michelangelo, […], wählte dieses fremdartige und schwierige Thema, entkleidete es des Schreckens, der ihm anhaftete, und machte ihm den Marmor, ein widerspenstiges Material für eine so an pruchsvolle Komposition ge­fügig. Indem er das Schwergewicht nicht auf den Gram, sondern auf die Schicksalsergebenheit der Mutter Gottes legte, suchte er den Betrachter zu philo­sophischen Gedankengängen anzuregen. ´Wenn uns das Leben gefällt´, schrieb er einst, ´so sollte uns der Tod, über den derselbe Schöpfer entscheidet, nicht miss fallen.“ Er gestaltete „die Figur Christi als die Quintessenz des Menschen – eine Figur, bei der es nicht Not tat, wie er es ausdrückte, ´das Menschliche hinter dem Göttlichen verschwinden zu lassen´. (Time-Life)

Die Oberfläche des Materials „ist – im Original erkennbar – so geglättet, dass sie schimmert, die zarte Modellierung lässt den Marmor lebendig wie Fleisch und Blut wirken, und der reiche Faltenwurf des Gewandes (der Maria) teilt dem ganzen Werk eine vibrierende Energie mit. Christus, obwohl tot, lebt noch, seine Adern sind blutdurchpulst, sein Körper ruht [..] wie der eines Schlafenden, eingebettet in die Mulde aus Arm und Schoß der Muttergottes.“

Michelangelo war, wie er es nannte, auf der Suche nach dem „Ebenbild des Herzens“. – Wenn Sie die Pietà sehen, glauben Sie, Sigune und Schionatulander vor sich zu haben.

pieta_michelangeloDiesem Ebenbild des Herzens begegnet Parzival ausgerechnet wieder, nach dem er an den todkranken Anfortas die entscheidende Frage nicht gestellt hatte, und wir erahnen: Nicht der Mutter oder des Gurnemanz Ratschläge sind verantwortlich für die Tatsache, dass Parzival die erlösende Frage nicht stellte, sondern weil ihm noch fehlt, was die Pietà versinnbildlicht: die reine Liebe von Seele zu Seele, ja Seele zu Geist, die über aller körperlichen Liebe steht.

Es gehört für mich zu den Aufgaben des Deutschunterrichtes in der Oberstufe, zu ver­mitteln, dass große deutsche Dichter in ihren Werken von dieser Liebe immer wieder gesprochen haben, v.a. Goethe, der, wie kaum ein anderer, in seinem Privatleben und seinem schriftstellerischen Wirken zugleich ein Suchen und Streben vermittelt, welches körperliche Liebe und Nähe möchte und doch immer zugleich mehr will. 73-jährig noch verliebt er sich unsterblich in eine 17-Jährige, macht ihr den Hof, fragt seinen Arzt, ob Heirat in seinem Alter schaden könne, schickt seinen Herzog als Brautwerber nach vorn und verfolgt Angebetete samt Mutter, als diese aus Marienbad flüchten – Goethe hatte beide während eines Kuraufenthaltes kennengelernt – auch nach Karlsbad. Dort muss er schließlich einsehen, dass sein Ansinnen zu unrealistisch ist; enttäuscht und schmerzerfüllt setzt er sich in seine Kutsche, und von Station zu Station schreibt er auf der Heimreise nach Weimar die so genannte Marienbader Elegie, die beginnt mit Strophen, welche sich auf seine aktuelle leidenschaftliche Liebe beziehen, in deren Mittelpunkt wir aber Verse finden, die über irdische Liebe hinausweisen auf Höheres und zu den Höhepunkten literarischen Schaffens der Menschheit gehören.

Sie verstehen sie vor allem dann recht, wenn Sie die Worte des Paulus aus demBrief an die Philipper in Betracht ziehen; sie lauten:

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Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,

bewahre eure Herzen und Sinne in Jesu Christo.

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Und nun Goethe, inmitten seiner Elegie:

 

Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden

Mehr als Vernunft beseliget – wir lesens –

Vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden

In Gegenwart des allgeliebten Wesens;

Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören

Den tiefsten Sinn, den Sinn: ihr zu gehören.

 

In unsers Busens Reine wogt ein Streben,

Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten

Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,

Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;

Wir heißens fromm sein! – Solcher seligen Höhe

Fühl ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.

 

Da sieht Parzival einen vor sich, der nur mühsam Haltung bewahren kann, einen dem Tode Geweihten, den der Gral gleichsam zwingt zum Leben, der sein Leid leid ist, der nur eins will: erlöst werden, sei es durch den Tod oder durch jenen, der kommen soll. Er darf sein Leid nicht anbiedern, Parzival darf in keiner Weise aufgefordert werden zu fragen – so will es der Gral. Sieht der Jüngling denn nicht die trüben Augen, das bleiche Gesicht, die Bitternis der Züge? Spürt er nicht die drückende Stimmung im Saal, die leise und doch so große Hoffnung in aller Augen? Will er ihn erkennen? Kann er Anfortas erkennen?

„Stell keine überflüssigen Fragen!“ Gurnemanz Stimme tönt ihm im Ohr. Aber gibt es hier eine Frage, die weniger überflüssig gewesen wäre als die:

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Oheim, kann ich Dir helfen?

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Haben die Lehren von Gurnemanz überhaupt etwas mit solch einer existentiellen Situation zu tun? Für Außenstehende ist die Antwort sicherlich klar: nein; Parzival empfand es offensichtlich anders.

Er sieht mit den Augen – er sieht nicht mit dem Herzen.

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Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt

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lesen wir in Goethes Faust.

Wie wahr. Parzival trägt das Leid des Anfortas noch nicht im Herzen. Kein Herzton klingt auf, als er den leidenden Gralskönig sieht, und es bewahrheitet sich auch an ihm Antoine de Saint Exupérys Satz aus dem un sterblichen Kleinen Prinzen:

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Man sieht nur mit dem Herzen gut.

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Ich darf vorwegnehmen, dass Parzival, als er an Anfortas die entscheidende Frage gestellt haben wird, die jenen erlösen und ihn selbst zu höchstem Königtum führen wird, wieder auf Sigune trifft; dann wird sie gstorben sein, er wird sie finden, wie sie im Tode ihren toten Schionatulander im Arm hält, und doch wird zu diesem Zeitpunkt – so lässt sich annehmen – Parzival wissen, dass sie nun wahrhaft mit ih rem Bräutigam vereint ist.

Bei jenem zweiten Treffen allerdings nun trifft ihn, nach dem des Knappen an der Zugbrücke, ein weiterer Bannstrahl:

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„Weh, dass Ihr mir je unter die Augen kamt!“, rief die schmerzgebeugte Jungfrau. „Ihr habt versäumt zu fragen! Warum habt Ihr es nicht getan? Weh, was wollt Ihr überhaupt bei mir? Ehrloser und verfluchter Mensch! Ihr seid gefährlich wie der Zahn eines toll­wütigen Wolfs. Schon in jungen Jahren hat die bittere Galle der Falschheit die Treue in Euch überwuchert! Ihr hättet Euch Eures Gastgebers, den Gott so furchtbar gestraft hat, erbarmen und nach der Ursache seiner Qualen fragen müssen! Zwar lebt Ihr, doch Euer Lebensglück ist tot!“

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Wie recht sie behalten wird. Nicht nur, dass Parzival nochmals auf ähnliche Weise, allerdings dann in aller Öffentlichkeit, nämlich vor Artus und den Rittern der Tafelrunde, verflucht werden sollte, und zwar von der Gralsbotin Cundry, nicht nur, dass er die geschätzte Tafelrunde auf eigenen Wunsch verlässt, um den Gral zu suchen, dass er lange vergeblich suchen musste, ein drittes Mal Sigune wieder sah und was noch alles zu schildern wäre – seine Verzweiflung, aber auch seine Erkenntnis:

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Ich habe mein Unglück selbst verschuldet.

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Kein Zweifel: Parzival durchquert sein Tal – und zwar „mittenhindurch“. Und was einer der größten Dichter Griechenlands, Aischylos, im 4. vorchristlichen Jahrhundert schrieb, könnte er genau auf Parzival hin fomuliert haben:

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Weise macht den Erdensohn

Gottes Führung und Gebot:

Leiden soll die Lehre sein.

Mahnend sinkt im Schlaf der Nacht die Qual

Alter Schuld

Ihm aufs Herz:

Ungewollt

Kommt die Weisheit über ihn.

Strenge Wege geht mit uns die Gnade,

Die am Weltensteuer sitzt. (II,21)

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Und wie wichtig es ist, die Schule des Leidens anzunehmen, was Parzival im Übrigen tut, entneh­men Sie Sätzen einer sehr weisen Frau, Ricarda Huch, Historikerin und Dichterin von Rang, die schrieb:

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Die meisten Berufenen scheitern daran, dass sie nicht kämpfen und leiden wollen. Sie möchten wohl Auserwählte sein, aber, wie Papageno (in Mozarts Zauberflöte; Anm. J.K.), nicht durch Feuer und Wasser gehen, und gleichen Frauen, die sich nach Kindern sehnen, aber die Qual, sie zu tragen und hervorzubringen, nicht auf sich nehmen mögen. Es gibt Menschen, die dem Leiden ausweichen, und es gibt Menschen, die das Leiden suchen und denen das Leiden ausweicht; wen Gott aus erwählt hat, dem zwingt er das Leiden auf. Und zwar zwingt er es ihm auf durch das Mittel, durch welches er überhaupt im Menschen wirkt, nämlich durch das Herz; insofern nun jedem sein Herz selbst ange ört, macht jeder sich sein Schicksal selbst.

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Wir erfahren bei Aischylos, Ricarda Huch und Goethe, wie wichtig das Herz ist.

Letzterer macht uns aber auf einen weiteren Punkt aufmerksam, der zum Verständnis des Gralsweges notwendig ist: Am Ende des Faust II lässt Goethe Engel, wie sie Faustens unsterbliche Seele in der höheren Sphäre tragen, singen:

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Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.

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Parzival ist am Ende seiner Kräfte, als ihm das Wunder der Gnade zuteil wird. Er trifft auf den Einsiedler Trevrizent, der ihm die Bedeutung des Karfreitags nahe bringt und den Karfreitagszauber vor seinem inneren Auge enthüllt, damit auch die Bedeutung des Grals, der seine Kraft durch eine blendend weiße Taube erhält, die Jahr für Jahr am Karfreitag eine weiße Oblate auf diesen Stein niederlegt, der da durch unendliche Kraft und Jugend zu spenden vermag.

Doch mir bleibt weder die Zeit, Ihnen darüber Ausführlicheres zu schildern, noch auf die überra­gende Bedeutung der Symbolik des Steins in der abendländischen Geschichte und im christlichen Glauben einzugehen, noch den wunderbaren Schluss des Werkes von Wolfram von Eschenbach Ihnen näher zubringen, der unter anderem davon berichtet, wie Parzival in ritterlichem Kampf auf seinen stärksten Gegner trifft und wie der Kampf lange Zeit hin- und herwogt, ja phasenweise es den Anschein nehmen will, als solle Parzival unterliegen. Doch als er, durch Gedanken an seine geliebte Condwiramur gestärkt, das Blatt wieder wenden kann, zerbricht sein Schwert; sein ihm unbekannter Gegner legt – welch lebendiges Gelingen! – sein Schwert beiseite; diese höfliche Geste zeitigt einen friedlichen Ausgang und er möglicht, dass Parzival in diesem so fairen Gegner seinen Halbbruder Feirefiz erkennt, den größten Helden des Orients, den er im übrigen dann zum Gral führen wird.So vereinigen sich am Ende Orient und Okzident vor dem Gral, eine selten schöne Vision dieses Werkes.

Obwohl es mir schwer fällt, auf die ausführlichere Darstellung des Zusammenhangs zwischen dem Karfreitagsgeschehen und der Wirkung des Gral zu verzichten, möchte ich meine abschließendes Wort ei nem andern Geschehen widmen: der Erlösung des Anfortas.

Wen erlöst Parzival mit seinen fragenden Worten

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Oheim, was ist dir?

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Er erlöst sich selbst. Anfortas ist niemand anderes als die Menschennatur, die dem Parzivalstadium vorausgeht.

Anfortas sind wir.

Wir streben jener Ganzheit nach, die wir verloren haben, als wir das Paradies verließen, und wir sehen die Mehrheit der Menschen heute fast wie rasend versuchen, einen Abglanz jenes Glücks er­zwingen zu wollen, sei es durch das Horten von Geld, durch immer neue Aktivitäten oder durch zwang haftes Gesundseinwollen.

Doch es gibt auf unserer Erde wahres Gesund-Sein nur über die Erfahrung der Krankheit, zudem:

Dem Tod weicht auch der nicht aus, der noch bis eine Sekunde zuvor sich der Illusion hingibt, alles, auch Leben, er kaufen zu können.

Wir haben ihn, den Tod, erkauft, als wir uns als Menschheit entschieden, eine Entwicklung zu nehmen, die uns aus dem Paradies führt. Nicht, dass wir uns vom Baum des Lebens und vom Baum der Erkenntnis, wie es in der Bibel heißt, verabschiedeten, war das Entscheidende; erinnern sollten wir uns vor allem an den Tatbestand, dass wir im Paradies – die Griechen nannten diese Phase der Menschheitsentwicklung Goldenes Zeitalter – ein Bewusstsein hatten, das einem göttlichen gleich­kam.

Mensch und Gott waren – was ihr Bewusstsein be trifft – nicht getrennt. Wir waren bzw. sind in un­serem Kern göttliche Wesen, ge chaffen nach dem Bilde Gottes. Zunehmend entfernten wir uns von diesem Bild und Dasein; die Sintflut und der Turmbau zu Babel sind nur zwei Meilensteine auf diesem Weg.

In vielen Menschen nun ist der Wunsch nach dieser verlorenen Ganzheit, nach der verlorenen Heimat, zumindest untergründig, wach, und wir versuchen, in der Liebe wenigstens zeitweilig Ganzheit zu erlangen.

Doch es ist Kennzeichen der körperlichen Liebe, dass sie dieses Gefühl nur kurz fristig zu geben vermag, ja dass sie die meisten Menschen leidend – wir denken an Anfortas – zurücklässt, wenn es ihnen nicht ge ingt, eine Liebe und damit einen Frieden in sich zu erlangen, der höher ist als alle menschliche Vernunft.

Wer das Tal wie Parzival durchdringt, gelangt zu der Erkenntnis, welche Bedeutung die Überwindung des Todes für uns hat und dass wir ihn, unabhängig von unserer Religionszugehörigkeit, nur wahrhaft überwinden, wenn wir die Bedeutung des Karfreitags verstehen, infolgedessen jener Stein, genannt Gral, seine Kraft für uns entfalten kann.

In Anfortas finden wir den Menschen, der, wie vielleicht kein anderer zuvor, sich seiner Gespaltenheit, seiner Krankheit bewusst wird, seines Fehlers, dass er glaubt, mit seinen Wünschen, seinem Willen er folgreich Leben gestalten zu können. Doch nicht die Lust oder sein Wille lassen ihn glücklich werden, sondern der Gral. Er weist ihm zu, mit welchem Wesen er ganz und heil werden kann.

Liebe kann uns zur Ganzheit führen oder zur Krankheit; das führt uns Anfortas vor Augen, und der Parzivalweg zeigt uns, wie wir diesen Zustand überwinden können. Es ist der Weg des Suchens und Strebens, es ist der Weg zum eigenen Herzen, das uns zu unserem alten Menschen verstehend und erlösend sagen lässt:

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Was ist mit Dir?

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Der Weise, der wirklich Höfliche, so lässt uns Max Frisch wissen, ist stets ein Liebender; er liebt den Menschen, den er er-kennen will [. . .]

Zum Er-Kennen bedarf es der Liebe, und sie ist eine Herzenskraft. Als Parzival sie errungen hat, kann er seinen Nächsten, Anfortas, er-kennen, der in diesem wunderbaren Mythos eben er selbst ist auf einer Stufe, die es zu überwinden gilt. Er erlöst Anfortas durch jene wahrhaft mitfühlende Frage; er erlöst sich selbst von schwerer Krankheit, indem er sich liebend umfängt; um es ganz klar auszu­drücken:

 

Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst.

 

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Johannes Klinkmüller
Albert-Schweitzer-Gymnasium
Leonberg, den 10. Februar 1995
2. Vortrag im Rahmen des Zyklus
Mythologie und (Selbst-)Erziehung
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