Über den ersten Ehekrach im All und das Ende der Hoch-Zeit von Himmel und Erde, die Herrschaft von Kronos und die Bedeutung seiner Schwester Mnemosyne, der Erinnerung.

Es ist kein Zufall, dass die Mutter der neun göttlichen griechischen Musen Mnemosyne heißt. Übersetzt bedeutet Mnemosyne Erinnerung.

Woran erinnert sie?

Es war, als hätt der Himmel

Die Erde still geküsst

[…]

so schreibt Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht Mondnacht, und was dieser Dichter der Romantik hier ahnend empfindet, war vor undenklichen Zeiten Wirklichkeit gewesen.

Tatsächlich war Gaia, die breitbrüstige Erde, so lesen wir bei dem griechi­schen Dichter Hesiod (um 700 v. Chr.), aus dem Chaos entstanden, und sie er­zeugte als Erstes, ihr selbst gleich, den sternenreichen Uranos, den Himmel, da­mit er sie ganz umhülle.

Gaia nun gebar in den Armen des Himmels zahlreiche Kinder, unter an­derem den tiefaufgewirbelten Okeanos, die neunmal gebärende Mnemosyne, den hinterli­stigen Kronos und andere mehr.

Kronos heißt übersetzt Zeit. Mit ihm, dem lateinischen Saturn, endet, so lässt uns die griechische Mythologie erahnen, das zeitlose kosmische Sein. Schuld daran war der erste Ehekrach im All, und das kam so:

Uranos waren seine zahlreichen Kinder samt und sonders verhasst, und so ver­barg er sie gleich nach ihrer Geburt in einer Höhlung von Gaia, der Mut­ter Erde. Diese stöhnte, weil sie immer mehr eingeengt wurde, auf, und es gelang ihr, Kro­nos von der Boshaftigkeit des Vaters zu überzeugen.

Sie gab ihm eine scharfzahnige Sichel und einen listigen Plan an die Hand. Als nun Uranos, die Nacht herbeiführend, kam, und in Liebesverlangen sich um Gaia ausbreitete, entmannte Kronos seinen Vater mit jener Sichel. Aus den auf die Mutter niederfallenden Blutstropfen entstanden  die Rache­göttinnen – die Ery­nien – und die Giganten.

Natürlich war es nun vorbei mit der Hochzeit von Himmel und Erde. Ge­schie­den waren sie durch Kronos, die Zeit.

Das Alte Testament berichtet übrigens ganz ähnlich, dass Gott am Anfang Him­mel und Erde und am vierten Weltentag Lichter am Himmel schuf, die fortan Zei­chen, Zeiten, Tage und Jahre geben.

Kronos bescherte mit seiner Herrschaftszeit dem Kosmos das so genannte Gol­dene Zeitalter. In dieser glücklichen Phase zu Beginn unserer Zeitreise lebten die Menschen in unschuldiger Glückseligkeit und genossen von dem reichen, le­bensspendenden Überfluss – aus den Eichen zum Beispiel floss Honig – den Gaia, die Erde, gern von sich aus gewährte. Sie kannten keine Kriege, nicht Trug und kein Unrecht. Dike, die Göttin des Rechts, lebte noch unter den Menschen. Starben sie, dann kam der Tod wie ein sanfter Schlaf. Kein Wunder, dass man dieses Zeit­alter als golden empfand.

Doch auch Kronos sollte es ähnlich gehen wie seinem Vater, beseitigte doch auch er seine Kinder, indem er sie – wohl um ganz sicher zu gehen – verschlang. Verständlich, dass Rhea, seine Göttergattin, zornig war und den Jüngsten rettete, indem sie ihrem Gemahl statt des neugeborenen Sohnes einen in Windeln gewickel­ten Stein zu essen gab.

Zeus gedieh von Nymphen betreut prächtig, und nachdem es ihm gelungen war, seine Geschwister mit Hilfe einer List seiner Mutter zu befreien, be­gann ein furchtbarer Kampf. Zeus und seinen Geschwistern standen die Ge­schwister des Kro­nos, die sogenannten Titanen, gegenüber, die Atlas zu ih­rem Führer gewählt ha­tten. Ausschlaggebend für diesen Kampf, Titanomachie genannt, war wohl, dass Zeus die Zyklopen, die noch von Uranos gefangenge­halten worden waren, befreit hatte. Diese, zwar Brüder des Kronos, dankten Zeus für ihre Erlösung, indem sie ihm Donner und Blitz als Zeichen und Werkzeug seiner Macht überreichten. Ebenso griffen die Hekatoncheiren, Rie­sen mit je hundert Armen und fünfzig Köpfen, auf seiner Seite ein. Mit ei­ner Wolke von Steinen bewarfen sie die Titanen, die sich von diesem Schlag nicht mehr erholten.

Mit dem Herrschaftsantritt des Zeus verschlechterten sich die Zeiten. Dem goldenen folgte das silberne, bronzene und eiserne Zeitalter, das die meisten antiken Autoren mit der Gegenwart identifizierten – das Zeitalter der Heroen, also z.B. des Kampfes um Troja und Theben, wird gelegentlich zwischen das bron­zene und eiserne datiert.

Dem absteigenden Wert der Metalle entspricht das zunehmende Maß an Un­ge­rechtigkeiten, Verbrechen, Kriegen und eben jenen Gütern, die dank Epi­metheus aus der Büchse der Pandora den Menschen zukamen.

Die Musen nun erinnern durch ihre Mutter Mnemosyne, in deren Schoß sie einst vereint waren, an jene Zeit, in der der Kosmos keiner Musen bedurfte, weil alles in die liebende Umarmung von Gaia und Uranos eingebettet war. Unter ihrem Führer, dem gewaltigen Sonnengott Apoll, auch Musagetes, d.h. Musenführer ge­nannt, erinnern die Musen mit ihren Künsten an jene Zeiten in der Hoffnung auf ein wiederkehrendes Goldenes Zeitalter, so z.B. Melpo­mene, die Muse der Tragö­die, Thaleia, die Muse des Lustspiels und Polyhym­nia, die Muse des Tanzes und der Musik. Mit ihnen verbindet sich die Ehr­furcht vor allem Göttlichen.

Richard Wagner, der große Dichter-Musiker des 19. Jahrhunderts, dessen Herz so heftig für Aischylos und die griechische Tragödie schlug, schrieb hierzu:

Mit dem späteren Verfall der Tragödie hörte die Kunst immer mehr auf, der Ausdruck des öffentlichen Bewusstseins zu sein: das Drama löste sich in seine Be­standteile auf: Rhetorik, Bildhauerei, Malerei, Musik usw. verlie­ßen den Reigen, in dem sie sich vereint bewegt hatten, um nun jede ihren Weg für sich zu gehen, sich selbständig, aber einsam, egoistisch fortzubil­den.

Wir wissen, dass Wagner im Grunde nicht nur das Schicksal der Künste, son­dern auch das des Menschen ausgesprochen hat. Sein Bestreben war es üb­rigens in seinem Schaffen, seinem Drama die frühere Gemeinsamkeit der Kün­ste wiederzuge­ben. Wie einst die Musen um Apollon, als ihren göttlichen Mittelpunkt, so sollen sich die Künste wieder um ihren göttlichenKern – eben das Drama – scharen. Denn nur in der Universalität der Künste, die sich in der Tragödie bzw. dem Drama oder auch der Oper vereinen, kann dieser göttliche Kern  in seiner ganzen Fülle zur Darstellung kommen.

Je weiter wir in der politischen und kulturellen Entwicklung fort­schreiten, umso mehr wird der Verlust dessen deutlich, wie menschliches Sein und auch Theater ei­gentlich begann:

Für das Verständnis der Kulturgeschichte Griechenlands und der Tragödie, aber auch der gesamtmenschlichen Entwicklung ist entscheidend zu sehen, wie mit zunehmendem Fort-Schreiten, dem so genannten Fort-Schritt des Indivi­duums sich der Mensch von den Göttern löst und zwar immer bewusster „Ich“ sagt, aber die Verbindung und das Verständnis des Göttlichen verliert.

Noch die Helden Homers in der Ilias und Odyssee waren ganz abhängig und hörig den göttlichen Eingebungen. Sie verstanden auch die göttlichen Hinweise und folgten ihnen in der Regel. Doch sehen wir gerade am Beispiel des Ödipus, wie sich Missverständnisse einschleichen, der Mensch die Orakel nicht mehr rich­tig deutet bzw. deren Sprache für ihn unklarer wird. Die Götter und das Götterbewusstsein dämmern hinweg, und dieser Prozess beschleu­nigt sich umso mehr, je bewusster der Einzelne sich aus der Masse heraus­löst; die Götter dämmern aus dem Bewusstsein der Men­schen hinweg.

In Richard Wagners Götterdämmerung, dem letzten Teil der Tetralogie Der Ring des Nibelungen, geschieht Vergleichbares:

Mit Siegfried tritt dem Gott Wo­tan ein Mensch gegenüber, an dessen Schwert der Speer des Gottes zerschellt. Walhall, die Burg der Götter, brennt als Zeichen dafür, dass der vorchristliche Mensch in seiner Entwicklung die Götter aus den Augen ver­liert.

Der christliche hat sie, hat Gott noch nicht gefunden. Der moderne Mensch muss in sich noch den Parzival finden.

Er findet ihn in sich und sonst nirgends. Der Weg nach innen ist der Weg der Er-inne-rung.

Auf diesem Weg finden wir unsere Wurzeln und das Bewusstsein, das notwendig ist, um unsere Gegenwart zu meistern und realistische Visionen für unsere Zukunft zu entwickeln.

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