Indianische Weisheit (III): über die Erde, unsere Große Mutter, das Leben und den Überfluss …

Weiblichkeit der Erde

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Es gibt in unserer Zeit ein neues Bedürfnis nach einem Weiblichen, wie es aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden zu sein scheint. Natürlich hängt es mit der medialen Darstellung von Frauen und weiblicher Sexualität, Sexualität überhaupt zusammen.

Demgegenüber stehen Sätze, wie wir sie am Schluss des Faust II, des großen Lebenswerkes von Goethe finden, an dem er fast 60 Jahre geschrieben hat:

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Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan …

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Tatsächlich: Die zitierten Worte sind ein großer, heute aber weitgehend unverstandener Satz, dabei haben schon die Indianer in ihren Schriften und Aufzeichnungen Gleiches zum Ausdruck gebracht. Den Griechen wäre es auch so gegangen, sie hätten Goethes Satz verstanden, verehrten sie doch Gäa, die Göttin Erde; nicht nur den Griechen, wahrscheinlich allen Völkern des Altertums wäre es so ergangen, denn allen war dieser Zugang zum Leben, das Verständnis des Ewig-Weiblichen nicht versperrt.

An anderer Stelle werde ich mich in meiner EthikPost zu Goethes Satz genauer äußern und dann hier verlinken (wenn ich es nicht vergesse :-)).

Dieses Thema ist deshalb so interessant, weil die Große Mutter natürlich auch einen Negativ-Aspekt hat, der ein Negativ-Aspekt unseres gesellschaftlichen Lebens ist, da die Menschen mit dem Phänomen des Überflusses nicht mehr klarkommen. Denn der negative Aspekt des Überflusses, das Prassen, die Völlerei, das große Fressen, dem die Menschen des 21. Jahrhunderts nachhecheln, ist, geistig gesehen, eine Schimäre, eine Fata Morgana. Aus den Fugen geraten ist, dass man, um Ziele zu erreichen, auch verzichten können muss, dass eine zwanghafte Bedürfnisbefriedigung, um ja den großen Augenblick nicht zu verpassen nur eine Ego-Befriedigung beinhaltet, ein Don-Juanismus, der nie wirklich befriedigt, zufrieden und im Frieden ist. Die Große Mutter gibt im Überfluss, gewiss, aber diesem ihrem Reichtum wird nur gerecht, wer sie nicht danklos ausbeutet, sondern möglichst stets einen Erntedank im Herzen trägt, weshalb das Erntedankfest einst so wichtig war.

Damit möchte ich mich nicht gegen Luxus gewandt haben und Bequemlichkeit – warum soll man nicht in Reichtum und Überfluss leben, solange beides das berühmte Kamel in der Bibel durch ein Nadelör gelangen lässt.

Das genau ist der Test!

Das Kamel stellt einen falsch verstandenen und falsch gelebten Reichtum und Überfluss und eine falsch verstandene Bindung an beides!

Nun aber zu den Texten, die ich überwiegend umkommentiert aneinanderreihe, sie sprechen für sich; ich beginne mit Worten von Saupaquant, einem Wampanoak-Indianer:

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Für die Indianer gibt es keine Trennung zwischen Religion und anderen Lebensbereichen. Jede Handlung ist ein spiritueller Akt, jedes Wort ist ein Gebet. Jedes Geschöpf ist unverletzlich und heilig. Die Religion eines natürlichen Volkes ist alles, was es sagt, tut, denkt und fühlt.

Wenn der Indianer sagt: Die Erde ist meine Mutter, dann ist das mehr als eine Metapher. Nach seiner Vorstellung hat die Erde einen heiligen Geist. Sie ist ein Offenbarwerden des Weiblichen, die allen Geschöpfen das Leben gegeben hat. Sie werden von ihr ernährt und erhalten, beschützt und gelehrt. Ihre Lektionen sind manchmal sehr hart, und manchmal müssen die Menschen dann leiden, um stärker werden zu können. Wir wiederum haben die Pflicht, für unsere Mutter zu sorgen, sie zu ehren, zu respektieren, zu lieben und mit ihr für alle ihre Familien, all unsere Verwandten zu sorgen.

Auf dem Pfad des Regenbogens, S. 92

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Wertschätzung und Dankbarkeit: das ist es, was der Indianer seiner Mutter, seiner Großen Mutter entgegenbringt. In einem Gebet der Irokesen wird das besonders deutlich; deutlich wird hier, dass alles, was die Erde ausmacht, diese besondere Wertschätzung erfährt, als ob Flüsse und Bäche, Kürbisse und Bohnen Söhne und Töchter von ihr wären:

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Wir danken unserer Mutter, der Erde, die uns ernährt. Wir danken den Flüssen und Bächen, die uns ihr Wasser geben. Wir danken den Kräutern, die uns ihre heilenden Kräfte schenken. Wir danken dem Mais  und seinen Geschwistern, der Bohne und dem Kürbis, die uns am Leben erhalten. Wir danken den Büschen und Bäumen, die uns ihre Früchte spenden. Wir danken dem Wind, der die Luft bewegt und Krankheiten vertreibt.  Wir danken dem Mond und den Sternen, die uns mit ihrem Licht leuchten, wenn die Sonne untergegangen ist. Wir danken unserem Großvater Hé-no, der uns, seine Enkelkinder schützt und uns seinen Regen schenkt. Wir danken der Sonne, die freundlich auf die Erde herabschaut. Vor allem aber danken wir dem Großen Geist, der alle Güte in sich vereint und alles zum Wohl seiner Kinder lenkt.

Weißt du, dass die Bäume reden, S. 51

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Hé-no ist übrigens ein Schutzgeist, der den lebensspendenden Regen schenkt und mit dem Ehrentitel „Großvater“ angerufen wird.

Für manchen mag nichts klarer werden, wenn er den Großen Geist, Wakan Tanka, Gott oder Allah – wie auch immer er genannt wird – in eine Große Mutter und einen Großen Vater unterteilt. Es ist auch für ein in einem ganz ursprünglichen Sinne religiöses Leben (bitte nicht religiös = kirchlich setzen) nicht notwendig.

Für mich ist diese Differenzierung deshalb wichtig, weil sich unser familiäres Leben auf der Erde, ja unsere innere seelische Struktur in der Heiligen Familie spiegelt. Der Große Vater und die Große Mutter und ihr Kind, Christus, sind die geistigen Hintergrunde auch unserer einzelnen Seele und zugleich unserer Familien. Wie im Himmel, so auf Erden, heißt es nicht von ungefähr im Vater unser, und in der Tabula Samaragdina des Hermes Trismegistos lesen wir gleichermaßen:

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„Was unten, ist gleich dem, was oben“.

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Vater, Sohn und Heiliger Geist. Davon spricht die Kirche im Apostolischen Glaubensbekenntnis:

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Ich glaube an Gott,
den
Vater, den Allmächtigen,
den Schöpfer des Himmels und der Erde.
(…)
Und an Jesus Christus,
seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,
empfangen durch den Heiligen Geist,
geboren von der Jungfrau Maria,
(…)
Ich glaube an den
Heiligen Geist,
die heilige katholische (evangelisch:
christliche) Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen

(…)

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Die Kirche hat die Große Mutter durch den Heiligen Geist ersetzt.

Warum?

Nichts gegen den Heiligen Geist, er ist in allem. Aber warum dem Mütterlich-Weiblichen keinen Stellenwert mehr geben, warum keinen eigenständigen Absatz?

Vater – Sohn – Heiliger Geist …

Es gibt keinen Sohn ohne eine Mutter!

Zurück zur Erde, unserer Mutter. Jimmie C. Begay, ein Navajo, ist Mitarbeiter der indianischen Zeitung Akwesasne Notes, die vom Volk der Mohawk herausgegeben wird und für das neue indianische Selbstverständnis steht. Er schreibt:

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Wenn wir der Erde etwas wegnehmen, müssen wir ihr auch etwas zurückgeben. Wir und die Erde sollten gleichberechtigte Partner sein. Was wir der Erde zurückgeben, kann etwas so Einfaches – und zugleich so Schwieriges – wie Respekt sein.

Die Suche nach Öl, Kohle und Uran hat der Erde bereits großen Schaden zugefügt, aber noch kann dieser Schaden wiedergutgemacht werden – wenn wir es wollen. Beim Abbau von Bodenschätzen werden Pflanzen vernichtet. Es wäre recht und billig, der Erde Samen und Schößlinge anzubieten und dadurch wieder zu ersetzen, was wir zerstört haben. Eines müssen wir lernen: Wir können nicht immer nur nehmen, ohne selber etwas zu geben. Und wir müssen unserer Mutter, der Erde, immer so viel geben, wie wir ihr weggenommen haben.

Weißt du, dass die Bäume reden, S. 9

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Übrigens gab es für die Griechen zweierlei Kosmen, die einander entsprachen: den Mikrokosmos, den Menschen wie Du und ich also, und den Makrokosmos, das Universum. Eben: Wie oben, so unten. Sie nannten auch das Universum den Gott Anthropos.

Und Anthropos bedeutet: Mensch!

Das Universum also gesehen als göttlicher Mensch. Dieses Universum bezeichnen die Indianer als Großer Geist. Für sie lebt er in allem. Auch mit dem, was es im Weltraum gibt, ist der Mensch verbunden. Die Stoffe, aus denen unser Körper besteht, gibt es genauso im Welt all. Gleiches gilt auch für Seelisches. Auch der Mensch hat seine schwarzen Löcher!

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Die Erde sagt: Der Große Geist hat mich geschaffen. Der Große Geist gab mir den Auftrag, mich um die Indianer zu kümmern, für ihre Nahrung zu sorgen. Der Große Geist nannte die Wurzeln, von denen sich die Indianer ernähren. Auch das Wasser weiß zu erzählen: Der Große Geist lenkt mich und gab mir den Auftrag: Sorge für die Indianer! Und zum Gras sagte er dasselbe: Trag Sorge für die Indianer! Die Erde, das Wasser und das Gras sagen: Der Große Geist gab uns unsere Namen. Nun haben wir diese Namen und stehen auch dazu. Die Erde sagt: Der Große Geist gab mir diesen Platz hier, damit alles auf mir wachse – Bäume und Früchte. Und weiter spricht die Erde: : Und der Mensch selbst ist aus mir geformt. Der Große Geist setzte den Menschen auf die Erde und wollte, dass er die Erde bewahre und dass die Menschen einander kein Leid tun.

Young Chief in Der Gesang des Donnervogels, S. 23

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Und Luther Standing Bear weiß:

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Was die Beziehung zur Natur betrifft, so gab es zwischen der Haltung des Indianers und der des Weißen einen großen Unterschied; aus diesem Unterschied heraus wurde der eine zum Schützer und Bewahrer der Natur, der andere zu ihrem Zerstörer. Der Indianer und die anderen Gescöpfe, die hier geboren wurden und lebten, hatten eine gemeinsame Mutter – die Erde. Deshalb war er verwandt mit allem, was lebt, und er gestand allen Geschöpfen die gleichen Rechte zu wie sich selbst. Was mit der Erde verbunden war, liebte und verehrte er.

Weißt du, dass die Bäume reden, S. 83

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Kein Wunder, alle hatten ja die  e i n e  Mutter.

siehe hierzu auch den Homerischen Hymnus  über die Allmutter Erde
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2 Antworten zu Indianische Weisheit (III): über die Erde, unsere Große Mutter, das Leben und den Überfluss …

  1. Anita schreibt:

    Lieber Johannes,
    vielen Dank für diese wunderbare Recherche über Mutter Erde. Ich empfinde wie die Naturvölker, alles lebt und die Erde ist unser aller Mutter. Die Dualität in allem bringt hervor, das auf der einen Seite immer mehr Unechtes entsteht, auf der anderen Seite aber das Echte und Ursprüngliche wieder sehr viel Beachtung und Anerkennung erfährt.

    Liebe Grüsse
    Anita

  2. Little Big Y. schreibt:

    Wer immer auch dieser Johannes ist: endlich teilt jemand auch meine Gedanken. Ich habe sehr lange an dieser Frage geknabbert. Manchmal habe ich gedacht, die Mutter wurde mit dem Sündenfall aus der Geschichte der Christen verbannt und es herrscht daher der Konflikt zwischen den Menschen, ihrem Planeten und Gott. Dann wiederum denke ich an Jesus, dem Sohn, der ohne Mutter nicht denkbar ist – ist das die Antwort auf das Geheimnis? – Oder ist Mutter und Vater ein und das selbe geschlechtslose Prinzip, was die Suche nach der Mutter unnötig erscheinen lässt?
    So unterschiedlich die Vorstellungen auch sein mögen, sie stammen von der gleichen Quelle.
    Nun, die Suche nach dem richtigen Glauben ist eine lange Wanderung durch Licht und Schatten. Vielleicht lüften sich die Vorhänge noch zur meiner Zeit. Doch meine Sorge gilt nicht meinem Zerfall in Bruchstücke, sondern der Menschheit.Und weniger der notwendige Zerfall bereitet mir Kopfzerbrechen, als die immer wiederkehrenden, unbarmherzigen Überlebensstrategien meiner Mitmenschen – derzeit insbesondere in Syrien…

    Best

    y.

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