„Sie war Mitte Fünfzig“ – Mythische Zeiten: Karfreitag und Ostern. aus Ronald Laings „Die Stimme der Erfahrung“.

Am 25. August 1989 gab die Deutsche Presseagentur folgende Meldung heraus:

Der britische Psychiater Ronald D. Laing ist im Alter von einundsechzig Jahren in St. Tropez an der Cote d’Azur gestorben. Student an der Universität Glasgow, hatte er sich schon früh mit der Psychiatrie be­faßt und unter anderem an der Langham Klinik in London gearbeitet, die er nach Meinungsverschiedenheiten  mit dem  Direktor über die Anwendung von Drogen bei Patienten verließ. Laing gründete mit Kol­legen in London eine therapeutische Gemeinschaft,  in der Patienten und Ärzte ohne  hierarchische  Unterschiede  zusammenleben sollten. Laing war der Ansicht, daß die herkömmliche Psychiatrie den Menschen unterdrücke und entwürdige, lehnte aber die Bezeichnung „Anti-Psych­iatrie“ für die von ihm geübte Therapie ab. Er vertrat die These, daß Wahnsinn eine gesunde Antwort auf eine kranke Welt sei. Sein erstes Buch, „Das geteilte Selbst“, eine existenzielle Studie in Gesundheit und Wahnsinn“, erschien 1960. Es machte Laing zu einer Leitfigur der Neuen Linken und der anti-autoritären Bewegung der sechzi­ger Jahre. In dem Buch vertrat Laing die Auffassung, daß das kranke Ich als Ab­wehrreaktion gegen die heutige Gesell­schaft ein „gefälschtes Selbst“ aufbaut, während der Kern unverletzt bleibt. Das Buch war bei Fachleuten umstritten.

aus Ronald D. Laing, Die Stimme der Erfahrung, Köln 1983

Sie war Mitte Fünfzig.

Früher war sie eine schöne Frau gewesen. Ihr Mann war von ihrer Schönheit ganz hingerissen, doch das war auch schon alles, wie sie zu ihrem Leidwesen entdeckte. Er schlief zwar mit ihr, aber nur selten. Er wurde kühler, mürrischer und schweigsamer und entdeckte, dass er in Wahrheit homosexuell war. Sie einigten sich, in sexuellen Dingen getrennte Wege zu gehen, aber weiterhin zusam­menzuleben und ein Kind miteinander zu haben. Doch Jahre verstrichen, ohne dass sie schwanger wurde. Er war wie besessen von dem Wunsch, Vater zu werden. Schließlich wurde sie von einem anderen Mann schwan­ger und gab ihm gegenüber vor, das Kind sei von ihm. Er schöpfte keinen Verdacht. Als das Kind kam, war es schwachsinnig. Er war am Boden zerstört. Es war zu spät, ihm die Wahrheit zu sagen.

Sie flüchtete sich in mehrere und stark romantische Liebesaffären, und dann, mit Anfang Vierzig, geriet sie ur­plötzlich in die Wechseljahre. Innerhalb von Monaten war ihre Schönheit verflogen, und sie wurde zu einer un­auffälligen älteren Frau. Mit den romantischen Erlebnis­sen war es vorbei. Sie fühlte sich gestrandet, hatte nichts mehr, wofür sie lebte. Ihr Leben schien bedeutungslos und leer, es gab nur noch Bedauern und Reue. Sie fühlte sich verbittert.

Doch dann war sie plötzlich von Gefühlen der Liebe er­füllt. Durch einen ganz bestimmten Punkt in der Mitte ihres Rückens strömten sie in ihren Körper. Sie war er­leuchtet, begeistert. Sie strahlte. Sie konnte von nichts anderem mehr reden, und so redete sie denn auch stän­dig davon, sobald jemand in Hörweite war, laut, leiden­schaftlich, ausdauernd, unablässig. Ihre Mission war es, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass die einzige und ausschließliche und vollständige Antwort auf das ganze Elend die LIEBE war. Nach ein paar Tagen wurde sie in die Klinik eingeliefert, wo sie für diese manische Episode Sedativa und Elektroschocks bekam. Ihre Lie­besgefühle verschwanden. Die Behandlung nahm ihr alle Energie, verdüsterte ihre Erleuchtung, dämpfte ihre Be­geisterung.

Sie verlor ihre Leidenschaft und ihre Mis­sion.

Sie war geheilt. Sie war verzweifelt.

Sie fühlte sich tot. Aber sie machte ganz normal weiter wie ein perfek­ter Zombie. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte, au­ßer vielleicht, sich umzubringen, aber wo wäre da der Unterschied? Sie war bereits tot.

Ihr war klar, dass sie eine Grenze überschritten hatte, dass sie das gewesen war, was man manisch nennt. Und doch hatte sie sich noch nie so lebendig gefühlt. Nun fühlte sie nichts mehr, aber sie nahm nichts zurück. Die LIEBE war die HÖCHSTE KRAFT und der einzige WEG. Doch Leben, Liebe und Kraft hatten sie verlassen.

Sie hoffte, sie würden zurückkommen, selbst wenn das hieß, dass sie psychotisch war. Wenn sie aber eingesperrt und wieder mit Elektroschocks traktiert werden würde, dann konnte sie das nicht noch einmal ertragen.

Ob es da einen Ausweg gab?

Sie kam alle vierzehn Tage für eine Stunde zu mir und redete über ihr Leben, während ich zuhörte und kaum etwas sagte. In ihren Träumen erwachte sie zum Leben, hatte sogar Orgasmen, die ersten seit den Elektro­schocks. Doch solange sie wach war, blieb sie tot.  

Es war Karfreitag. Sie wohnte in einem großen abgelege­nen Landhaus. Es war bis Montag leer. Sie erwartete nie­manden.

Nachmittags um drei Uhr, als sie gerade ziellos durch das Haus streifte, begann eine grimmige weiße Hitze mitten in ihrem Rücken hinter dem Solarplexus in sie einzudringen, sich in sie zu brennen und zu bohren, sich in ihrem Körper auszubreiten und sie immer mehr in Besitz zu nehmen. Es war der GEIST des LEBENS und der LIEBE. Es war CHRISTUS. Es war so wie vor zehn Jahren. Ihr blieben ein paar Sekunden für die Entscheidung, ob sie sich widersetzen sollte (sie hatte das Gefühl, daran würde sie zugrundegehen), oder ob sie sich fügen sollte (dann würde sie möglicherweise verrückt).

Sie beschloss, sich zu fügen. Sobald sie die Entscheidung getroffen hatte, wurde sie ruhig und sah ganz klar. Sie beobachtete, dass sie sich nicht selbst bewegte, sondern von ihrem Solarplexus aus bewegt wurde. Sie sah ruhig zu, wie sie dazu veranlasst wurde, ins Schlafzimmer zu gehen und eine Decke herunterzubringen, um unter dem Küchentisch eine Lagerstätte wie für einen Hund zu schaffen. Sie hatte zu dem Zeitpunkt keine Ahnung, wes­halb sie dazu veranlasst wurde.

Als sie die Lagerstätte hergerichtet hatte, stellte sie fest, dass sie sich auszog. Sie beobachtete, wie sie sich in einen Jagdhund verwandelte und sich auf Händen und Knien – oder vielmehr Pfoten – fortbewegte. Sie konnte weder re­den noch aufrecht gehen. Sie knurrte und pirschte durch das Haus, bis es dunkel wurde, und schlich sich dann hinunter in einen Kellerraum, den sie seit Jahren nicht betreten hatte. Mühsam öffnete sie die Tür mit ihrer Schnauze und kauerte sich in die entlegene dunkle Ecke, nackt, frierend, in stockdunkler Nacht, bis sie schließlich das Gefühl hatte, dass Ratten auf ihr herumliefen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Später – sie wusste nicht, wieviel Zeit verstrichen war, aber hinterher meinte sie, es müsse noch in derselben Nacht gewesen sein – sah sie sich aus der entlegenen Kel­lerecke auf einen Dachboden pirschen. Durchs offene Fenster schien der Vollmond herein. Im Mondschein leg­te sie ihre Vorderpfoten auf den Fenstersims und jaulte den Mond an. Dann musste sie wieder zurück zu ihrem Platz im Keller, um sich wie vorher in der rattenver­seuchten Finsternis in die Ecke zu kauern.

Sie musste diese ganze Prozedur noch zweimal wiederho­len, sie insgesamt also dreimal durchmachen. Nach dem dritten Mal überkam sie in ihrer Kellerecke eine wärmen­de Trägheit, und sie schlief ein. Als sie aufwachte, war sie immer noch ein Jagdhund. Sie pirschte aus dem Kel­ler. Es war immer noch dunkel, aber sie hatte keine Ah­nung, ob es noch dieselbe Nacht war. Sie schlich zu der Lagerstätte unter dem Küchentisch, machte es sich be­quem, spürte gleich wieder diese angenehme warme Trägheit und schlief erneut ein.

Als sie aufwachte, war sie eine nackte Dame, die im Morgengrauen in eine Decke gekuschelt unter ihrem Kü­chentisch lag.

Sie stand auf. Sie badete. Zog sich an.

Es war Ostermontag.

Sie fühlte sich – ganz in Ordnung.

Seither hat sie sich nie wieder tot gefühlt. Sie hat nie wie­der die Grenze überschritten.

Sie glaubt an die Auferstehung.

Sie führt ein aktives zweckerfülltes Leben.

In diesem Wahnsinn steckt Methode. Die ganze Episode steht in perfektem Einklang mit der mythischen Zeit (Ostern, Karfreitag bis Ostermontag, Tod und Auferste­hung) und den Anforderungen ihres Alltags. Während der Verwandlungen und Modulationen dieses dreitägi­gen metanoiden Dramas hatte sie keine Ahnung, was auf sie wartete. Dabei war alles im Voraus geplant, bis ins kleinste Detail.

Dass sie – ohne zu wissen, warum – all diese Dinge tat (sich auszog, eine Decke unter den Küchentisch legte), dass die Kellertür nicht abgeschlossen war, dass das Fen­ster auf dem Dachboden offenstand – das alles entsprach einem genauen Drehbuch […].

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