Zwölf Verse Rilkes über den ungeschaffnen Gang des Schwanes: Mühsal, die sich lohnt!

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Der Schwan

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen – :

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehen, Flut um Flut;

während er unendlich still und sicher
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.

Rainer Maria Rilke, 1905/06, Meudon

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Rilke schrieb dieses Gedicht unter dem Einfluss des großen Bildhauers Rhodin just in jener Zeit, als er bei diesem angestellt war, um dessen Buchhaltung zu führen, was allerdings nicht gutgehen sollte; die beiden Männer entzweiten sich. Rilke entwickelte aber durch diesen großen Künstler einen neuen Blick auf Dinge, einen Blick, der ihm erlauben sollte, tief in ihr Wesen zu sehen und zu erkennen, welche Bedeutung sie im Hinblick auf den Menschen haben.

Tiere haben sich ja, wie ich an anderer Stelle noch ausführen werde, über Millionen von Jahren gemeinsam mit dem Menschen entwickelt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt aber sind sie noch vor dem Menschen in Erscheinung getreten – es ist der 5. Tag der Schöpfungsgeschichte – und haben sich damit von der menschlichen Entwicklung abgekoppelt. Im Grunde aber ist dieses Geschehen Voraussetzung für die menschliche Existenz. In den Tieren nämlich spiegeln sich menschliche Eigenschaften, Gefühle, Wesensmerkmale. Wie ein Kaleidoskop setzen sich menschliche Ebenen zusammen aus den vielen Facetten von Tieren, auch wenn das menschliche Wesen als Ganzes dadurch bei weitem nicht erfasst ist.

Dies so sehen zu können, ist auch ein Verdienst Rilkes und in gewisser Weise ist er poetischer Wegbereiter für aktuelle Bücher wie Das Tier als Spiegel der menschlichen Seele, auf das ich an anderer Stelle noch eingehen werde (und hier dann verlinke).

Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage, was Rilkes  Gedicht über den Schwan – auch Gedichte über Tiere zählen zu den sogenannten Ding-Gedichten – vermitteln möchte.

Vierstrophig zu jeweils drei Zeilen ist es im Trochäus geschrieben, was so häufig nicht vorkommt, hier aber kein Zufall ist, wird doch dadurch in der ersten Strophe gleich das erste Wort betont, eigentlich kein lexikalisch aufregendes, ist Diese doch ein schlichtes Demonstrativpronomen, doch bekommt sein ohnehin vorhandener Verweisungscharakter an dieser Stelle gleich zu Beginn noch mehr Nachdruck – in ganz besonderem Fokus dadurch: die Mühsal.

Die menschliche Mühsal. Um sie geht es. Mit ihr beginnt dieses Gedicht über den Schwan. Man rechnet aufgrund der Überschrift mit vielem – damit nicht.

Und es ist nicht die Rede von irgendeiner Mühsal, sondern von jener, die vorliegt, wenn man durch noch nie Getanes hindurchgehen muss. Das ist oft mühselig und unserem Tun fehlt dann Leichtigkeit und es wirkt wie der Gang des Schwans, schwerfällig, als ob man gefesselt sei. Keine Spur von Selbstverständlichkeit, von Zielsicherheit. Wie schwankt der Schwan, wie schwer fällt ihm das Gehen. Dafür ist er nicht geschaffen.

Immer, wenn wir einen Weg gehen, der noch nicht geschaffen ist, erleben wir möglicherweise Ähnliches. Doch im Grunde wissen wir: Je ähnlicher unser Erleben diesem Schwanengang ist, je schwerer uns das Gehen fällt, desto wertvoller wird es für unser Inneres. Das ist uns bewusst.

Verständlich wird auf einmal, warum der Kreuzweg Jesu, als er tat, was noch nie einer tat, was bis dahin also ungeschaffen war, solch eine Leistung war, solch eine Mühsal, eine Qual. Auch, weil sie keine nur individuelle, sondern eine übermenschliche war.

Auf dem Hintergrund dieser ersten Strophe wird deutlich, worin die Leistung eines jeden beruht, der einen ungeschaffenen Weg geht.

Der Schwanengang lässt uns das verstehen.

Ging es in der ersten Strophe um die Mühsal ungeschaffenen Gehens, so geht es in der zweiten um das Sterben.

Und wieder vermag Rilke mittels des Schwanes zu verdeutlichen, wie und warum Sterben so angstvoll sein kann, ja ist.

Wir haben vielleicht schon gesehen, wenn ein Schwan nach dem schwerfälligen Gehen über die Erde auf ihr sich niederlässt. Das ist hier nicht angesprochen. Es geschieht auch aus geringer Höhe und gleichsam aus dem Stand. Anders sieht es aus, wenn ein Schwan zur Landung auf dem Wasser ansetzt.

Ich bleibe jedesmal stehen, wenn ein Schwan das tut. Das Bild erinnert mich an die Concorde, die leider nicht mehr fliegt: der Hals des Schwanes ist nach vorne gestreckt und im letzten Moment, kurz vor der Landung schlägt das Körperende samt Federkleid auf das Wasser, jenes laute Klatschen verursachend, das jedem Wasserfassen vorausgeht. Ist er im Wasser, mag man kaum verstehen, warum einem beim Anblick eines niedergehenden Schwanes jede Landung ein hohes Risiko dünkt. In der Tat scheint ein Hauch von Angst dabeizusein; nie wirkt der Schwan verletzlicher, dem Sein ausgeliefert wie unmittelbar vor der Landung.

Und doch wird er so sanft empfangen.

Das ist Rilkesche Meisterschaft: davon zu sprechen, dass Wasser einen sanft empfangen und sich – wie vergangen – unter einem zurückziehen kann. Indem das im Augenblick geschieht und schon vergangen ist, ist diese Sanftheit möglich. Unnachahmlich dieser Vergleich: „wie vergangen“, unnachahmlich, dieses Polyptoton „Flut um Flut“; selbst die u-Laute scheinen von Rilkes Muse herbeigezaubert. Da ist kein Widerstand.

Wir sind gewohnt, Grund unter den Füßen zu haben. Sterben aber ist anders, ein Nichtmehrfassen. Und doch versinken wir nicht. Im Gegenteil.

Die letzte Strophe erinnert mich an Lohengrin, wie er in der Oper Richard Wagners, aufrecht in seinem Nachen stehend, den Fluss herauffährt, gezogen von einem Schwan. Wahrhaft königlich, der Gralssohn, wie er Elsa von Brabant zu Hilfe kommt.

So kann es auch nach dem Sterben sein.

Ich erinnere mich, dass ich vor vielen Jahren im Fernsehen Stefan von Jankovich über sein Sterben reden hörte. Er saß als Beifahrer neben seinem Geschäftspartner auf einer Fahrt nach Lugano, als ihnen auf ihrer Spur ein Lastwagen entgegenkam. Der Aufprall war furchtbar. Jankovich flog durch die Windschutzscheibe, prallte auf, 18 Brüche, der Schädelknochen lag bloß, und ihn rettete die Tatsache, dass zufällig ein deutscher Zahnarzt zur Unfallstelle kam, der ihm sechs Minuten nach dem Unfall eine Adrenalinspritze direkt in den Herzmuskel injizierte. Jankovich aber hatte keine Schmerzen. Er schilderte, wie er über seinem Körper schwebte, die Gespräche der Umstehenden hörte und z.B. mitbekam, wie ein Mann versuchte, ihn wiederzubeleben. Das war Anlass für mich, am nächsten Tag gleich sein Buch zu kaufen und in der Folge dann Raymond A. Moodys Leben nach dem Tod. Was ich dort über Nahtoderlebnisse las, vergesse ich deshalb nicht, weil auch von einem amerikanischen Soldaten berichtet wurde, der in Vietnam, von Kugeln durchsiebt, „starb“, sich bereits von oben sah und keine Schmerzen hatte. Ich erinnere mich, dass mich das in Bezug auf das schreckliche Sterben vieler Soldaten in den Stellungskriegen des Ersten und Zweiten Weltkriegs tröstete. Vielleicht hatten manche, die stundenlang starben, weil sie zwischen den Drahtverhauen lagen und nicht geborgen werden konnten, keine Schmerzen. Vielleicht haben es auch Tiere nicht, wenn sie von einem Raubtier gerissen werden.

Nicht wenige unter denen, die ihr Nahtoderlebnis wiedergaben, berichteten, dass sie gar nicht zurückkommen, sondern lieber sterben wollten aufgrund dessen, was und wer ihnen begegnete, aufgrund der gesamten Atmosphäre des Sterbens. Wie ein sanfter Empfang.

Nur gibt es auch andere Zeugnisse über Sterben und Tod. Ich denke an des Odysseus kurzen Aufenthalt in der Unterwelt, die er aufsuchte, um von Teiresias Weiteres über den Weg nach Hause zu erfahren, und wie schaurig auf ihn die Szenerie im Hades wirkte, in der seine Mutter, vor Troja gefallene große Helden und ihm bekannte Griechen auftauchten. Nichts war da immer mündiger und königlicher  und gelassener. In meinem nächsten Post werde ich ein wenig ausführlicher auf diese wichtige Stelle der Odyssee eingehen,

Woher nimmt Rilke jene Sicherheit, die in diesen drei Komperativen so nachdrücklich zum Ausdruck kommt?

Für die vorchristliche Zeit sieht es in der Tat so aus, wie es Homer uns wissen lässt. Selbst die großen Helden – und es sind ja in den Mythen auch immer Helden des Bewusstseins – darben und wirken gequält.

Wie nun wird es uns gehen?

Ist die Bereitschaft zu mühseligem Gehen Voraussetzung für ein Sterben und eine Folgezeit, wie sie Rilke vermittelt? Eine Bereitschaft, die ein Offensein für geistige Entwicklungen einschließt?

Wenn es so ist, schwant mir, könnte jene Zeit, die Rilke im letzten Terzett anspricht, für nicht wenige Erdenbürger wenig königlich sein.

Was Rilke schreibt, bleibt haften; dazu tragen die zwei Alliterationen bei, die sich allein in der letzten Zeile finden (zu ziehn / gelassener … geruht). Und ist es auch ein konsonantisch unreiner Reim, der Strophe 3 und 4 verbindet (Flut – geruht), so hat doch das letzte Wort, der letzte Reim eine unglaubliche Ausstrahlung. Zu ziehen geruhen – solch eine Wendung schreiben zu können, ist nur wenigen Dichtern vorbehalten.

Rilkes obiges Gedicht gehört zu meinen Rilke-Favoriten und ich bedaure ein wenig, dass, wenn ein Ding-Gedicht abgedruckt wird und es um Tiere geht, meist Der Panther ausgewählt wird. Letzteres ist ganz und gar bemerkenswert, klar. Mir persönlich aber hat es Der Schwan noch mehr angetan und ich wünschte mir, es würden mehr Menschen seine Zeilen lesen und verstehen.

Sie enthalten so viel Hoffnung, wie ich finde. Hoffnung, die auf Mühsal basiert. Wie wichtig in einer Gesellschaft, in der so viele weiß und königlich wie ein Schwan sein möchten und vergessen, dass uns schon die Märchen erzählt haben, wie es um Königstöchter bestellt ist, die nur schön sein wollen.

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