„Eine wunderbare Heiterkeit hat meine Seele eingenommen …“ – aus ´Die Leiden des jungen Werthers´. So weiblich kann nur ein Mann schreiben …

Wie der junge Goethe hier in Die Leiden des jungen Werthers (erschienen 1774) seinem Freund Wilhelm sein Befinden in der Natur beschreibt, das finde ich in der Literatur, soweit ich Einblick habe, nahezu einmalig. Die Natur ein Heiligtum, selbst die Gräser, Würmer und Mücken werden mit der Koseform bedacht, alles wird zu einem Seelentempel, in dem Gott gegenwärtig ist, der Himmel auf Erden:

Am 10. Mai

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des All-Liebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn´s dann um meine Augen dämmert und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten – dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt; dass es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darüber zugrunde,  ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.

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Man hat dies die Sprache der Empfindsamkeit genannt – das ist aber lediglich ein Begriff; Tatsache ist, dass nur wenige Dichter es vermochten, die Natur als so lebens- und seelenvoll, als so sinnlich, so gottvoll zu beschreiben, so viel Gefühl in Worte zu gießen …

Für Goethe gehen Gefühl und Herz über jeglichen Verstand; ´Gefühl ist alles´, lässt er Gretchen im Faust sagen. Man zähle einmal in Die Leiden des jungen Werthers und in seinem Faust, vor allem in Faust I, wie oft das Wort Herz vorkommt. Es fällt gar nicht besonders auf, weil Goethes Dichtung aus seiner Intuition, aus dem Herzen kommt; er ist für mich der Dichter der Herzen. Einer seiner wegweisenden Aussagen finden wir im Vorspiel auf dem Theater (Faust I), als die Lustige Person sagt: Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.

Ein Satz, um den man wissen muss, wenn man Saint-Exupérys berühmte Aussage wirklich richtig verstehen und zur Anwendung bringen will, dass man nämlich nur mit dem Herzen gut sehe, denn: Man kann nur sehen, was man im Herzen trägt! – Vergessen wir nicht die biblische Aussage: In eurem Herzen wohnen arge Gedanken. – Sie ist nur allzu wahr; jeder Mensch, der auf dem Weg zu sich ist, weiß das. So muss man das Herz wie einen Tempel reinigen, damit man im Sinne Saint-Exupérys wirklich gut sehen kann.

Mit den Leiden des jungen Werthers schrieb Goethe, wie wir wissen, in dieser Phase seines Lebens sich den eigenen Selbstmord von der Seele, verarbeitete die lebensbedrohliche Krankheit in Leipzig, die unerfüllbare Liebe zu Charlotte Buff – sie war verlobt – und zu Maximiliane von La Roche sowie den Selbstmord des Legationsrates Carl Wilhelm Jerusalem, der sich auf Grund einer nicht erfüllbaren Liebe umbrachte und mit dem Goethe befreundet war.

Einen vergleichbaren Inhalt finden wir ja auch in jenem Briefroman. Zu dem Zeitpunkt, dem wir die Stelle entnehmen, schwelgt der junge Werther in seiner Liebe zu Lotte, die sich ihm in der Natur spiegelt:

Werther wird im Roman Selbstmord begehen, weil ihm die Kraft zur Entscheidung fehlt, Charlotte, die mit Albert verlobt ist, ade zu sagen. Ihm fehlt die Kraft zu einer männlichen Entscheidung, die er dann auch einhält. Werther zerfließt in seinen Gefühlen. Diese Tatsache, verbunden mit Selbstmitleid, bringt ihm den Tod.– Gefühle brauchen eine Fassung; diese Fassung muss der Fühlende ihnen geben.

Dass jedoch überhaupt ein Mann so fühlen kann, dass ein junger Dichter seine Gefühle so zum Ausdruck bringt, das ist einmalig in der damaligen Zeit, zumal es nicht kitschig wirkt; doch sein Werk kam an; kein weiteres Buch von ihm  wurde von seinen Zeitgenossen so häufig gelesen wie der ´Werther´.

Auffallend ist für mich, dass vor allem Dichter so weiblich schreiben können, so voller Gefühl, so empfindsam, man findet es bei Brentano, Novalis, bei Rilke, bei Goethe …

Dies soll keine Abwertung gegenüber Autorinnen sein … es fällt mir einfach auf … Vielleicht haben Männer, wenn sie Gefühlen, vor allem auch ihren eigenen, sich zuwenden können, einen höheren Grad von Bewusstsein für sie, was in ihrer Sprache zum Ausdruck kommen könnte. Umgekehrt könnte es bei weiblichen Künstlern in Bezug auf das, was man als männliche Seite in der Kunst, nämlich das präzise Erfassen des Inhalts, die klare Bildersprache, bezeichnet, sein; man denke nur an die Gedichte der Ingeborg Bachmann und der Marie Luise Kaschnitz.

Gewagt, ich weiß, aber ich äußere das einmal hier so …

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