Über das Verhältnis von Gott und Mensch, Idee und Erscheinung. – Hermann Hesses Radio-Gleichnis in seinem „Steppenwolf“.

Jammerschade, dass unser Nobelpreisträger der Literatur, Hermann Hesse, seinen Harry Haller, bevor jener ins Magische Theater eintritt, Kokain schnupfen lässt. Denn alles, was ihm dort begegnet, hätte er auch erlebt, hätte ihm auch bewusst werden können, wenn er keine Drogen genommen hätte. Er trifft auf diverse Schattengestalten seines Inneren, auf Facetten seiner weiblichen Seite und manches mehr. Hochinteressant, was Hesse hier gestaltet. Leider hat die Tatsache, dass hier ein weißes Pülverchen im Spiel ist, dazu geführt, dass Der Steppenwolf es wohl nie in Lehrpläne und Lektürelisten unserer Republik geschafft hat (Nachtrag 2017: Tatsächlich ist er zur Zeit in Baden-Württemberg Sternchenthema im schriftlichen Abitur).

Seltsam, dass Hesse zu diesem fatalen Kunstgriff greifen musste.

Der vorliegende Textauszug macht anhand der Radiosymbolik das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem auf geniale Weise transparent.

Harry Haller, der in Verbindung zu den Unsterblichen treten konnte, zu Goethe und Mozart, muss auf dieser Stufe seiner Entwicklung Humor lernen. Goethe und Mozart brechen immer wieder in schallendes Gelächter aus,  und Haller soll hier lernen, die letzten Reste des verbissenen Wolfes in sich zu überwinden.

Dass er, dass wir die Stimmen der Unsterblichen, die Hilfen aus dem Jenseits also, so schlecht verstehen, macht Hesse – wie im Folgenden zu lesen – an dem Beispiel des Radioempfängers deutlich. Klar ist das Concerto grosso ein wunderbares Werk, aber es ist eben nur so gut,  wir hören es nur so gut, wie es der Übertragungskanal zulässt.

Und genau das Gleiche gilt in Bezug auf das In-Beziehung-Treten von Idee und Erscheinung,  von göttlichem Bereich und dem menschlichen, auch in Bezug auf das Verhältnis von Himmel und Erde.

Göttlich Kreiertes bezeichnet Hesse hier als Idee, was daraus wird, als Erscheinung.

Wie Händel das Concerto in seinem Inneren hörte, als er es komponierte – die Idee also -, mag ganz anders gewesen sein, als wir es nun hören – als akustische Erscheinung sozusagen.

Ob auch wir unser Hören Richtung Jenseits verbessern konnten, so wie sich die Radioempfänger mittlerweile unglaublich verbessert haben?

Wer weiß.

[…] Da ging die Logentür auf, und herein kam, erst beim zweiten Blick von mir erkannt, Mozart, ohne Zopf, ohne Kniehosen und Schnallenschuhe, modern gekleidet. Dicht neben mir setzte er sich hin, beinah hätte ich ihn berührt und zurückgehalten, dass er sich nicht an dem Blut beschmutze, das aus Herminens Brust an den Boden geronnen war. Er setzte sich und beschäftigte sich eingehend mit einigen kleinen Apparaten und Instrumenten, welche da herumstanden, er hatte es damit sehr wichtig, rückte und schraubte an dem Zeug herum, und ich blickte mit Bewunderung auf seine geschickten, flinken Finger, die ich so gern einmal hätte Klavier spielen sehen. Gedankenvoll sah ich ihm zu, oder eigentlich nicht gedankenvoll, sondern träumerisch und in den Anblick seiner schönen, klugen Hände verloren, vom Gefühl seiner Nähe erwärmt und auch etwas beängstigt. Was er da eigentlich treibe, was er da zu schrauben und zu hantieren habe, darauf achtete ich gar nicht.

Es war aber ein Radioapparat, den er da aufgestellt hatte und in Gang brachte, und jetzt schaltete er den Lautsprecher ein und sagte: »Man hört München, das Concerto grosso in E-Dur von Händel.«

In der Tat spuckte, zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen und Entsetzen, der teuflische Blechtrichter nun alsbald jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten des Radios übereingekommen sind, Musik zu nennen, – und hinter dem trüben Geschleime und Gekrächze war wahrhaftig, wie hinter dicker Schmutzkruste ein altes köstliches Bild, die edle Struktur dieser göttlichen Musik zu erkennen, der königliche Aufbau, der kühle weite Atem, der satte breite Streicherklang.

»Mein Gott«, rief ich entsetzt, »was tun Sie, Mozart? Ist es Ihr Ernst, dass Sie sich und mir diese Schweinerei antun? Dass Sie diesen scheußlichen Apparat auf uns loslassen, den Triumph unsrer Zeit, ihre letzte siegreiche Waffe im Vernichtungskampf gegen die Kunst? Muss das sein, Mozart?«

O wie lachte da der unheimliche Mann, wie lachte er kalt und geisterhaft, lautlos und doch alles durch sein Lachen zertrümmernd! Mit innigem Vergnügen sah er meinen Qualen zu, drehte an den verfluchten Schrauben, rückte am Blechtrichter. Lachend ließ er die entstellte, entseelte und vergiftete Musik weiter in den Raum sickern, lachend gab er mir Antwort.

»Bitte kein Pathos, Herr Nachbar! Haben Sie übrigens das Ritardando da beachtet? Ein Einfall, hm? Ja, und nun lassen Sie einmal, Sie ungeduldiger Mensch, den Gedanken dieses Ritardando in sich hinein – hören Sie die Bässe? Sie schreiten wie Götter – und lassen Sie diesen Einfall des alten Händel Ihr unruhiges Herz durchdringen und beruhigen! Hören Sie einmal. Sie Männlein, ohne Pathos und ohne Spott, hinter dem in der Tat hoffnungslos idiotischen Schleier dieses lächerlichen Apparates die ferne Gestalt dieser Göttermusik vorüberwandeln! Merken Sie auf, es lässt sich etwas dabei lernen. Achten Sie darauf, wie diese irrsinnige Schallröhre scheinbar das Dümmste, Unnützeste und Verbotenste von der Welt tut und eine irgendwo gespielte Musik wahllos, dumm und roh, dazu jämmerlich entstellt, in einen fremden, nicht zu ihr gehörigen Raum hinein schmeißt – und wie sie dennoch den Urgeist dieser Musik nicht zerstören kann, sondern an ihr nur ihre eigene ratlose Technik und geistlose Betriebmacherei erweisen muss! Hören Sie gut zu, Männlein, es tut Ihnen Not! Also, Ohren auf! So. Und nun hören Sie ja nicht bloß einen durch das Radio vergewaltigten Händel, der dennoch auch in dieser scheußlichsten Erscheinungsform noch göttlich ist, – Sie hören und sehen, Wertester, zugleich ein vortreffliches Gleichnis alles Lebens. Wenn Sie dem Radio zuhören, so hören und sehen Sie den Urkampf zwischen Idee und Erscheinung, zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Göttlichem und Menschlichem. Gerade so, mein Lieber, wie das Radio die herrlichste Musik der Welt zehn Minuten lang wahllos in die unmöglichsten Räume wirft, in bürgerliche Salons und in Dachkammern, zwischen schwatzende, fressende, gähnende, schlafende Abonnenten hinein, so, wie er diese Musik ihrer sinnlichen Schönheit beraubt, sie verdirbt, verkratzt und verschleimt und dennoch ihren Geist nicht ganz umbringen kann – gerade so schmeißt das Leben, die sogenannte Wirklichkeit, mit dem herrlichen Bilderspiel der Welt um sich, lässt auf Händel einen Vortrag über die Technik der Bilanzverschleierung in mittleren industriellen Betrieben folgen, macht aus zauberhaften Orchesterklängen einen unappetitlichen Töneschleim, schiebt seine Technik, seine Betriebsamkeit, seine wüste Notdurft und Eitelkeit überall zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Orchester und Ohr. Das ganze Leben ist so, mein Kleiner, und wir müssen es so sein lassen, und wenn wir keine Esel sind, lachen wir dazu. Leuten von Ihrer Art steht es durchaus nicht zu, am Radio oder am Leben Kritik zu üben. Lernen Sie lieber erst zuhören! Lernen Sie ernst nehmen, was des Ernstes nehmenswert ist, und lachen über das andre! Oder haben Sie selber es denn etwa besser gemacht, edler, klüger, geschmackvoller? O nein, Monsieur Harry, das haben Sie nicht. Sie haben aus Ihrem Leben eine scheußliche Krankengeschichte gemacht, aus Ihrer Begabung ein Unglück. Und Sie haben, wie ich sehe, da ein so hübsches, ein so entzückendes junges Mädchen zu nichts andrem zu brauchen gewusst, als dass Sie ihm ein Messer in den Leib gestochen und es kaputt gemacht haben! Halten Sie denn das für richtig?«

»Richtig? O nein!«, rief ich verzweifelt. »Mein Gott, alles ist ja so falsch, so höllisch dumm und schlecht! Ich bin ein Vieh, Mozart, ein dummes böses Vieh, krank und verdorben, da haben Sie tausendmal recht. – Aber, was dieses Mädchen betrifft: Sie hat es selbst so gewollt, ich habe nur ihren eigenen Wunsch erfüllt.«

Mozart lachte lautlos, hatte nun aber doch die große Güte, das Radio abzustellen […]

aus Hermann Hesse, Der Steppenwolf, suhrkamp tb 1974

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