„wir schaufeln ein Grab / in den Lüften / da liegt man nicht eng“ – Wenn Unsägliches Worte findet: Paul Celans „Todesfuge“

Wenn ich im Unterricht Paul Celans Todesfuge bespreche, ist wie selten spürbar, dass sich kaum einer der Anwesenden der Wirkung ihrer Worte entziehen will und kann. Gibt es in der deutschen Sprache innerhalb eines Gedichtes eine vergleichbare Metapher, die, weil sie nicht ohne Hilfe decouvriert werden kann, eigentlich eine Chiffre ist – gibt es also eine vergleichbare Metapher für ein namenloses Elend wie die der schwarzen Milch, die zu jeder Tageszeit getrunken werden muss, wobei im ständigen Vertauschen der Abfolge der Tageszeiten zum Ausdruck kommt, wie sehr jegliche Ordnung gestört ist, eine Ordnung, die doch eigentlich, wie sonst nicht mehr in der Kunst, durch die Kunst der Fuge repräsentiert wird!

TodesFuge – Ausdruck einer tödlich entmenschlichten Ordnung.

Oder gibt es eine Chiffre wie die von dem Bett in den Lüften, da man nicht eng liegt?

Ein tödlicher Sarkasmus liegt in diesen Worten und man glaubt den Hohn der Nazischergen zu spüren, denen man zutraut, dass sie sich über solch ein bequemes Bett mokierten …

Wie viele Meister aus Deutschland saßen abends im Wohnzimmer mit Frau und Kindern zusammen, hörten vielleicht ein bisschen deutsche Musik à la Bach („Wohltemperiertes Klavier“) oder Beethoven („Freude schöner Götterfunken“), um am nächsten Morgen im Konzentrationslager den Gashahn aufzudrehen?

Wie viele haben in Gedanken Gashähne aufgedreht, damals in Deutschland – dem Land tödlicher Meister?

Ist nicht Paul Celan letztendlich daran zerbrochen, dass all dies seine sensible Seele nicht ertragen konnte, als er Selbstmord in der Seine beging? Schließlich war für ihn seine Muttersprache eine Mördersprache. Freilich wirken der Typhustod des nach Transnistrien verschleppten Vaters und jener der Mutter durch Genickschuss nach, auch die sogenannte Goll-Affäre, als die Frau des verstorbenen Dichters Ivan Goll gegenüber Celan – wie sich herausstellte – unhaltbare Plagiatsvorwürfe erhob.

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“

Dieser Satz von Theodor Adorno ist nie nachdrücklicher falsifiziert worden als durch Paul Celans


Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends

wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts

wir trinken und trinken

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt

der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei

er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde

er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz


Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends

wir trinken und trinken

Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt

der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete

Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

.

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt

er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau

stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf


Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends

wir trinken und trinken

ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen


Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland

er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft

dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng


Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland

wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken

der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau

er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau

ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft

er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland


dein goldenes Haar Margarete

dein aschenes Haar Sulamith


Hier singt der Chor der Trinkenden, derer, die an der Schwarzen Milch ertrinken. Einer Milch, die sie zu jeder Tageszeit verabreicht bekommen.

Hier singt auch der Chor der Schaufelnden, derer, die ihr Grab selbst schaufeln, aber nicht, wie es in der Realität der Fall war, dass Juden befohlen wurde, die Grube auszuheben, vor die sie dann treten mussten, um erschossen rücklings hineinzufallen, nein, hier singt der Chor der Schaufelnden, die ihr Grab in den Lüften schaufeln, ein bitterlich-sarkastischer Hinweis auf die vielen Toten, die, nachdem sie durch die Kamine von Ausschwitz den letzten Weg zu ihrer luftigen Ruhestätte angetreten hatten, sie dann selbst zu schaufeln hatten – so formuliert es Celan.

Ihnen steht allein der Mann aus Deutschland gegenüber, der Lageraufseher, breitbeinig sicherlich, wie man ihn aus den Filmen über das Dritte Reich kennt. Und wie es sich gehört, hat er eine Trillerpfeife dabei, ja, auch einen männlichen Hund und Schlangen.

Über ihn könnte man ebenfalls einiges schreiben, ich aber möchte mich der Liebe zuwenden, wie sie ja auch in diesem Gedicht vorkommt.

In Gestalt der Braut Sulamith.

In Gestalt der jungfräulichen Margarete, dem Urbild einer deutschen Frau, verewigt in  d e m  Werk der Deutschen, Goethes Faust.

Beider Liebe hat sich in wunderschönen Liedern manifestiert, sinnlich und glutvoll.

Margaretes Liebe in Es war ein König in Thule – Sulamiths Liebe in dem Hohelied Salomos. Da ich über beide an anderer Stelle geschrieben habe, möchte ich hier zusammenfassend sagen, dass eine Frau kaum weiblicher und lebensvoller erfasst werden kann wie Sulamith, die Braut Salomos. Und ich kenne kein Lied, dass inniger wie das Lied Gretchens die Liebe zu einem Mann, in diesem Fall zu Faust zum Ausdruck bringt mit Hilfe der Symbolik des Bechers und des Meeres in Es war ein König in Thule.

Bemerkenswert am Rande, dass beide Liebespaare in den Liedern nicht verheiratet sind; Gretchen singt von einer Bule, die ihren Liebsten, den König liebt, und die beiden Verliebten im Hohelied – im Hebräischen lautet sein Titel eigentlich Lied der Lieder – sind nicht andeutungsweise in einer anderen Beziehung als in der einer Liebe. Von Ehe keine Rede, das hat den dogmatischen Theologen schon immer große Schwierigkeiten bereitet.

Bemerkenswert auch, dass ja im Faust Sulamith eine Rolle spielt. Immer wieder gibt es in der Wortwahl Anklänge an das Hohelied, allerdings in einer Situation, in der es Gretchen bereits elendig geht, weil ihr Faust sie im Stich gelassen hat, so dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als ihr Kind umzubringen, und das, nachdem Faust maßgeblich am Tod der Mutter und des Bruders beteiligt war. In diesem Umfeld klingen Worte des Hoheliedes immer wieder an, als solle eine große Liebe beschworen werden, deren Möglichkeiten vorbei sind. Mephisto hatte diese Liebe ruiniert, weil sich Faust auf ihn eingelassen hat. Margarete hatte die Gefahr geahnt, Faust aber hatte diese Ahnung nicht ernst genommen. Sie hatte die Reinheit ihrer Liebe der trieb- und mephistophelisch gesteuerten von Faust geopfert. Allerdings: Am Schluss wird sie ihr in der Kerkerszene durch die Stimme von oben zurückgegeben.

Dies zu wissen ist wichtig, denn wie den Lagerinsassen der Lageraufseher gegenübersteht, so steht Sulamith Margarete, deren Name übersetzt Perle bedeutet, gegenüber. Diese weilt in Deutschland und ihre herausgehobene Situation, die Frau oder Geliebte des Lageraufsehers zu sein, manifestiert sich in ihrem goldenen Haar, Ausdruck ihres arischen Glanzes und der Tatsache, dass sie sich in der Zuneigung des Lageraufsehers sonnen kann.

Ganz anders Sulamith. Im Hohelied noch heißt es von ihrem Haar, dass es auf ihrem Haupt wie der Purpur des Königs sei. In der Todesfuge jedoch wird sie zum Sinnbild abscheulicher Verbrechen an ihrem Volk. Asche auf dem Haupt bedeutet Trauer; hier ist sogar das Haar Sulamiths zu Asche geworden: dein aschenes Haar Sulamith.

Haare stehen für sexuelle Kraft und Lebenskraft, ja göttliches Geweiht-Sein – jeder Jude kennt die Geschichte von Simson und Delila aus dem Buch der Richter; in vorchristlicher Zeit standen Haare auch für Zauberkraft. Traditionell jüdische Ehefrauen müssen deshalb oft ihre Haare scheren; damit zusammenhängt sicherlich auch die frauenfeindliche Tradition der Burka.

Ein Jude weiß also um Sulamith und die strahlende Symbolik ihrer Weiblichkeit. Umso schlimmer die letzte Zeile, auch für den Juden Paul Celan, der übrigens mit bürgerlichem Namen Paul Antschel hieß.

Im Faust ist Margarete allerdings genau diejenige, die Mephisto im Grunde durchschaut, die als Frau den mephistophelischen Exzessen, wie sie im Nationalsozialismus zum Ausbruch kamen, am ehesten noch Widerstand entgegengesetzt hätte.

Von daher kann man geteilter Meinung sein, ob die Namenswahl von Celan glücklich war.

Sicher ist aber, was er in den beiden Frauengestalten zum Ausdruck bringen wollte: Gold contra Asche, Ariertum contra Judentum.

In der Wahl des Namens mag sich Paul Celan an seinen Freund Immanuel Weißglas angelehnt haben, der einige Monate vor der Niederschrift der Todesfuge folgendes Gedicht  verfasste:

ER

Wir heben Gräber in die Luft und siedeln

Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.

Wir schaufeln fleißig und die andern fiedeln,

Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.


ER will, dass über diese Därme dreister

Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht:

Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,

Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.


Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,

Öffn´ ich nachzehrend den verbissnen Mund,

Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:

Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.


ER spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,

In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.

Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:

Da weit der Tod ein Deutscher Meister war.

Celans Anlehnungen liegen auf der Hand; vieles, was sich bei ihm findet, hat  Weißglas vorgezeichnet, das Motiv des Meisters aus Deutschland, das Grab in den Wolken, bei Celan um das Grab in den Lüften erweitert und anderes mehr. Natürlich sind die zahlreichen Übereinstimmungen frappierend und ich hoffe nicht, dass Celans Selbstmord in Zusammenhang mit der Tatsache zu bringen ist, dass des Schulfreundes Gedicht, das ersichtlich dichterische Schwächen aufweist, erst im Jahre 1970 veröffentlicht wird, im Jahr des Freitodes von Celan. Wir wissen, dass ihn die allerdings entkräfteten Plagiatsvorwürfe seitens der Frau von Ivan Goll bis ins Mark verletzt hatten; neuerliche hätte er nicht verkraftet …

Unter anderem um zwei zentrale Aspekte hat Celan seine Todesfuge im Vergleich zu ER erweitert:

Sein Gedicht ist tatsächlich bis ins Detail und meisterlich als Fuge verfasst.

Diese Form gliedert sich ja in sogeannte Durchführungen, drei an der Zahl, wobei im Rahmen der letzten  in Form eines Kanons die einzelnen Melodien (Themen), die vorher auftauchten, miteinander verschachtelt werden. Dies ist in der Todesfuge auch der Fall:

Die beiden letzten Zeilen des Gedichtes enthalten die sogenannte Coda; die 8 Zeilen zuvor, also Strophe 6, entsprechen genau dieser kanonartigen Verschachtelung der Themen, der 3. Durchführung also; das ist unschwer nachvollziehbar.

Und beispielhaft sei auf die 1. Durchführung verwiesen; sie besteht aus Strophe 1 und 2:

Die Zeilen 1 – 4 der 1. Strophe umfassen im Rahmen dieser ersten Durchführung das 1. Thema (Schwarze Milch bis nicht eng)

die Zeilen 5 – 9 der ersten Strophe das Gegenthema (Ein Mann bis zum Tanz)

Es folgt in den Zeilen 1 – 3 der 2. Strophe die Wiederholung des Themas (Schwarze Milch bis und trinken).

Die Zeilen 4 und 5 der 2. Strophe enthalten die Wiederaufnahme des Gegenthemas (Ein Mann bis Haar Margarete).

Es folgt die Weiterführung des Themas in der Schlusszeile von Strophe 2:

Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Und vor der 2. Durchführung (Strophe 4 mit Thema und Gegenthema) findet sich der vorgeschriebene Zwischensatz, auch Episode genannt, im Rahmen der dreizeiligen 3. Strophe (auch die dreizeilige 5. Strophe ist solch ein Zwischensatz).

Warum verwendet Celan diese Form der Fuge?

Nun, inhaltlich im Gedicht wie im Rahmen der Fuge stehen sich kontrapunktorisch zwei Themen einander gegenüber, man kann sagen: zwei Welten. In der bereits oben angesprochenen 3. Durchführung werden sie zwar miteinander vermischt, verquirlt; doch in der letzten Aussage der Fuge, den letzten beiden Zeilen des Gedichtes, sind sie wieder streng getrennt.

Es ist wie im Märchen:

Am liebsten hätte man, die eine Welt gäbe es nicht, die Welt der bösen Königin z.B. in Schneewittchen, doch es gibt sie, und obwohl die eine vor der anderen fliehen möchte – Fuge (lat. fuga) bedeutet ja übersetzt Flucht – so gelingt das leider nicht.

Was Albert Schweitzer als einer der größten Organisten seiner Zeit  – und er schrieb ja auch ein Buch über das Orgelwerk Bachs – zum Thema der Fuge sagte, mag auch für die Todesfuge gelten, dass es

„denjenigen, der es immer wieder hört, (fesselt). Es ist eine stille, ernste Welt, die es erschließt. Öd und starr, ohne Farbe, ohne Licht, ohne Bewegung liegt sie da; sie erfreut und zerstreut nicht; und dennoch kommt man nicht von ihr los.“

Das gilt gerade auch für den Inhalt der Todesfuge!

Und es ist eine fest gefügte Welt, die Welt der Fuge; alles ist streng geordnet, strukturiert. Dieser Welt traut man – kontrapunktisch dazu – in keinster Weise zu, dass menschliche Werte dermaßen verhöhnt, ja zerstört werden. So war der ganze Nationalsozialismus angelegt: Hinter einer durch und durch organisierten Welt eine Verheerung des Menschentums, eine geistige Unordnung höchsten Ausmaßes!

Bis ins Wort hinein – das Wort im Griechischen für Ordnung lautet Kosmos – wurde auf diese Weise ein Mord an Wort und Sinn begangen. – Mördersprache!

Und noch ein letzter wichtiger Aspekt mag genannt sein, der die Todesfuge weit über das Poem von Weißglas hinausweisen lässt: Es ist die Metapher der Schwarzen Milch. Man bezeichnet einen solchen Ausdruck auch als Oxymoron, also als einen Widerspruch in sich.

Alfred Margul-Sperber ist ein früher Förderer des jungen Celan; wir werden gleich auf ihn zu sprechen kommen. Eine Freundin dieses Mannes, Rose Scherzer-Ausländer, hat folgende Zeilen geschrieben, die dem jungen Paul Celan nicht unbekannt gewesen sein könnten:

Nur aus der Trauer Mutterinnigkeit

strömt mir das Vollmaß des Erlebens ein.

Sie speist mich eine lange trübe Zeit

mit schwarzer Milch und schwerem Wermutwein.

Immerhin taucht hier dieses Bild der Schwarzen Milch wortwörtlich auf.

Es findet sich aber auch, zwar nicht wortwörtlich, aber mit umso tieferem Sinn versehen, in der Bibel, bei dem Propheten Jeremia, und das mag uns abschließend zu der jüdischen Seele des Paul Celan führen, dessen Mutter in einem KZ ums Leben kam, der Vater starb an den Folgen der Flucht.

Insofern ähnelt auch sein Lebensgang dem des Propheten Jeremia, dessen Zeit auf der Erde auch kaum schwerer gedacht werden kann, als sie es war. In der Lutherbibel heißt es einleitend über diesen alttestamentarischen Seher: „Er war ein Held des Glaubens und Duldens, wie es im Alten und Neuen Testament nur wenige gibt.“

Jener nun wird zu namentlich aufgezählten Völkern gesandt, um ein Strafgericht anzukündigen – und auch hier wird wiederholt von trinken die Rede sein – wenn es heißt:

Und sprich zu ihnen: So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Trinket, daß ihr trunken werdet, speiet und niederfallt und nicht aufstehen könnt vor dem Schwert, das ich unter euch schicken will. Und wo sie den Becher nicht wollen von deiner Hand nehmen und trinken, so sprich zu ihnen: Also spricht der HERR Zebaoth: Nun sollt ihr trinken (…)

In seinem Klagelied über den Fall Jerusalems wird später Jeremia formulieren:

Dem Säugling klebt seine Zunge am Gaumen vor Durst; die jungen Kinder heischen Brot, und ist niemand, der es ihnen breche. Die zuvor leckere Speisen aßen, verschmachten jetzt auf den Gassen; die zuvor in Scharlach erzogen sind, die müssen jetzt im Kot liegen. Die Missetat der Tochter meines Volks ist größer denn die Sünde Sodoms, die plötzlich umgekehrt ward, und kam keine Hand dazu. Ihre Fürsten waren reiner denn der Schnee und klarer denn Milch; ihre Gestalt war rötlicher denn Korallen; ihr Ansehen war wie Saphir.

Nun aber ist ihre Gestalt so dunkel vor Schwärze, daß man sie auf den Gassen nicht kennt; ihre Haut hängt an den Gebeinen, und sind so dürr wie ein Scheit.

Es sind Juden, die in den KZs schwarze, todbringende Milch trinken. Gewiss, Celan ist kein Seher, kein Prophet und dennoch mag in ihm dieses Thema anklingen: der Zorn Gottes über sein Volk, das vom rechten Weg abweicht.

Mir selbst ist dieses Denken fremd, ich mag nicht diese Gedanken an einen rächenden, strafenden Gott. Ja, es ist grausam, was Menschen Menschen antun; eigentlich unfassbar.

Aber es bedarf dazu keines rächenden, strafenden, zürnenden Gottes, denn es ist ein Gesetz des Lebens, dass, wer das Schwert zieht, durch das Schwert umkommt, wie es im Neuen Testament heißt, in dem wir auch die Stelle finden: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet oder jene:

Wer Unrecht tut, der wird empfangen, was er getan hat …

Ich könnte noch einige weitere aus der Bibel nennen.

Die fern-östlichen Religionen sprechen von dem Gesetz des Karma. Im Grunde ist es identisch mit den biblischen Aussagen.

Offensichtlich gibt es eine die eigenen Leben und Menschen übergreifende Kausalität, nur glaube ich persönlich nicht, dass der Sinn, der sich dahinter verbirgt, der der Strafe ist. Der der Gerechtigkeit ja, aber vor allem auch der der Bewusstseinsentwicklung. Denn wer tötet, ist weit davon entfernt, Leben zu schätzen und wird ziemlich sicher selbst erleben müssen, wie es ist, getötet zu werden,  um Leben wirklich schätzen zu lernen – am ehesten lernt man es nun einmal am eigenen Leib.

Wenn uns auch dieser Gedanke weit herumführt, für das Volk Israel spielt dieser Gedanke natürlich schon eine Rolle, eine  zentrale. Für einen Juden wie Paul Celan auch; darin, aus diesem Wissen heraus mag sich ein Bild wie das der Schwarzen Milch speisen.

Versöhnlich wollen wir diese Gedanken beenden mit dem ebenfalls aus der Bukowina, also dem Buchenland stammenden deutsch-sprachigen Schriftsteller Afred Margul-Sperber, der in selbstloser Weise den jungen Paul Celan unterstützte und anlässlich des Todes der eigenen Mutter folgende Zeilen schrieb:


„… ihre Augen unaussprechlich lind,

Sehn mich an mit fernem Sternenblinken;

Und sie flüstern: Willst Du nicht, mein Kind,

Von der dunklen Milch des Friedens trinken?“

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Eine Antwort zu „wir schaufeln ein Grab / in den Lüften / da liegt man nicht eng“ – Wenn Unsägliches Worte findet: Paul Celans „Todesfuge“

  1. Anica schreibt:

    Ich liebe dieses Gedicht.
    Und Ihre Beschreibungen und Interpretationen sind wunderbar zu lesen und haben mich mit einer Gänsehaut zurückgelassen.

    Liebe Grüße, Anica

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