Oskar Loerkes Fund: Bemalte Vasen aus Atlantis.

Wie kann jemand sich auf diese Weise beobachten, wie es in dem folgenden Gedicht geschieht, dass er seinen Körper schweben fühlt, seinen Herzschlag wahrnimmt, das Raunen des Gerümpels durch das Labyrinth der Gänge hört?

So beschreiben Menschen im Rahmen von Nahtoderlebnissen – nachzulesen bei Raymond A. Moody oder Elisabeth Kübler-Ross – ihre Wahrnehmungen.

Das Gespenstische der Szenerie erinnert auch daran, wie Faust in Goethes Faust auf dem Brocken im Harz während der Walpurgisnacht in einer Vision sein totes Gretchen schweben sieht.

Dieser Mensch hier, das lyrische Ich, befindet sich offensichtlich auf einem Speicher und gleichzeitig in rollender See. Er wird am Kopf getroffen von herunterfallenden Vasen, die sich in den Speicherregalen befinden und ertrinkt zugleich im taifunischem Wind, also in tosendem Geschehen. Dennoch umarmt er ein Kind, das ihm Entscheidendes zuruft.

Nur Nahtoderlebnisse oder – wie hier – ein Traum machen die Synchronizität, also die Gleichzeitigkeit der Ereignisse möglich. Nur so kann diese Eindrücklichkeit erreicht werden. Zugleich ist der Leser Schauspieler, Kamera, Film und Beobachter in Einem.

Das Atlantis-Thema ist für Oskar Loerke nicht neu. 1907 gibt er seine Schrift Vineta heraus; im Titel also bezieht sie sich auf eine an der südlichen Ostseeküste gelegene sagenhafte Stadt, die in einer Sturmflut untergegangen sein soll und auf die sich möglicherweise schon Eduard Mörike mit seinem Orplid-Gedicht bezog.

Natürlich mögen die Atlantis-Gedichte und der Untergang von Atlantis eine Chiffre gewesen sein für das Dritte Reich, das Loerke nicht mit Namen nennen konnte und mit dessen Realität sich der innere Emigrant doch sehr schwer tat, blieb er doch während der Naziherrschaft in Deutschland und leistete 1933 dem jüdischen Verlag S. Fischers zuliebe eine Unterschrift unter das „Treuegelöbnis“ der 88 Schriftsteller; doch war er innerlich ein Emigrant, und weil er in Deutschland blieb, eben ein innerer Emigrant.

Allerdings: Auch wenn Atlantis eine Chiffre darstellen mag, die nicht jeder dechiffrieren konnte, weshalb die Atlantis-Gedichte auch in Nazi-Deutschland veröffentlicht wurden – den geistigen Schergen Hitlers entging der Code -, ist es doch, so denke ich, auch für Oskar Loerke weit mehr: Atlantis ist eine Realität.

Es war eine äußere, nun ist es eine innere in  uns.

In den folgenden Wochen und Monaten möchte ich das mit Hilfe einiger Dokumente, die bekanntlich von Rose Ausländer über das Wissen der Hopi-Indianer bis Platon, ja bis zu den vielen Flutmythen zurückreichen, die es bei so zahlreichen Völkern gibt, dokumentieren. Immer und immer wieder stoßen wir auf die große Flut, nicht zuletzt auch im Gilgamesch-Epos.

Beginnen möchte ich mit dem faszinierenden Gedicht Der Fund von Oskar Loerke, das einen so in Beschlag nimmt wie das Atlantis-Thema und dieses Wort selbst, denn es gibt nur wenige Wörter, die weltweit so viele Menschen tief im Inneren berühren wie dieses Wort: Atlantis. – Aus gutem Grund: Wir haben alle womöglich mehr als einmal in Atlantis gelebt, bevor es in den Fluten versank.

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OSKAR LOERKE (1884-1941)

Bemalte Vasen von Atlantis

Doch geschieht – und saust die Chronosfaust schon groß –
Bis zuletzt das süße Wesenlos

Der Fund

Die Luken waren spinnwebfahl,
Doch schattete Weinlaub in den Speicher.
Wer ihn bei Nacht und Regen bestahl,
Der wurde mit prallem Sack nicht reicher.

Kein Mauszahn mochte sich bemühn
Um Krinoline, Stock und Hauben,
Gehöhlte Bretter, seifig grün,
Verbognes Fassband, spacke Dauben.

Im Winkel hielt ein Urkundenpack
Lang vor, dem Wurm das Maul zu stopfen;
Zurück blieb roter Siegellack
Wie Blut in dick verklumpten Tropfen.

Gerümpel in schwindliger Litanei
Raunte durchs Labyrinth der Gänge.
Ein Kompass nur wusste, wo Norden sei,
Ins Lot wies ein Cardangehänge.

Mein Körper schwebte durch Süße, durch Weh,
Sein Herzschlag fand nicht von der Stelle –
Ich suchte, schwank in rollender See,
Für weite Fahrten Schiffsmodelle.

Ganz in der Ferne, wie mir schien,
Aus zackig betuschtem Götzenrachen
Zwischen Stummeln dampfte Lichtrubin
Auf einem schwarzen Wikingdrachen.

Im Finster davor schlug mir Fuß und Kopf
An splittrig wackelnde Regale.
Und nieder platzten Topf bei Topf
Wie Herbstkastanien aus der Schale.

Ich fiel und ertrank in taifunischem Wind.
Dann war mir, indem ich ein Glattes umarmte,
Das heil war und so hoch wie ein Kind,
Als ob ich mich eines Kindes erbarmte.

Da sprach es, kaum in meiner Hand:
„Wir sind aus Atlantis und mussten sterben.“
Dann schrie es, während es jäh sich entwand:
„Taste dich rückwärts, wir sind Scherben.“

Ich kroch und kroch, bis Morgen war,
Und mit mir der Spuk im Bodenverstecke.
Die Sonne ging auf in ihm: eine Schar
Bemalter Vasen stand in der Ecke.

 

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4 Antworten zu Oskar Loerkes Fund: Bemalte Vasen aus Atlantis.

  1. 520gisir224 schreibt:

    Hallo Herr Klinkmüller,

    durch Zufall bin ich auf der Suche für mein Logo „Antike Vasen aus Atlantis“ auf diese wunderbare Seite gekommen. Ich übertrage derzeit nicht nur „Der Wald der Welt“ von Oskar Loerke sondern einige andere seiner Werke auf meine Homepage in der Hoffnung, dass die Werke von Oskar Loerke und vieler anderer Dichter und Denker nicht in Vergessenheit geraten.

    Beim Lesen Ihrer Beschreibung
    „Wie kann jemand sich auf diese Weise beobachten, wie es in dem folgenden Gedicht geschieht, dass er seinen Körper schweben fühlt, seinen Herzschlag wahrnimmt, das Raunen des Gerümpels durch das Labyrinth der Gänge hört? …..“
    war ich begeistert über diese Einführung zum Gedicht „Der Fund“ und daher wage ich meine Bitte an Sie auf diesem Wege zu stellen: Dürfte ich diese „Einführung“ unter Namensnennung und Link auf meiner Loerke-Seite als Einführung in „Bemalte Vasen von Atlantis einfügen? Ich bin der festen Überzeugung, dass Leser, nach dieser Einführungn die Gedichte Loerkes mit ganz anderen Augen betrachten, lesen und verstehen werden, insbesondere hier die wunderschönen Bilder der Bemalten Vasen von Atlantis in Versform.

    Ich würde mich riesig über ein „JA“ Ihrerseits zu meiner Bitte freuen.

    Ihnen einen schönen ABend. Ich werde mir auf jeden Fall Ihren Link abspeichern und diese Seite noch häufiger aufsuchen und wo möglich, weiterempfehlen. Wer möchte, kann viel daraus lernen. Danke schon einmal dafür!

    Grüße aus Hamburg
    Gisela Rieger

    https://lifedays-seite.de/literatur.html

  2. Hallo Frau Rieger,

    gern können Sie mich verlinken; das ist ja sehr ungewöhnlich, dass jemand so höflich fragt. Es gibt doch noch Internet mit Stil :-)

    Mir ist beim erinnernden Nachlesen gerade aufgefallen, dass ich mein Versprechen, mehr über Atlantis einzubringen, gar nicht eingelöst habe … vielleicht kommt´s noch … gibt halt so viel Interessantes :-).

    Ihnen viel Freude, ja, Oskar Loerke war ein ungewöhnlich spiritueller und tiefsinniger, tief blickender Dichter, so wie manche seiner Zunft, vor allem der damaligen Zeit. Ich habe hohen Respekt vor diesen Menschen, die Lebens-Sinn auf ihre Weise so zu ver-dichten verstanden.

    Ich schaue mich bei Ihnen demnächst genauer um und freu mich schon drauf.
    Viel Freude bei Ihrem wertvollen Anliegen!

    Liebe Grüße,
    Johannes Klinkmüller

    • 520gisir224 schreibt:

      Hallo Herr Klinkmüller,

      ganz herzlichen Dank für Ihre Antwort. Wenn Sie bei mir vorbeischauen hoffe ich, dass ich dann Loerke schon auf den Server gezogen habe. Es werden insgesamt vier vollständige Bücher und weitere Gedichte aus“ Der längste Tag, Gewidmete Gedichte und Kärtner Sommer“ sein, bevor ich dann wieder zu Baudelaire zurückkehre um dort weiter zu arbeiten..

      Ist es nicht wunderbar, was uns diese Dichter und Denker aus vergangenen Zeiten an Schätzen hinterlassen haben. Und was noch viel spannender ist, sie haben mit vielen Aussagen in ihren Werken bereits die heutige Zeit beschrieben.

      Schade, dass so wenig Interesse an dem Wissen aus der Vergangenheit besteht.

      Ihnen einen schönen Abend und Grüße aus Hamburg

      • Zur Zeit wird die vermittelte Bildung ja immer seichter. Nachgeschlagen wird vor allem im Netz, und da ist schon vieles vorgekaut und auf kurz getrimmt.
        Umso wichtiger, dass es dort auch Seiten wie die Ihren gibt.

        Eins tröstet mich und macht mir Mut: In der Regel folgt auf eine solche Entwicklung eine Gegenbewegung – ich hoffe, so wird es auch hier sein. Die Schätze eines Goethe, Hofmannsthal oder Novalis sind noch gar nicht wirklich entdeckt. Wenn die Menschen ihre inneren Wirklichkeiten entdecken, werden sie erst die Blaue Blume zu schätzen wissen . . .

        Ihnen alles Gute!

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