Aus dem Hohelied Salomos

Im Hohelied Salomos finden sich wunderbar sinnliche Worte, die gar nicht verbergen können, wie sehr auch die Lust auf den anderen mitschwingt. Die Naturbilder lassen keinen Zweifel, dass die Traube fallen will und dass Lippen, Hals und Busen geküsst sein wollen. Die ganze Natur wird einbezogen, das Land ist erfüllt von der Liebe der beiden, einschließlich Bekannter und Freunde. Wahre Liebe wirkt sich auf alles und alle aus. „Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben“, schreibt Max Frisch in seinem Tagebuch I, „sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie grei­fen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren.“

Das gilt auch für Salomon und Sulamith.

Nie gleitet das „Lied der Lieder“, wie es eigentlich heißt – die Bezeichnung Hohelied geht auf Martin Luther zurück – in Vulgäres oder Obszönes ab, obwohl auch die Luft angefüllt ist mit Sinnlichkeit und liebendem Beben. Orthodoxe Theologen haben sich immer sehr schwer getan, diesem Lied einen übertragenen Sinn zu geben und die konkrete Körperlichkeit zu transzendieren. So galt es ihnen als Beschreibung der Liebe zwischen Gott und seinem auserwählten Volk oder zwischen Christus und seiner Kirche als der Braut Christi. So recht überzeugen konnte das viele nicht. Man mag das auch hineinsehen können, warum aber sich nicht einfach erstmal freuen über die Liebe zweier Menschen und sie so nehmen, wie sie ist und von beiden offensichtlich gelebt sein will!

Und warum nicht die Liebe zwischen zwei Menschen als etwas Göttliches sehen? Als ob die körperliche Liebe nicht etwas Heiliges wäre! Nur darf sie es ja eben nicht sein, wie sonst sollten Kardinäle, Bischöfe und Priester sich etwas Heiligem verschließen, etwas, was den ganzen Menschen erfasst! In Wahrheit sind Körperliches, Seelisches und Geistiges verbunden durch ein heiliges Band.

Dieses Band ist die Liebe.

Wäre die Kirche so offen für die umfassende Liebe gewesen, wie der Weiseste der Menschen, wie Salomon, wir würden vielleicht heute nicht erleben müssen, dass die körperliche Liebe sich total degeneriert und Liebe ohne Liebe in diesem Ausmaß möglich ist. Weil vor allem die katholische Kirche sich so dümmlich der Inkompetenz ausgeliefert hat, was körperliche Liebe betrifft, kann sie auch heute nicht ernst genommen werden, wenn es um die wahre Liebe geht, denn die wahre Liebe klammert den Körper nicht aus; schließlich ist er von Gott geschaffen.

Wunderbar finde ich, dass in diesem Lied ein Wechselgesang zwischen Sulamith und Salomon stattfindet; das lässt keinen Zweifel, dass die beiden sich ebenbürtig sind, ja sein wollen.

Inmitten der Bibel eines der schönsten Liebeslieder der Welt.


Marc Chagall, Die Liebenden. Quelle: www.poster.de

Im Folgenden ein Auszug, aus einigen Passagen zusammengestellt:

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Sulamith

Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein Freund unter den Jünglingen. Unter seinem Schatten zu sitzen begehre ich, und seine Frucht ist meinem Gaumen süß. Er führt mich in den Weinkeller, und die Liebe ist sein Zeichen über mir. Er erquickt mich mit Traubenkuchen und labt mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe. Seine Linke liegt unter meinem Haupte, und seine Rechte herzt mich. […] Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind aufgegangen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, und die Reben duften mit ihren Blüten. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her! Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Felswand, zeige mir deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß, und deine Gestalt ist lieblich. Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben; denn unsere Weinberge haben Blüten bekommen. Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet. Bis der Tag kühl wird und die Schatten schwinden, wende dich her gleich einer Gazelle, mein Freund, oder gleich einem jungen Hirsch auf den Balsambergen.

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Der Bräutigam

Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead. Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme kommen; alle haben sie Zwillinge, und keines unter ihnen ist unfruchtbar. Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur, und dein Mund ist lieblich. Deine Schläfen sind hinter deinem Schleier wie eine Scheibe vom Granatapfel. Dein Hals ist wie der Turm Davids, mit Brustwehr gebaut, an der tausend Schilde hangen, lauter Schilde der Starken. Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden. […] Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut, du hast mir das Herz genommen mit einem einzigen Blick deiner Augen, mit einer einzigen Kette an deinem Hals. Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, liebe Braut! Deine Liebe ist lieblicher als Wein, und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Gewürze. Von deinen Lippen, meine Braut, träufelt Honigseim. Honig und Milch sind unter deiner Zunge, und der Duft deiner Kleider ist wie der Duft des Libanon. Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born. Du bist gewachsen wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten, Zyperblumen mit Narden, Narde und Safran, Kalmus und Zimt, mit allerlei Weihrauchsträuchern, Myrrhe und Aloe, mit allen feinen Gewürzen. Ein Gartenbrunnen bist du, ein Born lebendigen Wassers, das vom Libanon fließt.

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Eine Antwort zu Aus dem Hohelied Salomos

  1. Ron schreibt:

    „Die herrlichste Sammlung Liebeslieder, die Gott geschaffen hat.“, sagte Goethe bekanntlich und dichtete im Stil des jüdischen Vorbilds u.a im Faust und im West/östlichen Divan !

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