Es gibt viele Formen des Aufbruch: Manche gleichen einem Ausbruch, einem Vulkanausbruch vergleichbar. Was zu lange angestaut war, fließt nun wie die Lava unkontrolliert davon. Das Innere kann die Energie nicht mehr auf ein Ziel hin leiten. John Bradshaw artikuliert das so: „Er stieg auf sein Pferd und ritt in alle Richtungen davon.“ – Ob sich so jemand in seinem Leben wieder wirklich bei und in sich versammeln kann, bleibt fraglich.
Manche brechen nach innen aus und emigrieren nach innen; schlimm, wenn man zu sich selbst auswandert – die Sprache zeigt das ganze Dilemma.
Manche wollen ins gelobte Land und landen erst mal in der Wüste, tanzen um goldene Kälber, kämpfen mit Amalekitern, verärgern ihren inneren Mose und lassen diesen die Gesetzestafeln zerbrechen, wie es jener große Mensch in berechtigtem und heiligem Zorn tatsächlich ja tat; die Menschheit hat deshalb nur eine Zweitschrift der 10 Gebote erhalten … bedeutungslos ist das nicht!
Manche artikulieren die Sehnsucht rein theoretisch und verbringen ihr Leben lang auf dem Sofa mit der Illusion, wirklich mit dem Geschehen verbunden zu sein. Das jedenfalls suggeriert ihnen ihr Fernseher.
Über Max Frischs Stiller und dessen Ausbruch haben wir an anderer Stelle geschrieben, über den verlorenen Sohn und all die Märchenhelden, die freiwillig oder vom Schicksal getrieben auf die Reise gehen. Manchmal ist es eine Reise von sich weg, manchmal in Wirklichkeit eine Reise nach Hause, zu sich selbst. Dafür steht Odysseus.
Mancher findet sich fern der Heimat und erkennt, dass Heimat immer da ist, wo er sich selbst findet.
Es gibt viele phaszinierende Geschichten, Theaterstücke und Lebensläufe zu diesem Thema.
Wir beginnen schlicht mit Udo Jürgens‘ Variante, ein inhaltlich herausfordernder Song von einem durchaus genialen Barden, gewiss mit menschlichen Schwächen, aber mit zunehmendem Alter, wie ich finde, immer glaubwürdiger werdend.
New York steht im Folgenden als Metapher für den Mut, konventionelles Denken und konventionelle Lebensformen zu verlassen, für den Mut, etwas zu wagen, noch einmal jung zu sein, zu leben und nicht nur zu existieren, zu reisen und unterwegs zu sein und nicht nur auf der Chaiselongue des Lebens dahinzudümpeln.
Ich war noch niemals in New York
Der Text lautet:.
Und nach dem Abendessen sagte er,
lass mich noch eben Zigaretten holen geh’n,
sie rief ihm nach nimm Dir die Schlüssel mit,
ich werd inzwischen nach der Kleinen seh’n,
er zog die Tür zu, ging stumm hinaus,
ins neon-helle Treppenhaus,
es roch nach Bohnerwachs und Spießigkeit.
und auf der Treppe dachte er, wie wenn das jetzt ein Aufbruch wär,
ich müsste einfach geh’n für alle Zeit,
für alle Zeit…
Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii,
ging nie durch San Francisco in zerriss’nen Jeans,
ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei,
einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n.
Und als er draußen auf der Straße stand,
fiel ihm ein, dass er fast alles bei sich trug,
den Pass, die Eurochecks und etwas Geld,
vielleicht ging heute Abend noch ein Flug.
Er könnt‘ ein Taxi nehmen dort am Eck oder Autostop und einfach weg,
die Sehnsucht in ihm wurde wieder wach,
nach einmal voll von Träumen sein, sich aus der Enge hier befrei’n,
er dachte über seinen Aufbruch nach,seinen Aufbruch nach …
Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii,
ging nie durch San Francisco in zerriss’nen Jeans,
Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei,
einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n.
Dann steckte er die Zigaretten ein und ging wie selbstverständlich heim,
durchs Treppenhaus mit Bohnerwachs und Spießigkeit,
die Frau rief „Mann, wo bleibst Du bloß, Dalli-Dalli geht gleich los“,
sie fragte „War was?“ – „Nein, was soll schon sein.“
Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii,
ging nie durch San Francisco in zerriss’nen Jeans,
Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei,
einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n.
.
Apropos Bohnerwachs: Unwillkürlich sieht man Hermann Hesses Steppenwolf namens Harry Haller vor sich, den Mann, der nie zur Ruhe kam und immer wieder beißen und Wolf spielen musste, den einsamen Wolf, ständig auf der Pirsch um sich herum.
Ihm allerdings ging es ganz anders als jenem Mann in Udo Jürgens Lied, der unter Bohnerwachs und Spießigkeit leidet. Den Steppenwolf finden wir nämlich, sitzend in einem Treppenhaus, das nach Bohnerwachs riecht. Und diesen Geruch genießt er. Denn er hat eine heimliche Sehnsucht, eine heimliche Sehnsucht nach Spießigkeit, Bürgerlichkeit und Zur-Ruhe-Kommen. Es sind zwei Seelen in seiner Brust, die eine ist verbunden mit dem Wolf, die andere mit dem Spießbürger; doch der Wolf lässt nicht zu, dass Harry Haller bürgerlich wird. Wenn das droht, dann beißt er und heult …
Wie eine Mauer umgiebt den Steppenwolf dieses Verhaltensmuster und womöglich geht es ihm so wie jenem Betrunkenen, der spät in der Nacht durch die Straßen wankt, sich tastend von einem Alleebaum zum anderen. Schließlich trifft er auf eine Wand. Fein, sie wird ihn ein schönes Stück weiter bringen. Er darf nur den Kontakt mit ihr nicht verlieren. Und so tappt er mit beiden Händen dahin. Immer an der Wand lang …
Was er nicht weiß: Die Wand ist eine Litfasssäule. Die umwandert er. Vertrauensvoll. Endlos.
Irgendwann merkt er, dass er im Kreis geht. Ein gequälter Seufzer entringt sich seiner Brust: „Mist, eingemauert.“
Von Hermann Hesses Steppenwolf hat man den Eindruck, er weiß, dass sein Wolf-Dasein wie eine Mauer ist, die ihn umgibt. Eines Tages wird er jedoch „zufällig“ die Tür in der Mauer finden, die ihn zum Magischen Theater bringt.
Dem Dalli-Dalli-Gucker im Lied von Udo Jürgens – Dalli Dalli war in den 70er- und 80er Jahren eine von Hans Rosenthal moderierte sehr beliebte Fernsehshow – fällt die Decke, zusammengesetzt aus Spießbürgerlichkeit und Bohnerwachs förmlich auf den Kopf. Er könnte aufbrechen, er hat fast alles, was er braucht, dabei, als er Zigaretten holen geht. Einfach ein Taxi nehmen und ab in den Flieger.
Er tut es nicht.
Als er heimkehrt, bekommt er die Höchststrafe durch die Worte seiner Frau: „Dalli Dalli geht gleich los …“ .
Das Personal von Max Frisch bricht wirklich auf. Stiller haut ab nach Mexiko. Und auch jener Staatsanwalt in Graf Öderland, von dem hier die Rede sein soll, der in seinem Arbeitszimmer über Akten brütet, in denen es um einen Bankangestellten geht, der einfach die Axt nahm und zuschlug. Der Leser/Zuschauer nimmt teil an jenem Prozess, als in dem Staatsanwalt auf einmal eine Tür aufgeht und er den Bankangestellten zu verstehen beginnt. Es wird nicht viel Zeit vergehen, da wird es von dem Staatsanwalt heißen: Graf Öderland mit der Axt in der Hand.
Das Theaterstück Graf Öderland beginnt im Arbeitszimmer des Staatsanwaltes, der über den Akten sitzt; morgen muss er den Bankangestellten anklagen:.
l. Ein Staatsanwalt hat es satt
Arbeitszimmer in der Villa des Staatsanwalts. Nacht. Auf dem Schreibtisch brennt eine Arbeitslampe. Der Staatsanwalt, ein Herr von fünfzig Jahren, kräftig und groß, steht reglos, Hände in den Hosentaschen, Blick gegen die Wand, die aus lauter Ordnern besteht, aber er blickt nicht auf diese Ordner, sondern ist in Gedanken verloren. Eine Turmuhr schlägt zwei. Später hört man eine Frauenstimme.
STIMME Martin? Martin!
Der Staatsanwalt nimmt keinerlei Notiz davon, bis die Stimme plötzlich aus nächster Nähe tönt: er knipst das Licht aus, so dass die Suchende in ein finsteres Zimmer tritt. Martin? Martin!… Wo ist er nur hingegangen -Sie schaltet die große Deckenlampe an. – da bist du ja!
Der Staatsanwalt steht wie zuvor, die Gattin trägt einen Schlafmantel und ist schön, aber verschlafen.
ELSA Ich suche dich im ganzen Haus, wieso gibst du keine Antwort? Ich dachte schon, du bist ausgegangen –
STAATSANWALT Wohin?
ELSA Was ist los?
STAATSANWALT Ich habe mich nur angezogen.
ELSA Mitten in der Nacht?
STAATSANWALT Es scheint so.
ELSA Wieso schläfst du nicht?
STAATSANWALT Wieso schläfst du nicht?
Er nimmt sich eine Zigarre und schneidet sie gelassen.
Es tut mir leid, Elsa, ich habe dich nicht wecken wollen. Was soll schon los sein? Ich habe mich angezogen, um eine Zigarre zu rauchen, wie du siehst. Das ist alles.
Er zündet sich die Zigarre an.
Ich kann nicht schlafen.
ELSA Du rauchst zuviel.
STAATSANWALT Möglich …
‘ELSA Du arbeitest zuviel.
STAATSANWALT Sicher . . . dastun wir ja alle hierzulande. Bis es einmal reißt. Und dann wundern sie sich, unsere braven Geschworenen, wenn einer zur Axt greift. Er raucht, dann lacht er.
Dein Doktor Hahn, das finde ich ja besonders witzig: dass der Anwalt, der den armen Kerl verteidigen soll, von seiner Tat am allerwenigsten begreift!
ELSA Ich weiß nicht, wovon du redest.
STAATSANWALT Heute hat er gestanden.
ELSA Wer?
STAATSANWALT Der Mörder. Er raucht. Nicht Doktor Hahn, sondern der Mörder …
ELSA Was willst du damit sagen?
STAATSANWALT Mord aus Gewinnsucht, Mord aus Rache, Mord aus Eifersucht, Mord aus Rassenwahn, alles geht in Ordnung. Lässt sich erklären, Lässt sich verurteilen. Aber ein Mord einfach so? Das ist wie ein Riss in der Mauer. Man kann tapezieren, um den Riss nicht zu sehen. Der Riss bleibt. Man fühlt sich nimmer zu Hause in seinen vier Wänden. Er raucht. Das ist alles . . .
ELSA Martin, es ist zwei Uhr.
STAATSANWALT Ich weiß, in acht Stunden stehe ich vor Gericht, um die Anklage zu führen, ich, schwarz und fürchterlich — und auf der Bank sitzt ein Mann, den ich immer besser begreife. Bald besser als mich selbst. Obschon er nichts erklären kann. Ein Mann von siebenunddreißig Jahren, Kassierer bei einer Bank, brav, gewissenhaft zeit seines Lebens, gewissenhaft und bleich, und eines schönen Abends nimmt er die Axt und erschlägt einen Hauswart, der nichts dafür kann. Warum?
ELSA Warum denn?
Der Staatsanwalt raucht und schweigt.
Du solltest nicht immer an deine Akten denken, Martin. Du machst dich krank. Jede Nacht arbeiten, das verträgt kein Mensch.
STAATSANWALT Nimmt einfach die Axt …
ELSA Hörst du nicht, was ich sage? Der Staatsanwalt raucht und schweigt. Ich sage, es ist zwei Uhr vorbei.
STAATSANWALT Es gibt Stunden, wo ich ihn begreife …
ELSA Wenn du nicht schlafen kannst, warum nimmst du kein Pulver? Nun gehst du wieder die ganze Nacht hin und her. Was hat das für einen Sinn! Wie ein Gefangener. Was kommt dabei heraus? Am andern Morgen bist du wieder wie gerädert, du bist nicht mehr jung, Martin –
STAATSANWALT Ich bin es nie gewesen. Er nimmt ein Foto vom Schreibtisch. So sieht er aus!
ELSA Ich verstehe dich nicht, Martin.
STAATSANWALT Ich weiß.
ELSA Wieso bist du nicht jung gewesen?
Der Staatsanwalt raucht und betrachtet das Foto. Warum machst du keine Ferien?
STAATSANWALT Vierzehn Jahre an der Kasse, Monat um Monat, Woche um Woche, Tag für Tag, ein Mann, der seine Pflicht erfüllt wie wir alle. Schau ihn an! Ein Mensch ohne Laster, alle Zeugen bestätigen es, ein stiller und friedlicher Mieter, Naturfreund, Fußgänger, unpolitisch, Junggeselle, seine einzige Leidenschaft war das Sammeln von Pilzen, ein Mensch ohne Ehrgeiz, scheu und arbeitsam, ein geradezu vorbildlicher Angestellter.
Er legt das Foto wieder hin.
Es gibt Augenblicke, wo man sich wundert über alle, die keine Axt ergreifen. Alle finden sich damit ab, obschon es ein Spuk ist. Arbeit als Tugend. Tugend als Ersatz für die Freude. Und der andere Ersatz, da die Tugend nicht ausreicht, ist das Vergnügen: Feierabend, Wochenende, das Abenteuer auf der Leinwand —
Elsa gähnt.
Du hast recht, Elsa, es ist zwei Uhr. Vielleicht kann ich mich nicht ausdrücken. Du bist müde, ich langweile dich. Du gähnst, sobald ich rede.
ELSA Verzeihung.
STAATSANWALT Du musst schlafen.
ELSA Ich kann dir nur immer das gleiche sagen: –
STAATSANWALT Dass ich zu einem Arzt gehen soll.
ELSA Aber das tust du ja nicht. Weil du weißt, was er dir sagen wird: —
STAATSANWALT dass es so nicht weitergeht.
ELSA Das sagen auch deine Freunde.
STAATSANWALT Wer zum Beispiel?
ELSA Hahn – Doktor Hahn, zum Beispiel.
STAATSANWALT Doktor Hahn ist nicht mein Freund.
ELSA Sondern -?
STAATSANWALT Deiner.
ELSA Martin!
STAATSANWALT Das nebenbei.
Er setzt sich an den Schreibtisch.
Lassen wir das. Darum geht es ja nicht . . . Ich bin der einzige Mensch, sagt er, der erste Mensch, der ihn versteht, sagt er.
ELSA Wer?
STAATSANWALT Der Mörder. –
ELSA Martin, ich friere.
STAATSANWALT Es ist kalt hier.
ELSA Du bist übermüdet, Martin, das ist alles. Du bist nervös. Ein Prozess nach dem andern! Und ein Mensch wie du, der alles so ordentlich nimmt, so gewissenhaft —
STAATSANWALT Ich weiß.
ELSA Warum machst du keine Ferien?
STAATSANWALT Ferien in Spanien.
ELSA Der Mensch braucht das, Martin.
STAATSANWALT Vielleicht.
Er blättert in den Akten
Vielleicht auch nicht … Hoffnung auf den Feierabend, Hoffnung auf das Wochenende, all diese lebenslängliche Hoffnung auf Ersatz, inbegriffen die jämmerliche Hoffnung auf das Jenseits, vielleicht genügte es schon, wenn man den Millionen angestellter Seelen, die Tag für Tag an ihren Pulten hocken, diese Art von Hoffnung nehmen würde: – groß wäre das Entsetzen, groß die Verwandlung. Wer weiß! Die Tat, die wir Verbrechen nennen, am Ende ist sie nichts anderes als eine blutige Klage, die das Leben selbst erhebt. Gegen die Hoffnung, ja, gegen den Ersatz, gegen den Aufschub …
Die Turmuhr schlägt
ELSA Nimm es mir nicht übel, Martin, aber ich bin wirklich zum Umsinken müde.
STAATSANWALT Ich seh‘s.
ELSA Grübeln ändert nichts.
STAATSANWALT Da hast du recht.
Er erhebt sich und gibt der Gattin einen Kuss auf die Stirne. Geh schlafen, Elsa!
ELSA Und du auch.
STAATSANWALT Gutnacht.
ELSA Gutnacht.
STAATSANWALT Ich rauche bloß noch meine Zigarre.
Elsa entfernt sich, der Staatsanwalt steht, wie er zu Anfang gestanden hat. Er raucht. Er bemerkt nicht, dass durch eine andere Türe eine weibliche Gestalt eingetreten ist, barfuß, fast noch ein Kind, Holz unter dem Arm. Erst als sie vor dem Kamin kniet und ein Scheit auf den Boden fällt, erschrickt er.
HILDE Ich habe Sie erschreckt?
STAATSANWALT Wer bist du?
HILDE Hilde.
STAATSANWALT Was ist denn?
HILDE Herr Staatsanwalt haben geklingelt.
STAATSANWALT Ich?
HILDE Es ist kalt hier. Vielleicht soll ich Feuer machen. Herr Staatsanwalt verzeihen mein offenes Haar, ich komm aus dem Bett.
STAATSANWALT Ich habe nicht geklingelt.
HILDE Ich will Feuer machen.
Der Staatsanwalt schaut ihr zu.
Es schneit noch immer so. Eine Lawine ist vom Dach gerutscht. Daran bin ich aufgewacht. Das hat gedonnert wie im Sommer. Haben Herr Staatsanwalt es nicht gehört? Und alles hat gewankt wie bei einem Erdbeben. Pause
Herr Staatsanwalt lesen wieder die ganze Nacht?
STAATSANWALT Du hast geträumt, Kind, ich habe nicht geklingelt.
HILDE Jetzt brennt’s.
Feuerschein
Warum sehen Herr Staatsanwalt mich so an?
Der Staatsanwalt schweigt.
Immer sagen Herr Staatsanwalt, ich seh aus wie eine Fee. Aber Herr Staatsanwalt glauben ja nicht an Feen, das hab ich schon gemerkt. Herr Staatsanwalt machen sich lustig über mich. Bei uns droben, im Wald, da glauben’s auch die Männer, nicht bloß so ein dummes Dienstmädchen wie unsereins.
STAATSANWALT Du siehst aus wie eine Fee.
HILDE In der Stadt, da glauben sie ja überhaupt nichts, das hab ich schon gemerkt, da lächeln sie bloß, wenn ich erzähle davon.
STAATSANWALT Wovon?
HILDE Ach so, Geschichten.
Sie schürt das Feuer.
Jetzt brennt’s!
STAATSANWALT Ja …
HILDE Warum verbrennen Sie es nicht, Herr Staatsanwalt, das viele Papier, das Herr Staatsanwalt alleweil lesen müssen?
STAATSANWALT Verbrennen?
HILDE Ich würde das tun.
STAATSANWALT Du sprichst wie ein Kind.
HILDE Ich würde das tun.
STAATSANWALT Dann tu’s
HILDE Ich tu’s!
Der Staatsanwalt lacht und gibt ihr ein Aktenbündel.
Ich tu’s .
Sie wirft das Aktenbündel ins Feuer, der Staatsanwalt sieht zu,als wäre es nicht getan, sondern bloß gedacht, und lacht tonlos,Hilde holt ein zweites Bündel, ein drittes, schließlich den ganzen Rest, es lodert, dass das ganze Zimmer in Röte aufleuchtet.
– Wie das scheint!
STAATSANWALT Ja …
HILDE Wie bei den Köhlern im Wald!
STAATSANWALT Ja …
HILDE Dass man möchte tanzen dazu!
STAATSANWALT Ja …
HILDE Wie bei den Köhlern, als der Graf Öderland kam. Hoch lebe der Graf! und da sagte die Fee, als die Köhler erschraken, denn es brannten ihre eigenen Hütten, es brannten die Dörfer und Städte –
STAATSANWALT Was sagte da die Fee?
HILDE Wie das scheint!
Hilde verkörpert den Wunsch des Staatsanwaltes nach einem anderen Leben, ein Leben, das er mit Elsa an seiner Seite nicht leben kann. Sein Bedürfnis nach Veränderung kreiert eine jugendliche Frau, mit dem er diesen Aufbruch verwirklichen kann, eine Fluchtmöglichkeit, zu der alternde Männer gern greifen.
Doch zunächst finden wir Doktor Hahn, den Verteidiger und juristischen Gegenspieler des Staatsanwaltes, am nächsten Tag im Gespräch mit dem Mörder; der Verteidiger versteht – im Gegensatz zum Staatsanwalt – den Mann allerdings nicht, wie sich zeigt:
2. Der Mörder
Gefängniszelle. Doktor Hahn sitzt auf der Pritsche, Hut auf dem Kopf, Akten auf dem Knie. Der Mörder steht, die Hände in den Hosentaschen, und blickt zum Gitterfenster hinaus.
MÖRDER Schnee …
DOKTOR HAHN Was sagen Sie?
MÖRDER Ich sage: Schnee …
DOKTOR HAHN Wenn Sie mir keine Antwort geben auf meine Fragen, wie soll ich Sie verteidigen? Ich frage nicht als Staatsanwalt. Seine Verhöre haben Sie erschöpft, das kann ich ja verstehen, seine Verhöre sind berühmt, sein Blick, sein Verständnis. Wie stehe ich heute da? Ich war von Ihrer Unschuld überzeugt.
MÖRDER Ich weiß …
DOKTOR HAHN Warum haben Sie plötzlich gestanden? Der Mörder zuckt die Achsel.
Heute wird das Urteil gefällt. Und ich weiß noch immer nicht, woher ich die mildernden Umstände nehmen soll. Ich weiß es nicht! wenn Sie mir nicht helfen. Pause
MÖRDER Doktor, haben Sie noch eine Zigarette?
Doktor Hahn bietet Zigaretten an.
Das stimmt übrigens nicht, Doktor, was Sie vorher gesagt haben: dass er’s mit Zigarren gemacht habe, der Staatsanwalt.
DOKTOR HAHN Sondern?
MÖRDER Weiß nicht.
Doktor Hahn gibt Feuer.
Er versteht mich einfach. Wenn man Monate lang gefragt wird und gefragt und wieder gefragt, und dann, plötzlich, steht einer im Saal, der einen versteht, Staatsanwalt hin oder her, Herrgott nochmal, es hat mir einfach wohlgetan …
Er raucht.
Danke.
DOKTOR HAHN Ich komme auf meine Frage zurück: Was haben Sie gedacht, beziehungsweise empfunden, als Sie damals, ich spreche vom 21. Februar vergangenen Jahres, von dem besagten Ort kamen?
MÖRDER – was Sie wollen.
DOKTOR HAHN Erinnern Sie sich!
MÖRDER Das ist leicht gesagt, Doktor.
DOKTOR HAHN Sie gingen aufs Klosett —
MÖRDER Wie manchmal noch!
DOKTOR HAHN Ich stütze mich auf die Akten.
MÖRDER Wenn es wahr ist, Doktor, was in diesen Akten steht, man könnte meinen, ich verbrachte mein ganzes Leben auf dem besagten Ort.
DOKTOR HAHN Was in den Akten steht, sind Ihre eignen Aussagen.
MÖRDER Ich weiß.
DOKTOR HAHN Also.
MÖRDER Mag sein —!
DOKTOR HAHN Was mag sein?
MÖRDER D ass es wahr ist. Gewissermaßen. Dass ich mein Leben gewissermaßen auf dem besagten Ort verbracht habe. Ich erinnere mich, oft hatte ich durchaus dieses Gefühl.
DOKTOR HAHN Dass Sie stets die Arbeitszeit dafür genommen haben, sagten Sie schon. Das ist ein Spaß, der die Geschworenen zum Lachen gebracht hat. Ich habe nichts dagegen, dass man die Geschworenen einmal zum Lachen bringt. Aber wesentlich ist das nicht; das machen alle Angestellten.
MÖRDER Dieses Gefühl hatte ich auch, Doktor, dass es nicht, wesentlich ist, auch wenn ich vor dem Spiegel stand und mich rasierte jeden Morgen, wir mussten immer tadellos rasiert sein, oder wenn ich meine Schuhe nestelte und dazwischen frühstückte, um Schlag acht Uhr an meinem Schalter zu sein jeden Morgen … jeden Morgen
DOKTOR HAHN Was haben Sie sagen wollen?
MÖRDER In sechs Jahren wäre ich Prokurist geworden. Er raucht.
Sie haben recht, auch das hätte nichts verändert. Es fällt mir nur so ein. Überhaupt beklage ich mich in keiner Weise über die Bank-Union. Unser Betrieb war musterhaft, das muss ich sagen, unser Hauswart hatte einen Kalender, wo man nachsehen konnte, wann jede Flügeltür zum letzten Mal geschmiert worden ist. Diesen Kalender habe ich mit eignen Augen gesehen. Da gab es keine girrende Türe und nichts. Das muss man sagen.
DOKTOR HAHN Um auf unsre Frage zurückzukommen: –
MÖRDER Ja: Was ist wesentlich?
DOKTOR HAHN Ich rekapituliere: Sonntagnachmittag beim Fußball-Länderspiel, die Niederlage unsrer Mannschaft bedrückt Sie, abends im Kino, aber der Film fesselt Sie nicht, Sie gehen zu Fuß nach Haus, laut Akten empfinden Sie keinerlei Unwohlsein –
MÖRDER Nur Langeweile.
DOKTOR HAHN – Zuhause Fernsehen, aber das fesselt Sie auch nicht, 11 Uhr 20 nochmals in die Stadt, Besuch einer Milchbar, kein Alkohol, Sie klingeln kurz vor Mitternacht an der Hinterhoftüre der Bank-Union –
MÖRDER Weil das Hauptportal geschlossen war.
DOKTOR HAHN Als der Hauswart öffnet, sagen Sie ihm, Sie müssten auf den besagten Ort … Ich verstehe noch immer nicht, warum Sie zu diesem Zweck (es war Sonntag) ausgerechnet auf die Bank-Union gehen.
MÖRDER Ich versteh’s ja auch nicht.
DOKTOR HAHN Weiter!
MÖRDER Macht der Gewöhnung.
DOKTOR HAHN Jedenfalls lässt Hofmeier Sie herein.
MÖRDER Er war eine Seele von Mensch.
DOKTOR HAHN Ohne sich zu wundern über Ihren nächtlichen Besuch?
MÖRDER Natürlich wunderte er sich.
DOKTOR HAHN Aber?
MÖRDER Ich wunderte mich ja auch, ich schaute zu, wie er die Heizkessel bediente, und wir plauderten noch mindestens fünf Minuten.
DOKTOR HAHN Worüber?
MÖRDER Ich sagte: Dich sollte man auf der Stelle erschlagen! Wir lachten.
DOKTOR HAHN Und dann?
MÖRDER Ging ich auf den besagten Ort.
DOKTOR HAHN Und dann?
MÖRDER – hab ich’s getan.
Er zertritt die Zigarette auf dem Boden.
Ich weiß nicht, Doktor, was Sie noch wissen möchten …
Pause
DOKTOR HAHN Haben Sie eine schwere Jugend gehabt?
MÖRDER Wieso?
DOKTOR HAHN Hat Ihr Vater Sie misshandelt?
MÖRDER Wie kommen Sie denn darauf?
DOKTOR HAHN Hat Ihre Mutter Sie vernachlässigt?
MÖRDER Im Gegenteil.
DOKTOR HAHN Hm.
MÖRDER Ich würde es Ihnen schon sagen, Doktor, aber ich habe kein Motiv
DOKTOR HAHN Hm.
MÖRDER Ehrenwort.
DOKTOR HAHN Karl Anton Hofmeier, der Ermordete, hatte, wie ich in den Akten sehe, eine verhältnismäßig junge Frau
MÖRDER Sie tut mir leid.
DOKTOR HAHN Sie kannten Frau Hofmeier?
MÖRDER Sie hat mir die Wäsche geflickt.
DOKTOR HAHN Hm.
MÖRDER Um Geld zu verdienen.
DOKTOR HAHN Karl Anton Hofmeier, Hauswart bei der Bank-Union, hatte keinen Grund zur Eifersucht?
MÖRDER Das weiß ich nicht.
DOKTOR HAHN Ich meine: Ihretwegen?
MÖRDER Davon habe ich nichts bemerkt.
DOKTOR HAHN Ich meine: Hofmeier ist Ihnen nicht im Weg gestanden?
MÖRDER Wieso?
DOKTOR HAHN Und ein politisches Motiv haben Sie auch nicht!
MÖRDER Ich versteh nichts von Politik.
DOKTOR HAHN Sie glauben also zum Beispiel nicht daran, dass durch Gewalt die Welt verbessert werden kann?
MÖRDER Das weiß ich nicht.
DOKTOR HAHN Ich meine: Sie betrachten den Mord unter allen Umständen als eine verbrecherische Handlung?
MÖRDER Unter allen Umständen.
DOKTOR HAHN Hm.
MÖRDER Ich versteh Ihre vielen Fragen nicht, Doktor.
DOKTOR HAHN Karl Anton Hofmeier ist tot –
MÖRDER Ich weiß.
DOKTOR HAHN Was haben Sie sich davon versprochen?
MÖRDER Nichts.
DOKTOR HAHN Ich weiß nicht, wie ich Sie verteidigen soll. Soll ich dem Gericht vielleicht sagen, Sie haben es getan, bloß weil Sie gerade eine Axt hatten, bloß weil kein andrer zugegen war als Karl Anton Hofmeier?
MÖRDER So war’s aber.
Doktor, haben Sie noch eine Zigarette?
Doktor Hahn bietet Zigaretten an.
Danke.
Er wartet vergeblich auf Feuer.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich mehr verstanden hätte vom Geld.
DOKTOR HAHN Wie meinen Sie das?
MÖRDER So
DOKTOR HAHN Millionen sind durch Ihre Hände gegangen. Es ging Ihnen nicht um Geld. Darauf fußt meine ganze Verteidigung. Sie hätten Millionen unterschlagen können, ohne zur Axt zu greifen. Was Sie begangen haben, ist Mord, aber kein Raubmord. Und das setze ich durch!
MÖRDER Ich meine es auch nicht so.
DOKTOR HAHN Wie denn?
MÖRDER Wenn ich mehr verstanden hätte vom Geld, meine ich, vielleicht hätte ich rnich nicht so gelangweilt vierzehn Jahre lang.
DOKTOR HAHN Gelangweilt?
MÖRDER Klar.
DOKTOR HAHN Wollen Sie dem Gericht vielleicht sagen, dass Sie den alten Hauswart erschlagen haben aus – Langeweile, aus purer Langeweile? – Es klopft.
Herein!
Eintritt ein Wärter mit einem Brief.
WÄRTER Ich soll auf Ihren Bescheid warten.
Doktor Hahn öffnet den Brief und liest.
Das Essen kommt gleich.
DOKTOR HAHN Was soll das bedeuten?
WÄRTER Keine Ahnung.
DOKTOR HAHN Näheres weiß man nicht?
WÄRTER Die Frau Staatsanwalt wartet unten.
DOKTOR HAHN Ist der Gerichtshof unterrichtet?
WÄRTER Jawohl, Herr Doktor!
DOKTOR HAHN Ich komme sofort.
Der Wärter geht, Doktor Hahn sammelt seine Akten.
Sie haben Glück.
MÖRDER Wie das schneit . . .
DOKTOR HAHN Das Gericht ist vertagt.
MÖRDER Sie können sich nicht vorstellen, Doktor, wie vertraut mir dieser Anblick ist: Immer diese sieben Stäbe, dahinter die Welt, so war es auch hinter dem Schalter, als ich noch arbeitete, als ich noch frei war . . .
DOKTOR HAHN Haben Sie nicht gehört, was ich sage? Das Gericht ist vertagt. Überlegen Sie sich, was ich Sie gefragt habe. Überlegen Sie es in aller Ruhe. Heute ist Freitag, wir sprechen uns wieder am nächsten Montag. Ich bin sehr eilig.
Der Wärter kommt.
WÄRTER Fertig?
DOKTOR HAHN Fertig.
Doktor Hahn geht, der Wärter bleibt, er hat das Essen gebracht, einen blechernen Teller und einen großen Eimer.
WÄRTER Was sagen Sie jetzt?
MÖRDER Wieder Bohnensuppe?
WÄRTER Einfach verschwunden und verschollen, ein Staatsanwalt, einfach verschwunden und verschollen! Das ist noch nicht vorgekommen. Zu mir hat er immer gesagt, ich sehe aus wie ein Bienenzüchter –
MÖRDER Brot gibt’s auch?
WÄRTER Ich frage, was Sie dazu sagen.
MÖRDER Schade.
WÄRTER Wieso schade?
MÖRDER Der Einzige, der mich verstanden hat…
Der Mörder beißt in sein Brot, dann löffelt er die Suppe, die der Wärter unterdessen geschöpft hat. Der Wärter wartet umsonst auf ein Gespräch, dann geht er; man hört, wie die Gefängnistüre von außen geschlossen wird.
Manche werden zu einem Graf Öderland und bewältigen ihren Lebensfrust, indem sie zur Axt greifen. Der Mann im Lied von Udo Jürgens wird keine Axt ergreifen, doch wird sich sein Frust nach innen wenden und eine Krankheit wird die Rolle der Axt übernehmen.
Den Alltag als großes Lernfeld zu erkennen, in welchem Beruf man auch immer arbeitet, gehört zu der Lebens-Kunst, die es für uns zu lernen gilt. Elsa und Hilde sind Teile eines jeden Mannes und einer jeden Frau, genauso wie Graf Öderland, der Staatsanwalt und Doktor Hahn.
Wer dies nicht wahrhaben will, greift zur Axt, einer Rasierklinge, zu Tabletten oder der täglichen Dosis Alkohol, um den inneren Rufer nicht zu hören.
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